Wolf Lepenies, Tanja Bogusz | Interview |

Südlich von Westeuropa

Wolf Lepenies im Gespräch mit Tanja Bogusz

Ich würde unsere Diskussion über Ihr Buch und den französischen Traum von der „Latinität“ gern mit einer Anekdote beginnen, die mir bei der Lektüre Ihres Buches in den Sinn kam: Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien gab es beim Spiel um den dritten Platz – Frankreich gegen Portugal – eine dramatische Szene, in der Cristiano Ronaldo verletzungsbedingt vom Platz getragen werden musste. Er liegt tränenüberströmt auf der Bahre und dann läuft Didier Deschamps aus seiner Trainerkabine zu ihm. Er tröstet Ronaldo, streicht ihm über den Kopf und ist offensichtlich auch gerührt von der Situation. Was meinen Sie: Hätte Jogi Löw das Gleiche getan?

Jogi Löw hätte unbedingt das Gleiche getan. Jeder Trainer hätte das. In diesem Moment war das Spiel ja nicht entschieden. Ich würde schon aus magischen Gründen in einem solchen Moment den Spieler des anderen Teams trösten – und zwar ganz demonstrativ. In der Hoffnung, dass mir die Götter dann gnädig sein werden. In diesem Fall waren sie es aber nicht.

Das stimmt… Ich hatte natürlich gehofft, Sie würden diese Szene als Ausdruck einer aus der Latinität resultierenden besonderen Verbundenheit zwischen Frankreich und Portugal interpretieren.

Nein, es gibt Prioritäten [lacht] – und vor der Latinität steht der Fußball. Das ist Trainer-Psychologie und hat nichts mit Latinität zu tun. Tut mir leid, ich bin einfach zu sehr Fußball interessiert, als dass ich Ihnen das hätte durchgehen lassen können.

Es war einen Versuch wert – und bietet sich als Einstieg dennoch an, denn hinter meiner Frage steckt der Bezug zu einem Begriff, den Sie in Ihrem aktuellen Buch sehr stark machen, und zwar den der Mentalitätsgeschichte. Bereits in Ihrem Band „Die drei Kulturen“ (1985) beschreiben Sie die Geschichte der Soziologie, zwar nicht als Mentalitätsgeschichte, aber doch als eine Geschichte, in der es um Lebenseinstellungen, um eine bestimmte Sicht auf die Welt geht, die sich durchaus auch länderspezifisch unterscheiden lässt. Die Frage nach der Mentalität und ihren Folgen für gesellschaftliches Geschehen beschäftigt Sie in Ihrer Arbeit ja kontinuierlich.

In Kassel fand zu Beginn des Jahres das „Romanische Quartett“ mit Kolleginnen und Kollegen der dortigen Universität sowie rund achtzig weiteren Gästen statt. Es gab eine sehr lebendige Diskussion um den konzeptuellen und politischen Stellenwert der Mentalität in Ihrem Buch. Dabei kam die Frage auf, inwieweit Sie mit Ihrem Buch die These vertreten, dass Mentalitäten die Politik prägen. Was hätten Sie in der Diskussion geantwortet?

Ich hätte entgegnet, dass Mentalitäten die Politik selbstverständlich prägen. In einem Punkt würde ich Ihnen dennoch widersprechen: Mein Buch ist nicht als starkes Plädoyer für so etwas wie „die lateinische Mentalität“ zu verstehen. Ich will darauf hinweisen, dass es Strömungen gegeben hat, die sich mit der Behauptung einer solchen Mentalität politisch einen Vorteil zu schaffen erhofften. Ich selbst bin da eher kritisch und gebe im Hinblick auf die gegenwärtige Lage in Europa zu bedenken, dass bestimmte Vorstellungen von der lateinischen und unserer eigenen Welt gar nicht stimmen. Statistiken belegen beispielsweise, dass die Menschen in Deutschland weder mehr arbeiten noch weniger Freizeit haben als die Menschen anderer Länder. Derartige Vorstellungen entsprechen nicht der Wahrheit. Dennoch prägt die Mentalität und das kann man nicht ignorieren. Ich komme gerade wieder aus Frankreich zurück: Natürlich gibt es so etwas wie Mentalitätsunterschiede, Unterschiede im täglichen Verhalten, im täglichen Wahrnehmen der Welt. Aber ich würde diese Unterschiede nicht so stark betonen wie die Personen es tun, die ich in meinem Buch zitiere.

Sie sprechen unter anderem vom "Effet Montesquieu". Würden Sie bitte kurz beschreiben, was Sie darunter verstehen und welche Rolle dieser „Montesquieu-Effekt“ in Ihrem Buch spielt?

