Martin Weißmann, Simon Hecke | Veranstaltungsbericht |

Geschichte und/oder Theorie gesellschaftlicher Differenzierungen?

Arbeitstagung des „Bielefelder Arbeitskreises Historische Soziologie und soziologische Prozessforschung“, Universität Bielefeld, 1. März 2017

Wie lässt sich die soziologische Differenzierungstheorie für historische Forschung nutzen? Und: Wie kann die soziologische Differenzierungstheorie durch historische Forschung irritiert, angereichert und, so nötig, korrigiert werden? Unter diese doppelte Fragestellung hatten VOLKER KRUSE und RAINER SCHÜTZEICHEL (beide Bielefeld) die von ihnen organisierte, erste öffentliche Arbeitstagung des „Bielefelder Arbeitskreises Historische Soziologie und soziologische Prozessforschung“ zur „Geschichte gesellschaftlicher Differenzierungen“ gestellt. Ziel der Veranstaltung war es, Geschichte und Theorie der gesellschaftlichen Differenzierungen in einen fruchtbaren Dialog zu bringen.

Im ersten Vortrag des Tages behandelte VOLKER KRUSE (Bielefeld) unter dem Titel „Krieg und funktionale Differenzierung“ die Frage, welche Auswirkungen ‚große Kriege‘ auf die Form der Differenzierung moderner Gesellschaften haben. Im Anschluss an Herbert Spencer formulierte Kruse die These, dass Kriegsgesellschaften einen eigenständigen Typ von Nationalgesellschaften darstellen.[1] Im Unterschied zu funktional differenzierten Zivilgesellschaften seien Kriegsgesellschaften durch drei zentrale Merkmale charakterisiert: Erstens durch eine Konzentration gesellschaftlicher Entscheidungsmacht in einer politisch-militärischen Spitze, zweitens durch eine von eben dieser nationalgesellschaftlichen Spitze ausgehende, auf den Zweck effektiver Kriegführung ausgerichtete, „zentrale Steuerung“ anderer Funktionssysteme (insbesondere der Wirtschaft), und schließlich drittens durch die Herausbildung einer Form „patriotischer Vergemeinschaftung“: Die Inklusion und Exklusion von Personen sei in Kriegsgesellschaften primär über die (Nicht)-Zugehörigkeit zu Nationalgemeinschaften strukturiert, wodurch die Bedeutsamkeit der (Nicht-)Zugehörigkeit zu Klassen beziehungsweise Schichten oder Funktionssystemen überlagert werde.

Kruse erläuterte seine These am Fall des in der Soziologie seines Eindrucks nach bislang deutlich untererforschten Ersten Weltkriegs. In allen großen kriegführenden Nationen (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland) sei die funktional differenzierte Gesellschaft bereits in den ersten Kriegsmonaten „kollabiert“. Die Eigenlogik gesellschaftlicher Teilbereiche wie Wirtschaft und Wissenschaft sei zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber doch merklich eingeschränkt worden. Die oben genannten zentralen Charakteristika von Kriegsgesellschaften könne die soziologische Gesellschaftstheorie daher nur dann begreifen, wenn sie in Erweiterung der Theorie funktionaler Differenzierung Phänomenen der Entdifferenzierung und der relativen Autonomie gesellschaftlicher Sphären systematisch und begrifflich Rechnung trage.

