Hendrik Simon | Veranstaltungsbericht |

Arbeit ohne Demokratie?! Reflexionen über „Vergangenheit und Zukunft von Industrial Citizenship“

Workshop der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der Technischen Universität Darmstadt, 30. Oktober 2015

Der von der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der TU Darmstadt organisierte Workshop nahm die in jüngerer Zeit wieder breitere Rezeption des Londoner Soziologen Thomas H. Marshall (1893–1981) zum Anlass, um nach Vergangenheit und Zukunft seines Konzepts von „Industrial Citizenship“ zu fragen. Wie der Workshop und die angeregten Diskussionen unterstrichen, bieten sich angesichts gewandelter arbeits- und wirtschaftshistorischer Realitäten, einer zunehmenden Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie einer sich ausweitenden Prekarisierung wie Entregelung von Beschäftigungsverhältnissen im gegenwärtigen Kapitalismus vielfach Gründe zur Reflexion über alte und neue (Un-) Möglichkeiten der Teilhabe, also der Mitbestimmung in und Demokratisierung von (industrieller) Arbeit.

So bekräftigte STEFAN LÜCKING (Düsseldorf) einführend, das Konzept „Industrial Citizenship“ stelle einen guten Rahmen für weitere Überlegungen zur Demokratisierung der industriellen Beziehungen dar. Unklar sei aber, wie dieses Weiterdenken konkret durchführbar sei und welche Rolle Marshalls Ansatz hierin spielen könne. ULRICH BRINKMANN (Darmstadt) griff Lückings Frage nach der Anwendbarkeit des Konzepts von (Staats-)Bürgerrechten in seiner kurzen Einführung auf und ergänzte mit Blick auf sich wandelnde sozioökonomische und politische Rahmenbedingungen: Die rasende Entwicklung lasse bezweifeln, ob ein offensives Konzept der Demokratie in der industriellen Arbeitswelt noch konstruktiv sei – oder ob man sich nicht längst in einer Verteidigungshaltung befinde. Skepsis bezüglich der Realisierbarkeit einer weiteren Demokratisierung von Arbeit sollte im Laufe des Workshops noch häufiger aufkommen.

Die inhaltliche Auseinandersetzung eröffnete WALTHER MÜLLER-JENTSCH (Düsseldorf) mit einer historischen Einführung in das Konzept „Industrial Citizenship“ und seine wissenschaftliche Rezeption. Müller-Jentsch skizzierte Marshalls Argumentationslinie, in der jener drei Bestandteile von Staatsbürgerschaft bzw. von „Gleichheit als Bürgerrecht“ unterscheidet. Marshall hatte die Herausbildung von Bürgerrechten gewissermaßen als linear-evolutionäre Fortschrittsgeschichte konzipiert und damit Kritik etwa von Anthony Giddens geerntet. Denn Marshalls Narrativ vernachlässige, so Giddens, die harten historischen Konflikte, in denen Bürgerrechte erkämpft wurden. Laut Marschall seien, erläuterte Müller-Jentsch, nach den zivilen Bürgerrechten des 18. Jahrhunderts, gemeint ist der Wandel von der Sklavenarbeit zur „freien Arbeit“, im 19. Jahrhundert politische Bürgerrechte als Ausdehnung bestehender Rechte auf weitere Bevölkerungsgruppen gefolgt. Parallel zu den sozialen Bürgerrechten, die sich im 20. Jahrhundert als Anspruch auf materielle Gleichheit herausbildeten, habe Marshall als vierte Kategorie „Industrial Citizenship“, ein Konzept wirtschaftlicher / industrieller Staatsbürgerrechte, eingeführt, die vorwiegend in kollektiven Verhandlungen („collective bargaining“) und Vertragsschließungen durch Gewerkschaften (ansatzweise) verwirklicht worden seien. Damit sei eine kollektive Teilhabe am Prozess der Aushandlung und Verrechtlichung sozialen Schutzes verbunden. Mit Blick auf die Wahrung „industrieller Rechte” durch Gewerkschaften und Tarifverträge in der Bundesrepublik ging Müller-Jentsch auf das duale System der kollektiven Interessenvertretung ein, bestehend aus Tarifautonomie einerseits und Betriebsverfassung andererseits.