Pierre Bourdieu befasste sich mit Montesquieus „Geist der Gesetze“ (1748). Was Bourdieu dann als "Effet Montesquieu" bezeichnete, ist heute die zentrale Referenz für die so genannte „Klimatheorie“. Gemeint ist die Behauptung, dass klimatische Voraussetzungen in puncto Mentalität, Politik und so weiter bestimmte Folgen haben. Montesquieu kann man auf eine einfache, abrupte und sicher übertriebene Formel bringen: "Kälte ist gut, Wärme dagegen schlecht". Denn Kälte zwingt dazu, sich anzustrengen, zu disziplinieren et cetera. Wärme hingegen verführt dazu, sich dem Farniente, dem Nichtstun hinzugeben. Diese Annahmen sind bis heute wirksam geblieben und ich glaube, bei einer Befragung breiter Schichten der Bevölkerung würden sie immer noch behauptet werden.

Das ist ja auch nicht komplett von der Hand zu weisen. Auch Fernand Braudel, der freilich kein reiner Klimatheoretiker war, berichtet immer wieder davon, dass man im Mittelmeerraum prinzipiell auf den gleichen Typus Mensch trifft. Das ist sicher übertrieben. Klimatheorie hin, Klimatheorie her – aber das ist der Ausgangspunkt. Ich betone an dieser Stelle erneut meine Art der Beobachtung auf der zweiten Stufe: Ich beschäftige mich mit Akteuren, die solche Argumente stark machen. Ich selbst distanziere mich davon. Ich würde keine Mentalitätsgeschichte Europas schreiben, die Süd- gegen Nordmentalität stellt. Das tun aber andere und mit denen befasse ich mich, weil ich davon überzeugt bin, dass man eine derartige Argumentation nicht unterschätzen sollte.

Dieser Punkt war im „Romanischen Quartett“ umstritten. Es gab beispielsweise einen griechischen Soziologen, der sehr empfindlich auf den Mentalitätsbegriff reagierte. Deshalb frage ich noch einmal nach: Was genau bringt uns der Mentalitätsbegriff? Inwiefern hilft er dabei, politische Entwicklungen in einer anderen Weise zu verstehen als mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder der Politikwissenschaft?

Zunächst muss ich erneut darauf beharren, das Ganze zweistufig zu betrachten. Weil Sie darauf anspielten, gebe ich Ihnen ein Beispiel zu Griechenland: Auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise habe ich in einem Zeitungsartikel La Fontaines berühmte Fabel von der Ameise und der Grille thematisiert. Die ist oft verwendet worden, um zu veranschaulichen, die Griechen würden immer singen und es sich gut gehen lassen und am Ende kommen sie zur Ameise und sagen "So, Du hast gesammelt, ich habe nichts mehr, jetzt gib mir was, damit ich überlebe." Ich habe deutlich gemacht, dass dieses Bild in der Diskussion genutzt und sogar von Finanzminister Varoufakis und Premier Tsipras selbst verwendet wurde. Letztere sahen es verständlicherweise kritisch. Ich habe in diesem Zusammenhang Jean-Henri Fabre zitiert, der nachgewiesen hat, dass an dieser Fabel aus biologischer Sicht nichts stimmt. Ich habe die Griechen nicht als Grillen bezeichnet. Man muss aber wissen und bedenken, dass viele Menschen eine solche Denkweise haben. Lässt man das außer Acht, läuft man meines Erachtens Gefahr, die politische Situation falsch einzuschätzen. Denn so etwas ist gesellschaftlich tief verankert. Wenn man mit den bekannten Schlagzeilen operiert, würden vermutlich sechzig Prozent der deutschen Bevölkerung sagen: "Genauso ist es, so nehme ich das auch wahr." – und das muss man zur Kenntnis nehmen.

Ich betreibe keine Mentalitätspolitik. Das Thema darf aber nicht ignoriert werden, weil es politisch eine große Rolle spielt. Deswegen verweise ich kontinuierlich auf die Zweistufigkeit meiner Analyse: Ich selbst argumentiere nicht mit solchen Inhalten; ich thematisiere aber diejenigen, die es tun.

