Lutz Raphael | Rezension |

Von Marx bis Piketty, von Schmoller bis Milanović

Rezension zu „Stabile UnGleichheiten. Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse“ von Christoph Weischer

Christoph Weischer:
Stabile UnGleichheiten. Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse
Deutschland
Heidelberg 2022: Springer VS
xx, 786 S., 98 s/w-Abbildungen, 6 Farbabbildungen, Bibliographien, 39,99 EUR
ISBN 978-3-658-36584-4

Das hier zu besprechende Werk Christoph Weischers vereint drei Bücher in einem, was seinen Umfang von stattlichen 745 Seiten Text erklärt und relativiert. Der Band ist nicht nur ein Grundlagenwerk zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Bundesrepublik, sondern zugleich eine fundierte Einführung in Theorien und Methoden der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung. Darüber hinaus enthält er eine Darstellung grundlegender Trends sozialer Ungleichheit in den vom Aufstieg des Industriekapitalismus geprägten Regionen der Welt im 19. und 20. Jahrhundert. Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig auf den Sozialstrukturen im Deutschen Reich und in Nachkriegsdeutschland (DDR wie BRD). Alle drei Themen werden ausführlich behandelt und nehmen für sich je mehr als 200 Seiten in Anspruch; sie sind argumentativ eng miteinander verzahnt, aber dank entsprechender Zwischenbilanzen lässt sich jedes der Großthemen auch unabhängig von den beiden anderen studieren.

Der Anspruch und das große Verdienst dieses Buches ist es, die verschiedenen disziplinären Perspektiven auf soziale Ungleichheit einzubeziehen und miteinander zu kombinieren: Weischer gelingt es immer wieder, ökonomische, soziologische und sozial- respektive gesellschaftsgeschichtliche Analysen zusammenzuführen. Der Autor nimmt seine Leser:innen mit auf einen kritischen Streifzug durch die umfangreiche Bibliothek der sozialwissenschaftlichen wie historischen Studien zu diesem großen Thema und führt sie anschließend weiter in die Werkstatt der empirischen Sozialforschung, wo methodisch versiert und reflektiert die unterschiedlichsten Sozialdaten ausgewertet und interpretiert werden. Eine Vielzahl von Tabellen und Grafiken begleiten den Text und laden zu einem ständigen Hin und Her zwischen den konkreten Daten und deren Auswertungen ein. Weischer nimmt die Komplexität sozialer Strukturbildungen ernst, er kapituliert nicht vor der Herausforderung, amtliche Statistiken, Panel- und Umfragedaten mit Hilfe kritischer Analyse und Aufbereitung zu einer dichten Beschreibung sozialer Ungleichheit zusammenzuführen. Die Schwächen des Buchformats bei der Präsentation von Grafiken, besonders bei der Darstellung von Ergebnissen korrespondenzanalytischer Auswertungen, ließen sich leider auch in diesem Band nicht vermeiden, werden aber durch den Besuch der online verfügbaren Versionen kompensiert.

Stabile UnGleichheiten ist geprägt vom Anliegen des Autors, die lange Tradition sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung zur Struktur kapitalistischer Industriegesellschaften fruchtbar zu machen für eine Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Bundesrepublik. So ist das Buch zugleich auch ein theoretisch und methodisch fundiertes Plädoyer dafür, den komplexen grenzüberschreitenden Dimensionen einer Sozialstrukturanalyse heutiger Gesellschaften gerecht zu werden und angesichts rezenter weltweiter Verflechtungen über die engen Grenzen nationalstaatlicher Wahrnehmung und Datengenerierung hinauszugehen. Der Weg dorthin führt zwangsläufig über sozialwissenschaftliche Theoriebildung und sozialgeschichtliche beziehungsweise historisch-soziologische Analysen langfristiger Tendenzen sozialer Strukturbildung über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg. Das ist zweifellos die größte Herausforderung für einen solchen Ansatz.

Weischer ist sich durchaus bewusst, dass ein solcher Ansatz „quer“ liegt zu gängigen Theorien und Konzepten der Sozialstrukturanalyse, wie sie in der Soziologie heute primär als untergeordnete Teildisziplin betrieben wird. Weischers soziologische Perspektive liegt aber auch „quer“ zu den disziplinzentrierten Zugriffen aus der Ökonomie oder der Geschichtswissenschaft. Geradezu Welten trennen Weischer von soziologischen Ansätzen, die sich nur auf die Gegenwart beziehungsweise vermeintliche Zukunftstrends konzentrieren und auf einer derart schmalen Grundlage Sozialstrukturanalyse betreiben. Ohne jede Polemik weist Weischer die Grenzen solcher Gegenwartsanalysen auf und wartet dabei mit stupenden disziplinsprengenden Kenntnissen der einschlägigen soziologischen, historischen und ökonomischen Forschungsliteratur auf.