In seinem Ausblick sowie in der Diskussion sprach sich Müller-Jentsch dafür aus, „Industrial Citizenship“ nicht nur als beschreibendes Konzept, sondern auch als normatives Projekt zu verstehen. Es sei teils bereits realisiert, werde aber durch jüngere Entwicklungen bedroht. Dem Rückgang der tariflichen Deckung, der oft gestellten Frage nach der Auflösung der Tarifautonomie, zahlreichen Austritten aus Arbeitgeberverbänden und der Prekarisierung durch Leiharbeit und Werkverträge stünden Gegentendenzen wie der Mindestlohn oder rechtliche Begrenzungen von Werkverträgen gegenüber. Somit komme es nicht zur Erosion in der Industrie – das Glas sei noch halb voll, so Müller-Jentsch. Gegenstrategien von Arbeitnehmer_innen könnten der Deregulierung entgegenwirken, die den Gleichheitsdiskurs als starke Bastionen fortführen und Arbeitnehmer_innenrechte im Unternehmen weiter durchsetzen. Dieser Optimismus Müller-Jentschs wurde keineswegs von allen Teilnehmer_innen geteilt. Kontrovers diskutierte man auch die Frage, ob Leiharbeit in bestimmten Konstellationen, etwa angesichts einer extrem hohen Zahl an Aufträgen, aus Arbeitnehmer_innenperspektive vertretbar sei oder ob damit nicht zwangsläufig die ökonomische Argumentation der Unternehmer übernommen werde. Spätestens an diesem Punkt wurden neben Hoffnungen auch ernste Bedenken und Skepsis gegenüber einer (weiteren) Verwirklichung des normativen Projekts „Industrial Citizenship“ geäußert, also bezüglich der Frage, wie freie und gleiche Bürger ihren paradoxen Doppelstatus als ungleiche Lohnabhängige überwinden können.

Das erste Panel „Industrial Citizenship und betriebliche Akteure“ eröffnete HERMANN KOTTHOFF (Saarbrücken), der zunächst feststellte, dass es unüblich sei, aus demokratietheoretischer Perspektive über den Betriebsrat nachzudenken. Seine im Vortragstitel angelegte Verbindung von Betriebsräten und Bürgerstatus verstehe sich also keineswegs von selbst; fraglich sei auch, ob sie wirklich gerechtfertigt sei. Marshall etwa erwähne sie nicht. In seinen Überlegungen stellte Kotthoff aber die besondere Bedeutung des Betriebsrates im Verhältnis zum „Demos” im Betrieb heraus. Aus demokratietheoretischer Perspektive sei eine merkwürdige Kombination von republikanischen und liberalen Aspekten zu konstatieren: Einerseits sei der Betriebsrat dem Anspruch einer Mitbestimmung verpflichtet („Regierung durch das Volk“), gleichzeitig aber im deutschen korporativen System vom Repräsentationsprinzip geprägt („Regierung für das Volk“). Problematisch sei nicht nur die geringe Beteiligung der Beschäftigten im Betriebsrat, aus der nach Kotthoff dessen brüchige Legitimation resultiert, sondern auch mögliche Vertretungsrivalitäten zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften angesichts von Dezentralisierungstendenzen. Kotthoff argumentierte, es komme auf die Balance zwischen lokalen und überlokalen Perspektiven an. Gleichwohl wurde in der Diskussion darauf hingewiesen, dass Betriebsräte jüngeren Studien[1] zufolge selbst in Krisenzeiten keine Legitimationsschwäche erlitten. Zudem wurden neben der mangelnden Repräsentation von Leiharbeiter_innen im Betrieb Fragmentierung und Digitalisierung als Risiken genannt. Dabei kamen die Fragen auf, wo der Bürgerstatus im Betrieb zu lokalisieren sei und welche räumlichen Distanzen eine Polis eigentlich vertrage. Bemängelt wurde die geringe Bedeutung, die bislang der europäischen und internationalen Perspektive eingeräumt werde. Angesichts grenzüberschreitender Großunternehmen müsse auch die Bedeutung zwischen- und überstaatlicher Interessenvertretungen von Arbeitnehmer_innen wachsen.