Das machen Sie in einer beeindruckenden Art und Weise, indem Sie vor allem Persönlichkeiten und Historien miteinander verknüpfen, die sowohl kulturell als auch politisch vollkommen entgegengesetzt sind. Der Traum vom Mittelmeer, von einer Mittelmeer-Union wird in Ihrem Buch von zahlreichen, sehr unterschiedlichen Personen gelebt, vorgetragen, entwickelt; beispielsweise in literarischer Form oder mit politischen Konzepten von Maurice Barrès und Charles Maurras bis hin zu Benito Mussolini. Dazu kommt auch jemand wie Paul Valéry, der seine Ideen kurz vor dem Ersten Weltkrieg in eine ähnliche Richtung formulierte, oder auch der sozialistische Traum von einer Mittelmeerunion, wie Sie anhand der Begegnung zwischen François Mitterand und Willy Brandt zu berichten wissen. Wie kamen Sie auf die Idee, diese unterschiedlichen Strömungen am Schnittpunkt Mittelmeer zusammenzuführen?

Ein – zugegeben trivialer – Auslöser war, dass ich seit beinahe zehn Jahren mehrere Monate jährlich am Mittelmeer verbringe. Das prägt natürlich. Eine meiner Lieblingsgeschichten dazu ist die vom Markt in Toulon. Dort findet man im Wesentlichen Araber oder jedenfalls Menschen aus dem Maghreb. Mitten auf dem Marktplatz steht eine kleine Stele, in die ein Gedicht von Jean Aicard eingraviert ist. Es beschreibt die Schönheit des Marktes und was man alles kaufen kann, wie schön die Melonen sind und die Artischocken und so weiter. Das Gedicht endet mit den Worten: „Où le progrès n’est pas nommé“, was so viel bedeutet wie "Wo der Fortschritt nichts zu suchen hat". Das müssen Sie bei uns mal versuchen, zu finden. In Toulon finden Sie es inmitten der Obst- und Gemüsestände. Auslöser dieser Art sind es für mich gewesen, das Mittelmeer als Schnittpunkt zu wählen. Solche Motive aus dem täglichen Leben tauchen in meinem Buch immer wieder auf.

Sie haben eben die Präsenz arabischer Geschäftsleute angesprochen. Hier ist das Mittelmeer das Bindeglied zwischen dem afrikanischen und dem europäischen Staat. Dem haben Sie ein eigenes Kapitel mit dem Titel "Lateinafrika" gewidmet. In der Kasseler Runde kamen einige Fragen zu der Art und Weise auf, wie Sie sich mit Lateinafrika beschäftigt haben. Sie argumentieren ja aus der Perspektive Fernand Braudels, ausgehend von seiner großen Mittelmeer-Studie[1] und beschreiben das Mittelmeer darüber hinaus aus der Sichtweise unterschiedlicher historischer Epochen und politischer Persönlichkeiten, bis hin zu Hannah Arendt. Mir fehlte dabei der Blick auf Nordafrika, das eng mit der französischen Kolonialgeschichte verbunden ist. Wie kam es dazu, dass Sie diesbezüglich niemanden explizit nennen? Gibt es den Traum einer Mittelmeerunion von anderer Seite nicht? Gerade angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegung gewinnt man doch den Eindruck, der Traum ist dort auch sehr lebendig.

Doch, es gibt sehr wohl einen Repräsentanten dieses Aspekts im Buch. Das ist Albert Camus, dem ich ein ganzes Kapitel gewidmet habe. Für mich nimmt er zumindest diese Perspektive ein. Da gibt es niemand anderen.

Ich hätte sicher andere finden können. Ich lese gerade Kamel Daouds "Meursault, contre-enquête". Darin beschäftigt er sich mit Camus' "L’étranger", in dem der Held in einem acte gratuit einen Araber tötet. Dieser heißt bei Camus nur "l'Arabe". Daoud hingegen hat diesem Araber einen Namen gegeben. Er ist ein sehr bedeutender algerischer Autor und Journalist. Gerade hat er in Frankreich ein Buch mit seinen Zeitungskommentaren publiziert: "Mes indépendances", 500 Seiten. So jemand wie Daoud wäre heute als nordafrikanische Referenzperson in einem Mittelmeerbuch geeignet.

Aber ich schreibe an einer Stelle: "Dies ist kein Mittelmeer-Buch" – das würde ich auch nie beanspruchen. Ich behaupte, mit Blick auf Frankreich einiges zu wissen, aber über die anderen Teile des Mittelmeers weiß ich relativ wenig. Das gilt auch für Nordafrika. Es geht um den französischen Traum. Und der ist natürlich eingebettet in andere Konstellationen. Daher muss bei mir auch Mussolini zur Sprache kommen.