In der sich an den Vortrag anschließenden fruchtbaren Diskussion erläuterte Kruse seine Vorgehensweise in konzeptioneller Hinsicht als eine „Verweberung Luhmanns“. Begreife man das Konzept der ‚funktionalen Differenzierung‘ als Idealtyp im Sinne Webers, so ließen sich die empirisch beobachtbaren Differenzen von funktional differenzierten Zivilgesellschaften und Kriegsgesellschaften besser beschreiben und theoretisch fassen. Die Frage, ob sich das Theorem funktionaler Differenzierung, gerade in seiner Luhmannschen Variante, sinnvoll als Idealtypus begreifen lässt, sorgte allerdings für kontroverse Diskussionen zwischen den Workshopteilnehmer_innen. In Anschluss an diese Diskussion ließe sich hier auch an eine vor allem an den frühen Arbeiten Luhmanns orientierte systemtheoretische Gesellschaftstheorie erinnern, die gerade darauf verzichtet, die ‚funktions- oder codespezifische Reinheit‘ gesellschaftlicher Teilsysteme zum Charakteristikum funktionaler Differenzierung zu erklären.[2] Die ‚gesellschaftliche Einbettung‘ der Wirtschaft und anderer Funktionssysteme wird hier keineswegs bestritten, stattdessen werden die Differenz von Autonomie und Autarkie sowie die ‚innere Widersprüchlichkeit‘ (Multifunktionalität) gesellschaftlicher Teilsysteme auch in ‚funktional differenzierten‘ Gesellschaften betont.[3] Vor diesem theoretischen Hintergrund ließe sich dann auch empirisch fruchtbar danach fragen, an welchen Stellen die von Kruse in Kriegsgesellschaften beobachtete zentrale politische Steuerung der Wirtschaft (aber auch: des Rechts,[4] der Wissenschaft usw.) an ihre Grenzen stößt und wie genau sich die Spezifika der Versuche politischer Einflussnahme auf andere Teilsysteme in kriegführenden Nationalgesellschaften im Unterschied zu entsprechenden Versuchen in nicht-kriegführenden Nationalgesellschaften begreifen lassen.

UTA KARSTEIN (Leipzig) widmete sich in ihrem Vortrag dem Verhältnis von Kunst und Religion im 19. Jahrhundert und fragte nach den Reaktionen, die der Ausdifferenzierungsprozess der Kunst auf Seiten des Religiösen hervorgerufen hat. Anders als es etwa ein von der Kunst selbst gern bemühtes Befreiungs- und Emanzipationsnarrativ oder aber simplifizierende Säkularisierungsthesen der vergangenen Jahrzehnte nahelegen würden, sei für den angesprochenen Zeitraum von weit diffuseren Beziehungen zwischen Religion und Kunst auszugehen. Als drei miteinander verwobene Phänomene dieser Diffusität im religiös-künstlerischen Verhältnis untersuchte die Referentin die Bezüge zwischen religiösen Künstlern, christlicher Kunstkritik und konfessionell gebundenen Kunstvereinen im deutschsprachigen Raum und argumentierte für die These einer wechselseitigen Plausibilisierung und Stabilisierung dieser drei Akteure im künstlerischen Feld.

Am Beispiel der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesprochen wirkmächtigen Schule der Nazarener (Peter von Cornelius, Friedrich Overbeck) sowie einschlägigen Zeitschriften zeitgenössischer Kunstkritik (bespielsweise den Dioskuren) konnte Karstein zeigen, wie ein dezidiert religiöses Kunst- und Künstlerverständnis diskursiv durch eine Kunstkritik abgestützt wurde, die der Kunst eine klar religiöse Funktion zuwies und die Vorstellung propagierte, das Gelingen eines Kunstwerkes sei von der rechten (religiösen) Gesinnung seines Künstlers abhängig. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sei diese Allianz zwischen religiös überzeugten Künstlern und christlich gesinnter Kunstkritik zudem von christlichen Kunstvereinen – katholischen wie protestantischen – flankiert worden, die, neben allerlei anderen Zwecken, auch das Ziel verfolgten, eine allgemeine Deutungshoheit über Begriff und Gegenstand christlicher Kunst zu erlangen. Leitend für diese christlichen Vereine sei dabei eine Vorstellung gewesen, nach der die Kunst um ihrer selbst willen auf Religion und Kirche zurückverwiesen ist: Ohne eine Beschäftigung mit dem Religiösen, so das Denken der Vereine, könne Kunst gar nicht zu sich selbst kommen.