Nach der Organisation internationaler Solidarität fragte auch MARTIN SEELIGER (Köln). Er widmete sich der gegenwärtigen Entwicklung gemeinsamer Positionen durch europäische Gewerkschaften, die er als Gradmesser für „Industrial Citizenship” im europäischen Vergleich verstand. Dabei wurden die Aspekte „Lohnkoordinierung”, „Dienstleistungsfreiheit” und „europäischer Mindestlohn” angesprochen. Seelinger verwies auf Koordinierungs- und Organisationsschwierigkeiten der Gewerkschaften auf europäischer Ebene sowie auf Demokratiedefizite in der europäischen Vereinheitlichung von Standards. Kotthoff stimmte in diese eher pessimistischen Töne ein: Europäische Betriebsräte würden kaum noch von Gewerkschaften begleitet, am ehesten noch von deutschen; an der noch vielfach vorherrschenden, einzelstaatlichen Wahrnehmung und den daraus resultierenden partikularen Machtinteressen zerbröckele vieles in der europäischen Perspektive.

Pessimistisch stimmte auch der Vortrag von KARINA BECKER (Darmstadt) zu migrantischen Pflegekräften in deutschen Privathaushalten, in dem sie angesichts der in diesem Sektor besonders eindrücklichen normativen Doppelstandards auf Grenzen und Paradoxien des „Citizenship“ innerhalb einer und derselben Rechtsordnung verweisen konnte. Becker argumentierte, viele in Deutschland für selbstverständlich gehaltene Rechte und Gewissheiten würden migrantischen Pflegekräften vorenthalten: Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen müssten Migrant_innen mit den Pflegebedürftigen und ihren Familien selbst aushandeln, ohne auf beschäftigungsrechtliche Sicherheiten und Standards zurückgreifen zu können. Da eine „migrantische Reservearmee“ an Pflegekräften zur Verfügung stehe, würden deutsche Familien mit Primärmacht ausgestattet; eine Normalisierung von Arbeitsstandards erfolge daher allenfalls durch die Familien selbst. Diskutiert wurden die Chancen der Solidarisierung unter den Betroffenen und die Möglichkeit, ihre Arbeitsbedingungen durch das Herstellen größerer Öffentlichkeit zu verbessern. Laut Becker bestehen bereits Netzwerke von Migrant_innen, in denen Erfahrungsaustausch möglich ist und die damit in sehr begrenzter Form als Machtressource dienen können. Als besonders paradox wurde gewertet, dass ein möglicher Gewinn an Freiheit der einen (Selbstverwirklichung von „Hausfrauen“) durch die weitgehende Unfreiheit anderer (prekär beschäftigter migrantischer Pflegekräfte) erkauft werde.

Schließlich beschäftigte sich PHILIPP STAAB (Hamburg) mit den Auswirkungen, die die Digitalisierung der Industrie auf Bürgerrechte haben kann, und hob dabei die Gefahr einer Unterminierung des „betrieblichen citizenship“ durch digitale Innovationen hervor. Letztere könnten institutionelle Regelungsmechanismen infrage stellen, weil der Rahmen von Bürgerrechten durch die Digitalisierung erodiere: Der Staat könne in vielen Bereichen seiner Steuerungsfunktion nicht mehr nachkommen. In der Runde wurde nun die tatsächliche und zukünftige Bedeutung technischer Fortschritte auf „Industrial Citizenship“ diskutiert. Ulrich Brinkmann verwies auf „satellitenförmige“ Neuorganisationen von Unternehmen, deren separate Produktions- respektive Logistikstandorte sich mittlerweile über eine große Fläche verteilen. Damit war die Frage im Raum, ob der Betriebsbegriff angesichts einer zunehmenden Digitalisierung noch funktioniere. Stephan Lücking plädierte für einen differenzierten Umgang mit Horrorszenarien und dem „gemachten Hype Industrie 4.0“. Es sei wichtig, die empirischen Auswirkungen von Digitalisierungsprozessen in verschiedenen Bereichen zu unterscheiden und miteinander zu vergleichen.