Sie hatten ja vorhin schon die Klimatheorie angesprochen und mit Montesquieu angefangen, Bourdieu hat das später aufgegriffen. Es gibt meines Erachtens noch ein interessantes Scharnier zwischen den beiden, nämlich Émile Durkheim. Und zwar deshalb, weil Durkheim ein Leser Friedrich Ratzels war, der die Anthropogeografie begründet hat, die von Durkheim und später auch von Claude Lévi-Strauss und anderen kritisiert wurde. Trotzdem gab es auch in der Ethnologie und der Soziologie die der Geografie entstammende Idee, dass klimatische Bedingungen einen Einfluss auf Völker, auf Gesellschaften haben. Wie denken Sie über solche soziologischen Perspektiven auf die Klimathese?

Das ist natürlich ein weites Feld und ich kann mich da eigentlich nur wiederholen. Ich würde das immer auf der zweiten Stufe machen. Ich würde keine Soziologie von X schreiben, die das Klima mit einbezieht. Ich würde stattdessen Menschen thematisieren, die von sich sagen, genau das zu tun und würde mich mit diesen beschäftigen.

Bereits in meinem ersten Buch „Melancholie und Gesellschaft“ (1969) habe ich etwas geschrieben, das eigentlich für alles gilt, was ich danach geschrieben habe. Und zwar, dass in diesem Buch nichts darüber gesagt wird, was Melancholie ist. Es geht vielmehr darum, was es bedeutet, wenn jemand behauptet, er sei oder ein anderer sei Melancholiker. Das ist eben diese zweite Ebene. Das wird mir manchmal vorgeworfen. Das hat Ulrich Beck einmal sehr schön gemacht, als er eine Laudatio auf mich hielt und mich dann ein bisschen piekte. Er sagte: "Nun sag doch mal selber, was du meinst, du schiebst ja immer andere vor!" So ist es aber: Ich operiere eben immer auf dieser zweiten Stufe – und das kann man jetzt mögen oder nicht.

Diese Haltung provoziert natürlich genau solche Fragen, wie Ulrich Beck sie gestellt hat. Daher nun meine: Sind Sie ein Saint-Simonist?

Nein, bin ich bestimmt nicht! [lacht] Ich hege aber eine große Sympathie für die Saint-Simonisten: diese Mischung aus Freiheit zu unglaublicher Spekulation und gleichzeitig den weitreichendsten, überhaupt vorstellbaren Ideen auf der einen und den genauen Überlegungen zur finanziellen Umsetzung dieser Dinge auf der anderen Seite. Dieses Zusammenspiel fasziniert mich.

Aber ich glaube, auf mich passt keines dieser Etiketten. Wenn man mich manchmal gefragt hat, was ich bin, was ich tue, dann habe ich gesagt "Ich bin von der Ausbildung her Soziologe und Historiker aus Neigung". Aber tatsächlich bin ich Autor. Ich schreibe Bücher. Und insofern würde ich jedes Etikett von mir weisen, weil ich mich kontinuierlich neu orientiere. Wenn ich über Charles Meryon und Auguste Comte schreibe, ist das jedes Mal wieder etwas völlig Neues.

Aber mich interessieren natürlich diese Querverbindungen und mein schönstes Erlebnis dabei war mein erster Vortrag in Princeton am Institute for Advanced Study. Der handelte von der Speicherung wissenschaftlicher Traditionen in der Literatur. Das war – in Gegenwart von Clifford Geertz und Albert Hirschman – ein Erfolg und hat mir dann auch später den Ruf nach Princeton eingetragen, dem ich nicht nachgekommen bin. Im Vortrag geht es genau um diese Ebene, wo ich mich frage, warum muss ich wissenschaftliche Literatur singulär untersuchen? Vielmehr interessiert mich, wie wissenschaftliche Literatur mit Aspekten anderer Disziplinen zusammenhängt. Aus diesen Überlegungen heraus habe ich meine Speicherungsidee entwickelt; ich habe sie zwar nicht weiter verfolgt, aber sie ist ein gutes Beispiel für die Art, wie ich versuche zu operieren.

Das Soziologische darin sehe ich genau in Ihrer Zurückhaltung. Zurückhaltung ist ja etwas, das den soziologischen Blick auch ausmacht.

Ich habe vor einiger Zeit eine Rezension zu Gehlens „Zeit-Bildern“ geschrieben, die Karl-Siegbert Rehberg in einer wundervollen Neuauflage präsentiert hat. Das ist ein großartiges Buch und da benutze ich den Begriff der "diskreten Soziologie". Eine solche unterstelle ich Gehlen in diesem Zusammenhang wie auch sonst, weil es nicht um große, grobe, sondern um die ganz feinen Dinge geht.

Ich habe mich an der FU Berlin vor Jahrzehnten sehr unbeliebt gemacht, weil ich den Vorschlag unterbreitet habe, Soziologie als Hauptfach abzuschaffen und stattdessen als verbindliches Nebenfach für alle Disziplinen einzuführen.