Für eine differenzierungstheoretische Interpretation des von ihr dargestellten Gegenstands empfahl Karstein vor allem zweierlei: Anders als es etwa die historisch orientierte Forschung zu konfessionellen Vereinen oder aber differenzierungssoziologische Studien zur Kunst nahelegten, sollte das Phänomen religiöser Kunst im 19. Jahrhundert in seinen unterschiedlichen sozialen Ausprägungen nicht vorschnell als ein Sekundärphänomen, etwa als Ausdruck eines konfessionell geschlossenen, in sich aber funktional differenzierten christlichen Milieus, oder aber als ein Intermezzo eines gleichsam unaufhaltsam fortschreitenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses gedeutet werden. Gewinnbringender sei es vielmehr, christliche Kunst, Kunstkritik und Kunstvereine als bedeutsamen Teil des sich ausdifferenzierenden Kunstsystems zu verstehen und nach den historischen Bedingungen ihres Erfolgs und Misserfolgs zu fragen. Hierfür empfehle sich vor allem das Feldkonzept Pierre Bourdieus. Dieses sei zum einen hinreichend sensibel für die erwartbaren Konflikte und Spannungen innerhalb wie zwischen einzelnen gesellschaftlichen Feldern, zum anderen verwende es einen relationalen Autonomiebegriff, der mehr oder weniger autonome Bereiche innerhalb eines Feldes, aber auch mehr oder weniger autonome Felder innerhalb der Gesellschaft zu unterscheiden erlaube. In einer feldtheoretischen Perspektive ließe sich die Allianz von religiösen Künstlern, stabilisierender Kunstkritik und organisatorischem Unterbau christlicher Kunstvereine als ein Subfeld des umfassenderen Kunstfeldes beschreiben – mit Absatzmarkt, Kunstkritik und ihm verpflichteten Künstlern. Dieses Subfeld trete zu den Konfliktlinien, die Bourdieu dem Kunstfeld eingeschrieben sieht, in ein merkwürdiges Spannungsverhältnis. So teile und unterstütze es etwa einerseits die zentrale Abgrenzungslinie des Kunstsystems zur Massenkunst, kratze andererseits jedoch beständig am Autonomiepostulat der Kunst gegenüber der Religion.

JOACHIM RENNs (Münster) Vortrag bot – neben empirischen Einsichten in die ‚Brechung‘ von Rechtsreformen bei ihrer Implementation in lokale Verwaltungspraktiken im Preußen des 18. Jahrhunderts – vor allem den Vorschlag einer Revision der systemtheoretischen Konzeptualisierung gesellschaftlicher Differenzierungsformen. Die soziologische Differenzierungstheorie müsse anerkennen, dass sie mit Behauptungen des Primats einer Differenzierungsform sowie mit Vorstellungen des linearen Übergangs von einer Differenzierungsform zu einer anderen ihrem Gegenstand ‚Gesellschaft‘ nicht gerecht werden kann. Dies gelte unabhängig davon, ob es sich um die Gesellschaft des 18. oder des 21. Jahrhunderts handelt, und es gelte nicht nur in Hinblick auf die Referenz ‚Weltgesellschaft‘, sondern auch für lokal begrenzte Untersuchungen. In knappen Analysen zur Umsetzung von Verwaltungsreformen im Königreich Preußen während des 18. Jahrhunderts verwies Renn daher exemplarisch auf das Interferieren verschiedener Differenzierungsformen: Gewohnheitsrechte, die etwa in Familien, Stadtgemeinschaften, Schichten, Berufsständen oder Religionsgemeinschaften institutionalisiert sind, treffen in konkreten sozialen Situationen auf zentralstaatliche Versuche der Verrechtlichung, strukturieren eben durch dieses Aufeinandertreffen den jeweiligen „sozialen Raum“ und prägen in jeweils variierender Bedeutsamkeit die Entscheidungen der Akteure und ihre Lebensführung.

Jenseits von „Stalinisierungen“ oder „Zerfledderungen“ der Systemtheorie lautet Renns Forschungsprogramm daher: Kontrollierte Revision der Theorie funktionaler Differenzierung in Form einer Theorie multipler Differenzierung.[5] Der Prozess der Modernisierung erscheine dann nicht als Ersetzung einer Differenzierungsform (Stratifikation) durch eine andere (funktionale Differenzierung), sondern als ein mit Zeit und Ort variierender, keineswegs linearer Prozess der Trennung und Verschränkung verschiedenartiger Differenzierungsformen. Die Behauptung des Primats einer dieser Differenzierungsformen für ganze Gesellschaften qualifizierte Renn als theoretisches Vorurteil.