Angesichts der fortgeschrittenen Zeit, Resultat der angeregten und ausgedehnten Diskussionen, konnten der Vortrag von Ulrich Brinkmann und OLIVER NACHTWEY (Darmstadt) zur Entwicklung von Staatsbürgerrechten angesichts der Postdemokratisierung in den industriellen Beziehungen wie auch der abschließende Roundtable nicht mehr stattfinden. Stattdessen erhielten die Teilnehmenden die entsprechenden Vortragsmaterialien und relevante Artikel der beiden: In Anlehnung an Colin Crouch sprechen Brinkmann und Nachtwey von einer Postdemokratisierung in den industriellen Beziehungen, die sie als endogene Aushöhlung von demokratischen Institutionen und Prozessen im Betrieb als Folge einer Hybridisierung von Staatsbürgerrechten beschreiben. Insbesondere der zunehmende Einsatz von prekär Beschäftigten (Leiharbeiter_innen) führe zu einer Fragmentierung des organisierten, betrieblichen „Demos“. Auch sie teilen also den zu Beginn des Workshops formulierten Optimismus Walter Müller-Jentschs zur Entwicklung der industriellen Staatsbürgerrechte keineswegs. Vielmehr lasse sich trotz formaler Stabilität der betrieblichen Institutionen eine Erosion der demokratischen Mitbestimmungsstrukturen feststellen.

Der Workshops endete mit dem Schlusswort Stefan Lückings, der sich eine stärkere Verbindung von theoretisch fundierter Reflexion und empirischer Forschungspraxis im Hinblick auf Demokratisierungsprozesse in den industriellen Beziehungen wünschte. Angesichts der regen Diskussion kann man wohl sagen, dass der Workshop ein richtiger Schritt in die Richtung einer eingehenderen Beschäftigung mit dem paradoxen Verhältnis von (industrieller) Arbeit und Demokratie war. In den Beiträgen kamen freilich Hoffnungen wie Skepsis gleichermaßen deutlich zum Ausdruck

Konferenzübersicht:

Stefan Lücking (Düsseldorf) / Ulrich Brinkmann (Darmstadt), Begrüßung

Walther Müller-Jentsch (Düsseldorf), Mitbestimmung und Industrial Citizenship in historischer Perspektive

Industrial Citizenship und betriebliche Akteure

Hermann Kotthoff (Saarbrücken), Betriebsräte und Bürgerstatus

Karina Becker (Darmstadt), Grenzen von Citizenship – Das Beispiel migrantischer Pflegekräfte

Gegenwart und Zukunft von Industrial Citizenship

Philipp Staab (Hamburg), Digitalisierung und Bürgerrechte

Martin Seeliger (Köln), Disparitäten von Industrial Citizenship in Europa

Ulrich Brinkmann / Oliver Nachtwey (Darmstadt), Postdemokratie und Industrial Citizenship (entfallen)

Roundtable: Welche Zukunft haben die industriellen Bürgerrechte? (entfallen)

Moderation: Stefan Lücking, Hans-Böckler-Stiftung

  1. Vgl. etwa Mario Candeias /Klaus Dörre / Bernd Röttger, Betriebsräte in der Zivilgesellschaft. Interessenvertretung zwischen Wettbewerb und überbetrieblichem Engagement, Münster 2012.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Politik Arbeit / Industrie

Hendrik Simon

Hendrik Simon, Dipl.-Pol. und M.A., ist Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind historische Friedensforschung, Völkerrechtsgeschichte und Tarifkonflikte in den industriellen Beziehungen.

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