Man darf das jetzt nicht überinterpretieren: Es muss natürlich eine soziologische Grundausbildung geben, damit es die Soziologie überhaupt als Nebenfach geben kann. Aber für mich ist sie Nebenfach, und zwar insofern, als dass sie anderen Disziplinen beisteht und andere Einsichten ermöglicht. Die Medizin-Soziologie, die Rechts-Soziologie, alle Bindestrich-Soziologien sind wichtig. Die Soziologie als solche ist mir weniger wichtig – ein Paradox...

Die Soziologie ist meines Erachtens die Brückenwissenschaft par excellence. Sie ist die Disziplin, die sich letztlich in allen gesellschaftlichen Bereichen auskennen muss, um etwas beitragen zu können.

Lassen Sie uns wieder auf Ihr Buch zu sprechen kommen: Sie beschreiben eingangs Ihre Vorgehensweise und wie Sie die unterschiedlichen Stränge im Buch zusammengeführt haben. Dabei sagen Sie explizit, dass Sie keine fortlaufende Geschichte der Versuche zur Gründung eines Lateinischen Reiches schreiben, sondern einzelne Kapitel dieser Geschichte chronologisch präsentieren. Wie kam es zu dieser Vorgehensweise?

Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass ich viel für Zeitungen – seit Jahrzehnten für DIE WELT – schreibe und die politischen Entwicklungen Frankreichs kontinuierlich seit zwanzig Jahren begleite. 2013 erschien ein Artikel in Libération,[2] in dem der Philosoph Giorgio Agamben das europäische Projekt unter deutscher Führung für gescheitert erklärte. Stattdessen träumte er von der Gründung eines neuen Europas unter der Führung der alten Mächte Frankreich, Italien und Spanien – eines „Lateinischen Reiches“ eben. Das war für mich der Anstoß, erneut über Dinge nachzudenken, die ich bereits in der Zeitung geschrieben hatte.

Vor diesem Hintergrund wollte ich mir Alexandre Kojève genau anschauen. Die meisten Kommentatoren haben lediglich dessen These von der Überlebensfähigkeit Europas durch die Gründung eines Lateinischen Reiches übernommen, aber die 58 Seiten der „Esquisse“ nicht wirklich gelesen. Und ich habe auch mit Wissenschaftlern wie Victor Gourevitch gesprochen, der Kojève in Paris noch persönlich kannte und mit ihm zusammen für Leo Strauss gearbeitet hat. Daraus entstand – was mir besonders wichtig ist – eine andere Deutung der deutsch-französischen Kooperation bei der Entstehung der Europäischen Union. Das wird mir immer zu harmonistisch dargestellt: De Gaulle und Adenauer mochten sich und aus dieser Sympathie, dieser tiefen Freundschaft heraus entstand Europa. Ja. Aber de Gaulle hat von Anfang an die Asymmetrie beider Parteien betont: Deutschland und Frankreich konnten nicht auf gleicher Ebene liegen. Frankreich war eine Großmacht, hatte einen Sitz im UN-Sicherheitsrat, hatte die force de frappe. All dies galt für Deutschland nicht.

Wenn es um die Frage geht, für wen Kojève seine "Esquisse" geschrieben hatte, sind die meisten überzeugt, sie sei für de Gaulle verfasst worden. Das ist jedoch nicht nachweisbar und ich befasse mich im Buch mit dieser Frage. Ich halte es für beinahe unmöglich, dass de Gaulle diesen Text nicht gelesen hat. Der wird ihm sicher irgendwie unter die Augen gekommen sein und sei es, dass André Malraux ihm davon erzählt hat oder wer auch immer. Die de Gaulle'sche Reaktion auf das Ganze war ja auch sehr weitreichend: Zunächst kam die Erkenntnis, dass man auf Italien und Spanien nicht bauen könne. Weiter folgte, dass eine Kooperation nur mit Deutschland gelingen könne, weil die Amerikaner die Deutschen brauchten und die Deutschen aus diesem Grund in Europa stark und somit ein guter Partner sein würden. Trotz des Zusammenschlusses musste de Gaulle aber immer Frankreichs Führung betonen. Ich behaupte, dass man die Geschichte, und jetzt könnte man fast sagen die „Mentalitätsgeschichte der Europäischen Union“, von diesem Moment her denken kann. Alle Verwerfungen zwischen Deutschland und Frankreich – bis heute – hängen damit zusammen, dass bis zur deutschen Wiedervereinigung die Asymmetrie zwischen beiden Ländern zumindest rhetorisch behauptet werden konnte. Helmut Schmidt hat dazu den klugen Satz gesagt: „Ich habe immer darauf geachtet, auf dem roten Teppich dem französischen Staatspräsidenten den Vortritt zu lassen.“ Das funktionierte bis zur Wiedervereinigung. Nach der Wiedervereinigung funktionierte es – auch auf der symbolischen Ebene – nicht mehr.