Um die historische Interferenz und Interaktion von Differenzierungsformen ging es auch im Beitrag von WOLFGANG LUDWIG SCHNEIDER (Osnabrück), der jedoch bei seinen Ausführungen – im Gegensatz zu Renn – innerhalb des etablierten systemtheoretischen Theorierahmens verblieb. Schneiders grundsätzliches Interesse galt der Frage, wie die auffällige Elastizität und Variabilität hochkultureller Gesellschaften differenzierungstheoretisch verstanden und erklärt werden können. Gemäß dem von Luhmann vorgeschlagenen Katalog gesellschaftlicher Differenzierungsformen bedeutete dies für den Fall vorneuzeitlicher Hochkulturen, die in diesen Gesellschaften vorhandenen Verhältnisse zwischen Zentrum/Peripherie und stratifikatorischer Differenzierung zu bestimmen. Die Prüfung der Beziehung beider Differenzierungsformen nahm Schneider exemplarisch an zwei Phasen aus der republikanischen Periode des Römischen Reiches vor. Anhand der Ständekämpfe zwischen Plebejern und Patriziern in der frühen Republik sowie der Krise der späten Republik, die zur Etablierung des Kaisertums führte, ging er der Frage nach, inwiefern Veränderungen der römischen Schichtungsstruktur aus Anforderungen resultierten, die sich aus den Aufgaben der Sicherung und Ausdehnung zentralisierter politischer Herrschaft über die eroberten Gebiete des Reiches ergaben.

Schneider konnte in seiner Analyse beider Konfliktkonstellationen zeigen, dass dem römischen Heer sowohl für die Ausformung der Differenz von Zentrum und Peripherie als auch für die Transformation der ständischen Sozialstruktur entscheidende Bedeutung zukam. Im Falle der Ständekämpfe sei es vor allem die militärische Expansion des Reiches gewesen, die einen ökonomischen Ausgleich zwischen den Ständen ermöglicht habe: Erobertes Agrarland konnte den verarmten Bauern zugeteilt werden, ohne den (grund-)besitzenden Patriziern etwas von ihrem Land wegzunehmen. Mit Blick auf die Krise der späten Republik waren es hingegen besonders die Folgen einer Heeresreform, die Schneider interessierten: Hohe personelle Verluste in militärischen Konflikten, vor allem aber die hohe Zahl verarmter Bauern, die das festgeschriebene Mindestvermögen zur Heranziehung zum Kriegsdienst nicht mehr erreichten, hätten zu einer Öffnung des römischen Heeres für Besitzlose geführt und dieses von einem bäuerlichen Milizheer in eine „Berufsarmee“ verwandelt. Dadurch habe sich der Fokus des Versorgungsproblems von den verarmten Bauern und Handwerkern auf die Veteranen verschoben und zugleich eine neue folgenschwere Klientelpolitik im römischen Zentrum etabliert: Während die städtische plebejische Klientel im Rahmen der Volksversammlung von konkurrierenden Personen und Fraktionen im Senat für eigene Zwecke mobilisiert worden war, setzte man nun die neue, den römischen Feldherren verbundene Heeresklientel im Bedarfsfall dazu ein, einen widerstrebenden Senat mit Gewaltmitteln zu unterwerfen. Anforderungen zur Sicherung der Kontrolle des Zentrums über die Peripherie seien damit auf das Zentrum zurückgeschlagen: In der Konsequenz sei so eine für die Republik desaströse Einheit von militärischer Außen- und militarisierter Innenpolitik entstanden.

Interessante Diskussionspunkte, die sich aus dem Vortrag ergaben, betrafen neben Fragen zum Verhältnis von gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen und den Handlungsabsichten und -situationen historischer Akteure vor allem die Frage nach der theoretischen und empirischen Generalisierbarkeit von Schneiders Analyseergebnissen: Lassen sich etwa ähnlich zirkuläre Mechanismen der Verschränkung dieser oder anderer Differenzierungsformen auch für andere gesellschaftliche Kontexte annehmen? Ist der gekennzeichnete Zusammenhang von Zentrum/Peripherie-Differenzierung und Stratifikation etwa ein typisches Merkmal von Imperien? Für die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen scheint es sinnvoll zu sein, die Beobachtungsperspektive zeitlich auszuweiten und auch moderne gesellschaftliche Strukturlagen in den Blick zu nehmen. Dies wird erleichtert, beginnt man die Analyse nicht mit der Auswahl von Gesellschaftstypen und deren Primärdifferenzierung, sondern umgekehrt mit den Differenzierungsformen selbst und fragt dann erst in einem zweiten Schritt nach deren ‚Gesellschaften‘. Denn während erstgenanntes Vorgehen rasch dazu verleitet, sich in seiner Analyse auf bestimmte historische Zeiträume zu beschränken, eröffnet zweitgenannter Zugang flexiblere und zahlreichere Vergleichsmöglichkeiten. Im Falle von Imperien bedeutete es etwa, diese nicht von vornherein als primär vormoderne politische Strukturen kategorisieren und betrachten zu müssen, sondern sie als ausgesprochen langlebige, widerstands- und wandlungsfähige politische Gebilde der vormodernen und modernen Gesellschaftsentwicklung begreifen und untersuchen zu können.[6]

