Christina Müller | Essay |

„Fühlen lassen“

Emotionale Ansprache für Frauen und für Männer

Im Sommer 2015 stellte die DKMS (Deutsche Knochenmarkspenderdatei) eine Werbekampagne vor, die Menschen über eine emotionale Ansprache dazu bewegen soll, sich in ihrer Spenderdatei registrieren zu lassen. Neben einem Fernsehspot umfasst die Aktion auch eine kleine Serie an Werbeplakaten mit dem Titel „Fühlen lassen“, die die Agentur Grey ganz offenkundig als Identifikationsangebote für bestimmte Zielgruppen maßgeschneidert hat. Genaugenommen handelt es sich um drei Plakate, deren Motive als „Sportler“, „Liebe“ und „Kind“ auf der DKMS-Webseite zum Herunterladen angeboten werden – im Dateinamen des „Liebe“-Motivs stößt man interessanterweise auf das Stichwort „frau“, wohingegen das Sportlermotiv unter der Bezeichnung „sportler“ abgespeichert wurde.

 

Selbst ohne Kenntnis der verräterischen Dateinamen liegt auf der Hand, dass es neben der kindgerechten vor allem um eine geschlechterspezifische Adressierung geht. Nicht nur Kinder, sondern auch Frauen und Männer werden ermuntert, sich in die Gefühle einer an Leukämie erkrankten Person einzufühlen, indem die Kampagne ihnen in einem jeweils auf ihre Bevölkerungsgruppe zugeschnittenen Motiv die Analogien zu ihrer vermeintlichen Lebenswirklichkeit aufzeigt. Das Sportlerplakat etwa zeigt einen ernst und entschlossen schauenden jungen Mann im Profil. Er trägt eine Art Trikot und scheint schweißtreibende Anstrengungen bereits absolviert zu haben. „Kennst du das, wenn Aufgeben keine Alternative ist?“, fragt der handschriftliche Slogan mit leicht suggestivem Unterton. An Kampfgeist und Durchhaltevermögen wird appelliert, sie prägen auch den Gesichtsausdruck des Fotografierten. Die Prüfung ist hart, aber du hast es in der Hand, flüstert das Plakat seinem männlichen Betrachter zu.

 

Dagegen tut die weibliche Darstellerin der Kampagne das, was Frauen in den Augen des einen oder anderen am besten können: auf dem Rücken liegend warten, die Fingerspitzen auf den leicht geöffneten Lippen spielend. Zwar ist das Model alltäglich gekleidet, doch deuten seine etwas laszive Körperhaltung und das offene Haar schon die sexuelle Botschaft an, die die Überschrift des Bildes in klare Worte fasst: „Kennst du das, einfach nicht den Richtigen zu finden?“ Während das männliche Werbenarrativ eine existenzielle Herausforderung für einen tatkräftigen Helden beschreibt, wird die weibliche Erzählung zur Dornröschengeschichte, die der untätig wartenden Hauptfigur einen rettenden Prinzen verspricht. Von selbstbestimmter Aktivität wie im Fall des Sportlers kann hier keine Rede sein.

Die unfreiwillige Pointe dieser klischeehaften Kampagne ist freilich folgende: Die Rolle eines Leukämiekranken, der auf die passende Knochenmarkspende warten muss, entspricht nun einmal genau der ausweglosen Situation eines Dornröschen – dies impliziert auch das ebenfalls die erzwungene Passivität ins Zentrum stellende Kindermotiv aus der Plakatserie, das unter der Überschrift „Kennst du das, sehnlichst auf jemanden zu warten?“ natürlich ein am Fenster sitzendes Mädchen und nicht einen Jungen zeigt. Offensichtlich widerstrebte es der Agentur oder ihren Auftraggebern jedoch, einen Mann als ebenso hilflos ausgeliefertes Opfer zu präsentieren wie eine Frau – daher wohl der Griff zum Heldenmythos.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Gender Medien

Christina Müller

Dr. Christina Müller ist Literaturwissenschaftlerin und Lektorin im Philipp Reclam jun. Verlag. Sie war bis November 2016 für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis tätig.

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