Diesen Wandel haben die Franzosen meines Erachtens bis heute nicht überwunden. Von Mitterand bis Sarkozy hatten die französischen Präsidenten eine geheime Agenda: "Vielleicht gibt es doch noch einen Weg, um unsere Größe gegenüber Deutschland auszuspielen, was wir bislang nicht mehr schaffen.“ Diesen Aspekt herausgearbeitet zu haben, ist in meinen Augen das Originelle des Buches. Ich behaupte, das ist der Basso Continuo der französischen Politik bis heute. Wenn man den nicht erkennt, versteht man nicht, wie Frankreich Politik macht. Dieser Traum bleibt. Er bleibt bis heute. Das ist der Ansatz meines Buches.

Natürlich hätte ich auch ein ganz anderes Buch schreiben können, politisch gegenwartsorientiert beispielsweise. Mich hat aber die Frage interessiert, welche Vorgeschichte die Berufung auf die Latinität hat. Wo gab es das schon mal? Ich gehe daher zwar chronologisch vor, schreibe aber nicht die ganze Geschichte dieser Überlegung ausgehend vom Lateinischen Reich. Das ist ein Unterschied: Die Dinge, die ich anführe – mit Ausnahme von Hannah Arendt, weil die mir an einer anderen Stelle besser passte – sind chronologisch geordnet: von den Saint-Simonisten über Napoleon III., die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, den Ersten Weltkrieg und dessen Nachwehen bis hin zum Dritten Reich. Das Buch erzählt aber eben nicht die komplette Geschichte des Mittelmeeres.

Alexandre Kojève ist tatsächlich ein unglaublich spannender Typus, zumal er in der Pariser Szene der 1960er-Jahre so einflussreich war. Beispielsweise hat Foucault bei ihm gehört, wie fast alle wichtigen Denker dieser Zeit. Kojève selbst schien mir auch auf der politischen Ebene eine schillernde Figur zu sein: auf der einen Seite eine Art Conseiller du prince und andererseits durchaus von eigenen Ambitionen getrieben, die er später dann wieder zurückstellte. Eine rätselhafte Figur. Was meinen Sie, warum hat er sich trotz seiner wie sein Entwurf belegt großen politischen Ambitionen später doch wieder aus der Politik zurückgezogen?

Das weiß ich nicht genau. Aber Kojève war eng mit Carl Schmitt verbunden, bei dem es eine ähnliche Entwicklung gab. Conseiller du prince ist genau das richtige Wort für die Ambitionen beider. Der Conseiller entfaltet seine Wirkung im Geheimen. Ich glaube, das hatte für Schmitt wie für Kojève einen beinahe erotischen Reiz: draußen das Getümmel und Machtgerangel und im Inneren zieht man die Fäden. ,

Wie wurde Kojève in Frankreich rezipiert? Zwar haben alle bei ihm gehört, aber wie bekannt ist er in Frankreich wirklich gewesen?

Er war immer ein Geheimtipp. Ich selbst habe von Kojève schon sehr früh gehört, weil mein Lehrer Dieter Claessens immer vom „Ende der Geschichte“ sprach; das war ein Topos bei ihm, der auf Cournot und Kojève zurückführte. Dabei spielte Kojève mit seiner Hegel-Interpretation eine herausragende Rolle. Kojève war eigentlich immer irgendwie präsent, ohne dass man ihn wirklich gelesen hätte. Die "Esquisse" war mir damals ebenfalls nicht bekannt. Sie wurde in Frankreich zum ersten Mal im Moment der Wiedervereinigung von Bernard-Henri Lévy publiziert.

Dabei darf man Bernard-Henri Lévys Fähigkeit zur politischen Einflussnahme nicht überschätzen. Er hat Nicolas Sarkozy zum Eingreifen in Libyen gedrängt – mit den Folgen, die wir heute kennen. Dass Bernard-Henri Lévy im Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung die „Esquisse“ in seiner Zeitschrift „La règle du jeu“ publizierte und dazu fünf, sechs Autoren nach ihrer Meinung befragte, darunter Alain Minc, war ein politisches Statement. Wenn wir vom Conseiller du prince sprechen, wird diese Rolle heute nicht zuletzt von Alain Minc verkörpert, der die Schlüsselfrage formulierte: "Wann werden wir Franzosen endlich erkennen, dass unser Mitteleuropa das Mittelmeer ist?"