Der zweite, stärker theoriebezogene Teil der Arbeitstagung wurde durch einen Vortrag von ULRICH BACHMANN (Heidelberg) eröffnet. Er ging der Frage nach, inwiefern soziologische Differenzierungstheorien in der Lage sind, Phänomenen der Entdifferenzierung einen systematischen Platz in ihren jeweiligen Theoriegebäuden zuzuweisen. Nach Bachmann operieren die soziologischen Differenzierungstheorien mit einer Vorstellung von Differenzierung als einem gerichteten, unilinearen und irreversiblen Prozess. Entdifferenzierung könne in diesen Theorien daher letztlich nur als katastrophaler Niedergang und Zerfall ehemals ausdifferenzierter Teilsysteme beziehungsweise Wertsphären gedacht werden. Ein solches Verständnis von Ent-/Differenzierung sieht Bachmann jedoch in den vergangenen Jahren durch stärker empirisch ausgerichtete, fachexterne wie fachinterne Forschungen zu Entdifferenzierungsprozessen zunehmend in Frage gestellt. So habe etwa die Biologie, der die Soziologie das Differenzierungskonzept ja ursprünglich entlehnte, mit dem Aufweis von Prozessen der zellulären De- und Transdifferenzierung die Vorstellung von Differenzierung als „Einbahnstraße“ bereits aufgegeben und den Differenzierungsbegriff um Möglichkeiten gegenläufiger Entwicklungen erweitert. Innerhalb der Soziologie seien es hingegen Studien wie die Volker Kruses zu Kriegsgesellschaften, Detlef Pollacks zur DDR oder Uwe Schimanks zur Ökonomisierung,[7] die eine Revision des gekennzeichneten Differenzierungsverständnisses nahelegten. Indem die betreffenden Arbeiten ihre Aussagen aus der Analyse historischer Vorgänge und Konstellationen gewonnen hätten, provozierten sie die Frage, ob, und wenn ja wie sich die von ihnen empirisch beobachteten Vorgänge der Entdifferenzierung auch innerhalb der Differenzierungstheorien abbilden lassen. Die Unfähigkeit der Differenzierungstheorien, Entdifferenzierung jenseits von Annahmen der Gerichtetheit und Irreversibilität zu denken und systematisch in ihre Theoriegebäude zu integrieren, trete angesichts solcher Forschungsergebnisse deutlich als Problem in Erscheinung.

In der Diskussion des Vortrags wurde von den Tagungsteilnehmer_innen einerseits die Notwendigkeit einer theoretischen wie empirischen Beschäftigung mit der Kategorie der Entdifferenzierung unterstrichen,[8] andererseits jedoch auch die Prämisse und die entsprechenden Folgeannahmen aus Bachmanns Beitrag hinterfragt: Ist die Differenzierungstheorie heute wirklich noch in dieser Weise Vorstellungen von Differenzierung als einem unidirektionalen und irreversiblen Prozess verhaftet? Ist der gegenwärtige Diskussionsstand der Disziplin nicht bereits über die Alternative von notwendiger Steigerungsdynamik oder katastrophalem Untergang in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen hinweg? Joachim Renn verwies in diesem Zusammenhang auf Möglichkeiten, das Verhältnis von Differenzierung und Entdifferenzierung nicht als Nullsummenspiel, sondern als komplementäres Verhältnis zu begreifen. Sie beständen, wenn man erkenne, dass sich beide Vorgänge auch auf verschiedene Dimensionen verteilen können: Entdifferenzierung an einer Stelle mag dann etwa mit Differenzierung an einer anderen einhergehen und zusammenhängen – insgesamt also eher Um- als De-Differenzierung bedeuten.

Wie der erste, so lag auch der letzte Beitrag zur Arbeitstagung in der Verantwortung eines ihrer beiden Organisatoren: RAINER SCHÜTZEICHEL (Bielefeld) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Frage, wie sich Differenzierung, aber auch historische Sachverhalte generell, soziologisch erklären lassen. Im Rekurs auf eine Textstelle aus Niklas Luhmanns Aufsatz „Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution“[9] stellte er seinen Ausführungen zwei wissenschafts- und theoriegeschichtliche Hinweise voran: So sei der Luhmann-Text zum einen Zeugnis der letzten ernsthaften und intensiven Diskussion zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft über die Frage der theoretischen Grundlagen historischen Erklärens. Seit dem Ende der in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zwischen Größen wie Habermas und Luhmann hier und Wolfgang J. Mommsen und Koselleck dort geführten Debatte liege das Thema national wie international brach. Zum anderen erinnere der Aufsatz Luhmanns daran, dass Differenzierung ursprünglich ein evolutionstheoretisches Konzept gewesen sei: Unabhängig ihrer Provenienz – ob in ihren älteren Varianten bei Spencer, Simmel und Durkheim oder in ihren neueren Versionen bei Parsons, Luhmann und Habermas – seien Differenzierungstheorien im Grunde in Theorien soziokultureller Evolution ausgearbeitet worden. Vor diesem theoriehistorischen wie theoriesystematischen Hintergrund stelle sich die Frage, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen Differenzierungstheorien überhaupt historische Erklärungen liefern können. Anders gefragt: Lassen sich evolutionstheoretische Konzepte auf historische Entwicklungen und Sachverhalte anwenden?

Zu verneinen wäre diese Frage Schützeichel zufolge für Theorien, die gesellschaftliche Entwicklung als eine Abfolge von Stadien und Differenzierung dementsprechend als einen teleologischen und unilinearen Prozess verstehen. Entgegen der These Bachmanns werde eine solche Stadientheorie beziehungsweise lamarckistische Evolutionstheorie von der heutigen Evolutions- und Differenzierungstheorie jedoch nicht mehr geteilt, in ihrer modernisierungstheoretischen Gestalt sei sie vielmehr bereits in den 1960-er und 1970-er Jahren heftig in die Kritik geraten. Ihre zwei großen Gegner damals waren die Vertreter_innen der neueren Historischen Soziologie (unter anderen Barrington Moore, Theda Skocpol, Charles Tilly) und die Anhänger neodarwinistischer Theorien (wie zum Beispiel Donald T. Campbell oder Niklas Luhmann). Die Einwände, die Luhmann gegen die ältere Evolutionstheorie ins Feld führte, habe er auf originäre Weise mit einer Kritik an der Theorie der Geschichtsschreibung und der Geschichtswissenschaft verknüpft. An die Stelle von Einheitsvorstellungen (etwa bezüglich Gesellschaft, Kultur, Staat, Volk oder Nation) seien bei ihm Differenzvorstellungen getreten; statt Geschichte als einen kausalen oder teleologischen Prozess zu begreifen, habe er dafür plädiert, Strukturänderungen (und damit auch Differenzierung) durch das unkoordinierte, zufällige Zusammenwirken evolutionärer Mechanismen zu erklären.

Vor allem mit seiner Theorie der evolutionären Mechanismen von Variation, Selektion und Retention und deren Anwendung auf die Ebene der Ereignisse (Variation), der Strukturen (Selektion) und der Kontinuität (Stabilisierung),[10] habe Luhmann nicht zu ignorierende Anforderungen an die historische Erklärung und ihre Theorie formuliert. Sie lägen in einer ereignis- und temporalontologischen Fundierung der Evolutionstheorie sowie der Vorgabe jener Fragestellungen, die im Rahmen einer historischen Erklärung zu kombinieren sind: Jede historische Erklärung müsse Teilerklärungen berücksichtigen und integrieren, die sich auf die verschiedenen evolutionären Mechanismen beziehen. Forschungen der letzten Jahrzehnte im Feld der Historischen Soziologie hätten sich interessanterweise jedoch immer nur mit einem evolutionären Mechanismus befasst. Die „Mechanismendebatte“ drehe sich etwa nur um den Mechanismus der Selektion, während die Pfadtheorien nur zur Erklärung ganz bestimmter Stabilisierungsmechanismen dienten. Schützeichel äußerte daher die Ansicht, dass eine Theorie der soziokulturellen Evolution in Gestalt der drei evolutionären Mechanismen auch zur Integration der historisch-soziologischen Forschung beitragen könne.