Die französische Politik war seit 1989 geprägt von Mitterands großen Befürchtungen vor dem übermächtigen Deutschland, das mit dem Mauerfall antrat. Mitterand galt als Freund der Mittelmeer-Idee, die er dann aber nur bedingt verfolgte. Sarkozy griff sie erneut auf, indem er Braudel „liest“. Sarkozys entsprechende Rede war sehr umstritten und wurde in den Medien, auch den deutschen, viel thematisiert. Mein Eindruck war, dass man sich hier überhaupt seit langer Zeit erstmals wieder mit dieser Konstellation auf einer solchen Ebene befasste. Sarkozys Rede ist ebenfalls ein wichtiger Einstieg in Ihr Buch. Wie gut, meinen Sie, hat Sarkozy Braudel gelesen?

Überhaupt nicht wäre übertrieben, aber sicher kaum. Derjenige, der sich all diese damit in Verbindung stehenden Dinge ausgedacht und sie aufgeschrieben hat, war Henri Guaino. Das weiß man. Er darf es nur nicht selber sagen. In meinem Buch erzähle ich einiges über seine Hintergründe. Guaino hat Braudel sicher mehr gelesen und Sarkozy entsprechend beeinflusst. Sarkozy, der ja ein unglaublich macht- und wirkungsbesessener Politiker ist, hat diese Idee der Mittelmeerpolitik aufgegriffen und damit seine französische Politik gestaltet. In meinen Augen war das ein irrsinniges Unterfangen und zudem taktisch absolut unklug angegangen. Merkel hätte freilich auch anders reagieren können, das schreibe ich aber auch.

Stellen wir uns eine Fortsetzung Ihres Buches vor, beispielsweise bis kurz vor den Zeitpunkt des Brexit. Die französische Politik ist kontinuierlich durch den Gegensatz zweier Lager gekennzeichnet: auf der einen Seite diejenigen, die sich von der Idee der Latinität angezogen fühlen und den Traum der Mittelmeerunion vertreten, die Gegner dieses Traums auf der anderen Seite. Welchem Lager würden Sie die Politik eines François Hollandes zuordnen?

In meinen Augen ist François Hollandes Politik gummiartig und schwer fassbar – natürlich auch in dieser Frage. Die Sarkozy-Idee, wenn man sie denn so nennen will, finde ich bei Hollande nicht. Die wird eher von Thomas Piketty und anderen französischen Ökonomen vertreten, die ein Eurozonen-Parlament vorschlagen, bei dem die Franzosen, Italiener und Spanier die Mehrheit hätten. Das Ganze stünde dann vielleicht unter dem Motto: „Schluss mit der Austeritätspolitik!" Da läuft die Idee der Mittelmeerpolitik weiter, und zwar eben nicht auf einer demonstrativ politischen Ebene. Und diese Ebene ist aufgrund ihrer Erfolgsaussichten natürlich viel gefährlicher. Sollte es in Deutschland eine sozialdemokratisch geführte Regierung geben, so meine Prognose, ist die Merkel-Schäuble'sche Politik am Ende. Es würde dann eine andere Politik geben, mit der die Franzosen ihrer Idee wieder näher kämen. Es würde sicher eine Wirtschaftspolitik beschlossen, die Investitionen in Deutschland fördert und unsere Export-Überschüsse reduziert, so dass die anderen – namentlich Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland et cetera – eben davon profitieren.

Sie beenden Ihr Buch mit einem Appell an die Bundesregierung beziehungsweise die Europäische Union Richtung Afrika. Würden Sie das noch bitte genauer schildern?

Das ist etwas Paradoxes. Ich habe ungefähr zwanzig Freunde und Kollegen zum Inhalt des Schuman-Plans von 1950 befragt, der Gründungsurkunde der Montanunion und damit der EU. Da fallen natürlich Schlagwörter wie "Deutschland, Frankreich, Kohle, Stahl, die müssen zusammenarbeiten, Frieden." Aber dann ist auch Schluss. Afrika wird nicht erwähnt. In der Erklärung steht neben den genannten Aspekten jedoch, dass es ein Ziel Europas sein muss, Afrika zu helfen, sobald die Europäische Union etabliert ist. Diesen Punkt haben alle vergessen. Ich habe dazu das Buch von Peo Hanssen und Stefan Jonsson über Eurafrika gelesen.[3] Darin ist die wirkliche Bedeutung dieser Worte erklärt: Es bedeutet nicht, dass Europa Afrika helfen soll, sondern dass die französischen Kolonien so behandelt werden sollen wie das Mutterland. Das ist ein neokolonialistischer Satz. Und daher lautet mein Plädoyer: Vergesst den Kontext und nehmt den Satz so, wie er da steht. Henri Guaino hatte den richtigen Namen "Union méditerranéenne". Durch Merkel entstand der falsche Name "Union pour la méditerranée". Das ist meine Erfahrung in Osteuropa: diese Caritashaltung unter dem Motto "Wir tun etwas für euch" ist fatal. Es sollte vielmehr heißen: "Wir tun etwas zusammen", nicht "für euch".

Was meinem Appell aktuell Nachdruck verleiht ist Folgendes: Das deutsche Entwicklungsministerium hat eine Art Marshall-Plan mit Afrika vorgelegt.[4] Das ganze Dokument ist first rate, ein wirklich guter Text. Aber jetzt kommt die Frage: In diesem Dokument taucht Frankreich überhaupt nicht auf, im gewissen Sinne nicht mal Europa. Warum müssen denn die Deutschen allein einen Marshall-Plan mit Afrika machen? Wie sollten wir das bewerkstelligen? Das ist doch ganz klar ein europäisches Projekt. Warum kontaktiert das Entwicklungshilfeministerium nicht die europäischen Kollegen und bittet um Unterstützung?

Nikolas Busse hat nach dem Brexit in der FAZ geschrieben: "Ohne die Briten wird die EU südlicher und mediterraner". Was würden Sie dazu sagen?

Zunächst ist mir das ein bisschen zu einfach. Wenn damit gemeint ist, dass das Gewicht Deutschlands geringer wird, stimmt das natürlich. Denn die Briten haben gerade in Bezug auf die etwas härtere Wirtschaftspolitik immer eher auf Seiten der Deutschen gestanden. Insofern enthält diese Aussage einen richtigen Kern. Aber als einzelner Satz ist er mir in seiner Formulierung zu eindimensional.

Dann zum Schluss noch die Frage: Was ist Ihr nächstes Projekt?

Aktuell schreibe ich Artikel und gehe der Frage nach, unter welchen Umständen so etwas wie "große Politik" möglich ist. "Große Politik" ist ursprünglich ein Nietzsche-Ausdruck; ich meine damit aber etwas Anderes. Ich frage, wie es dazu kommt, dass beispielsweise F. D. Roosevelt in der schlimmsten Depression diese kühne Idee des New Deal hatte und sie auch durchsetzt. Oder wie es eben zur Entstehung der EU kommt. Abstrakt formuliert: Wie ist es möglich, dass unter absolut kontraproduktiven Bedingungen eine totale politische Kehrtwende funktioniert bzw. etwas völlig Neues entsteht? Wie kommt es grundsätzlich in der Politik dazu, dass etwas in Situationen, in denen etwas unmöglich erscheint, trotzdem umgesetzt wird? Welche Mechanismen stehen dahinter? "Große Politik" ist momentan also mein Stichwort – und vielleicht wird etwas daraus, vielleicht auch nicht.

Vielen Dank für das Interview. Ich sage absichtlich nicht: Herr Lepenies, vielen Dank für das Gespräch – wir sind ja nicht beim Spiegel.

  1. Vgl. Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bd., Suhrkamp (2001 [1949]).
  2. Giorgio Agamben, „Que l'empire latin contre-attaque!“, erschienen in der französischen Tageszeitung Libération am 24.3.2013, ursprünglich veröffentlicht in Italien unter einer Überschrift mit dem sinngemäßen Titel „Wenn ein Lateinisches Imperium sich im Herzen Europas formieren würde“ (vgl. Wolf Lepenies, Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa. Hanser 2016, S. 15.)
  3. Vgl. Peo Hanssen und Stefan Jonsson, Eurafrica. The Untold History of European Integration and Colonialism. London etc. 2014.
  4. Vgl. http://www.bmz.de/de/laender_regionen/marshallplan_mit_afrika/index.jsp

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Politik Kultur Geschichte Europa

Wolf Lepenies

Wolf Lepenies, geb. 1941, ist Soziologe und Historiker. Er war von 1986 bis 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Neben deutschen Universitäten und dem Institute for Advanced Study in Princeton haben ihn französische Institutionen geprägt: die Sorbonne, das Collège de France und die Maison des Sciences de l’Homme.

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Tanja Bogusz

Dr. Tanja Bogusz, Soziologin, ist Gastprofessorin im Fachgebiet Soziologie sozialer Disparitäten der Universität Kassel. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Ökologiekrise, Mensch-Umweltbeziehungen, Wissenschaftsforschung (STS) und dem soziologischen Experimentalismus.

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