Neben vielen interessanten theoretischen und empirischen Einsichten lassen sich in der Rückschau auf die Arbeitstagung auch einige zentrale Problemkomplexe historisch interessierter Soziologie identifizieren, die im Laufe der Veranstaltung immer wieder deutlich wurden. Sichtbar wurde etwa eine Problemlage, die man in loser Anlehnung an eine Begrifflichkeit des Berufssoziologen Fritz Schütze als eine professionelle Paradoxie historischer Soziologie bezeichnen könnte: Sich als Soziologe in der Auseinandersetzung mit historischem Material weder in der theoretisch unbefriedigenden Narration empirischer Details, noch in der historisch-empirisch problematischen Instrumentalisierung empirischer Daten zum Zwecke der Theorie-Politik oder Theorie-Zelebration zu verlieren, ist keine leichte Aufgabe. Das gilt umso mehr, als sich der historisch wie theoretisch interessierten Soziologin von Seiten der Geschichtswissenschaft und der soziologischen Theorie unterschiedliche Typen historischer Erklärungen aufdrängen: narrativistische, intentionalistische und kausaltheoretische Erklärungstypen beispielswiese von hier, funktionalistische oder gar evolutionstheoretische Erklärungstypen von dort. Dass der Erklärungsbegriff in der historisch-soziologischen Analyse dann aber selten expliziert beziehungsweise explizit gemacht wird, berührt schließlich einen weiteren Problemkomplex: die Uneinheitlichkeit des begrifflichen Instrumentariums in der soziologischen Untersuchung historischer Zusammenhänge und Entwicklungen. Ein Mangel an gemeinsamem Vokabular und das „Problem der Äquivokation“ (Renn) erschwere den fachlichen Austausch über das historische Material und seine Interpretation.

Trotz dieser und anderer Schwierigkeiten historisch arbeitender Soziologie können sowohl die Tagung als auch die auf ihr geführten Diskussionen als Belege für ein mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum reges Interesse an einer (selbstkritischen) Nutzung soziologischer (Differenzierungs-)Theorie zum Zwecke der Analyse historischer Prozesse gelten. Zumindest unter den Anwesenden schien zudem große Einigkeit bezüglich der kommenden Aufgaben historischer Soziologie zu bestehen: Diese liegen demnach weniger in ambitionierten Entwürfen zur Verbesserung oder gar ‚Falsifikation‘ von Großtheorien, sondern in der Durchführung empirischer Analysen mit einem klar ausgewiesenen theoretisch-begrifflichen Instrumentarium. Die für diese Analysen unverzichtbare Methodologie der historisch-soziologischen Arbeit ist dabei freilich selbst ein Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Sie zu führen, hat sich eine zweite Arbeitstagung des Bielefelder Arbeitskreises zum Ziel gesetzt, die am 18. Mai 2017 unter dem Titel „Theoretische und methodische Problemstellungen soziologischer Prozessforschung“ an der Bielefelder Fakultät für Soziologie stattfinden und ebenfalls von Volker Kruse und Rainer Schützeichel zusammen mit Thomas Hoebel organisiert wird.

Konferenzübersicht:

Volker Kruse / Rainer Schützeichel (beide Bielefeld): Begrüßung und Einleitung

Volker Kruse (Bielefeld): Krieg und funktionale Differenzierung

Uta Karstein (Leipzig): Differenzierungsprozesse im Kunstfeld des 19. Jahrhunderts. Zur ambivalenten Rolle christlicher Kunstvereine

Joachim Renn (Münster): Borussische Differenzierung. Eine historisch-empirische Prüfung soziologischer Makronarrative am Beispiel von Preußens vielgestaltigem Übergang in „die Moderne“

Wolfgang Ludwig Schneider (Osnabrück): Zum Verhältnis der Differenzierungsformen Zentrum/Peripherie und Stratifikation im Römischen Reich

Ulrich Bachmann (Heidelberg): Entdifferenzierung. Eine Kategorie moderner Differenzierungstheorien?

Rainer Schützeichel (Bielefeld), Differenzierung als Prozess?

Abschlussdiskussion und Fazit

  1. Siehe dazu: Volker Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. Konstanz, München 2015; ders., Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Beobachtungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 198–214.
  2. Vgl. dazu etwa André Kieserling, Drei Vorbehalte gegen „Funktionssysteme“, in: Zeitschrift für Soziologie 34 (2005), S. 433–436; Fran Osrecki, Autonomie von der Abweichung her denken. Zur Wiederentdeckung einer Theoriefigur, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie. Sonderband 2 (2014), S. 400–419.
  3. Vgl. für eine auf der Tagung insgesamt weitestgehend abwesende frühe Fassung der Luhmannschen Theorie, die durchaus ein Konzept „relative[r] Autonomie“ entwickelt und die Möglichkeit der Entdifferenzierung sozialer Systeme (hier am Beispiel ‚politischer Justiz‘) explizit thematisiert, beispielsweise die Kapitel „Ausdifferenzierung“ und „Autonomie“ aus Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 1983 (1. Aufl. 1969), insbes. S. 70ff.
  4. Interessant ist in dieser Hinsicht beispielsweise eine Fallstudie des Historikers Daniel Siemens, der den „inneren Widersprüche[n] der Kriminalpolizeiarbeit im Dritten Reich“ nachgeht, vor allem dem Widerspruch, einerseits politisch opportun vorzugehen, andererseits auf eine wie auch immer ermäßigte Form der ‚Rechtsbindung‘ vor allem in den frühen Jahren des Nationalsozialismus nicht verzichten zu können, ohne die eigene Arbeit unmöglich zu machen: Daniel Siemens, SA-Gewalt, nationalsozialistische 'Revolution' und Staatsräson. Der Fall des Chemnitzer Kriminalamtschefs Albrecht Böhme 1933/34, in: Nikolaus Wachsmann / Sybille Steinbacher (Hg.), Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933, Göttingen 2014, S. 191–213.
  5. Siehe dazu: Peter Isenböck / Linda Nell / Joachim Renn (Hg.), Die Form des Milieus. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und Formen der Vergemeinschaftung [= Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sonderband 1, 2014); Joachim Renn, Performative Kultur und multiple Differenzierung, Bielefeld 2014.
  6. Die erste Perspektive liegt nahe, orientierte man sich etwa vorrangig an S. N. Eisenstadts klassischer Studie The Political Systems of Empires, New York 1963, die in erster Linie vormoderne, nicht-westliche Imperien untersucht; zeitlich flexibler sind hingegen die Ausführungen zu Imperien bei Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 663ff. in seinem Kapitel zur Zentrum/Peripherie-Differenzierung. Die zweite Perspektive drängt sich auf, rezipiert man die Perspektiven und Erkenntnisse der neueren, interdisziplinären Empireforschung: Vgl. zur Modernität von Imperien etwa Jane Burbank/Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton, NJ / Oxford 2010; zu ihrer Langlebigkeit, Widerstands- und Anpassungsfähigkeit siehe vor allem Karen Barkey, Empire of Difference. The Ottomans in Comparative Perspective, Cambridge u.a. 2008.
  7. Vgl. für die Arbeiten von Kruse Fußnote 1; ferner etwa Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft: zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1994, sowie Uwe Schimank / Ute Volkmann, Ökonomisierung der Gesellschaft, in: Andrea Maurer (Hg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2008, S. 382–393.
  8. Vor allem der Nationalsozialismus wurde von verschiedenen Tagungsteilnehmern als ein dementsprechend vielversprechender Untersuchungsgegenstand genannt.
  9. Niklas Luhmann, Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution, in: Karl-Georg Faber / Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse, München 1978, S. 413–440.
  10. Vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 560f.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Sozialstruktur Gesellschaftstheorie Systemtheorie / Soziale Systeme

Martin Weißmann

Dr. Martin Weißmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bielefelder Fakultät für Soziologie und wurde dort mit einer Arbeit zur Soziologie der Polizei promoviert. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Soziologische Theorie und Organisationssoziologie.

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Simon Hecke

Simon Hecke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Soziologische Theorie, Historische Soziologie, Soziologie der Weltgesellschaft, Organisations- und Rechtssoziologie.

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