Das Buch mobilisiert eindrucksvoll den vorhandenen Reflexions- und Argumentationsschatz sozialwissenschaftlicher Theorien und Modelle sozialer Strukturbildung von Marx bis Piketty, von Schmoller bis Milanović. Die entsprechenden Kapitelbieten einen breiten Überblick über sozialwissenschaftliche Ansätze und Lösungsvorschläge für die Modellierung gesellschaftlicher Differenzierung und Ungleichheit. Mit dem jenseits der Soziologie eher ungewohnten Konzept der „Protheorie“ umschreibt Weischer seinen Versuch, über die Differenzen der einzelnen Denkschulen und Spezialisierungen hinweg Begriffe und Argumente für eine breite, theoretisch informierte sowie argumentativ differenzierte Modellbildung sozialer Ungleichheit in Deutschland und vergleichbaren Gegenwartsgesellschaften zusammenzufügen. Diese „Protheorie“ folgt dem Grundsatz, unterschiedliche Denkansätze zu kombinieren, wenn sie Erkenntnisgewinn und unterschiedliche methodische Zugriffe auf eine komplexe Wirklichkeit versprechen. Entsprechend lang, vielfältig und anregend ist das Literaturverzeichnis geworden.

Schaut man genauer hin, so entdeckt man aber einen engeren Kreis von Klassikern, deren Vorschlägen und Argumenten Weischers eigenes Theorieangebot in besonderem Maße verpflichtet ist. Der Marx‘schen politökonomischen Perspektive folgt Weischer, wenn es darum geht, die großen „Arenen“ zu vermessen, in denen soziale Ungleichheit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa entsteht: Mit der Unterscheidung von Produktions- und Reproduktionssphäre hält der Autor an der grundlegenden Bedeutung des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Basisprozesses als Triebkraft gesellschaftlicher Wohlstands- und Ungleichheitsproduktion im industriellen Europa seit dem 19. Jahrhundert fest. Gleichen Rang erhält jedoch auch die Arena staatlichen, vor allem sozialstaatlichen Handelns. Damit werden die vielfältigen Einhegungen der kapitalistisch geprägten Marktgesellschaften durch den Ausbau staatlicher „Daseinsvorsorge“ – vom Wohlfahrtsstaat bis zum öffentlichen Bildungswesen – systematisch in den Blick genommen. Als dritte „Arena“ führt Weischer die privaten Haushalte ein und schenkt damit einem in Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung lange vernachlässigten Ausschnitt gesellschaftlicher Strukturbildung die angemessene Aufmerksamkeit. Denn in Haushalten werden nicht nur Arbeits-, Macht- und Ressourcenverteilungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Jung und Alt vollzogen, sie sind auch die Orte, an denen ein Großteil der Lebensverläufe sowie soziale Gruppenbildungen und -bindungen stattfinden.

Viel stärker als den Anregungen einer Marx’schen Klassenperspektive ist Weischer den gesellschaftstheoretischen Modellen Pierre Bourdieus verbunden, um die Stabilität sozialer Ungleichheit in ihrer Mehrdimensionalität theoretisch zu fassen und zu erklären. Aber wie im Umgang mit den Marx‘schen Ideen verschreibt sich Weischer auch im Fall von Bourdieu keiner Dogmatik, sondern ergänzt, korrigiert, wo immer es ihm angesichts gesteigerter Komplexität sozialer Lagen und widersprechender Daten sinnvoll erscheint. Eine dritte zentrale Inspirationsquelle dieses Opus Magnum stellen die soziologischen Modelle von Charles Tilly und Rogers Brubacker dar. Vor allem die analytische Unterscheidung von Ranking-– und Sorting-Prozessen nimmt Weischer auf und macht sie zu einer tragenden Säule seiner mehrdimensionalen Sozialstrukturanalyse. Damit stellt er sich zugleich ganz entschieden in die Linie derjenigen theoretischen Ansätze, die das Individuum beziehungsweise dessen sozial eingebettete Wahlentscheidungen/Strategien zum Ausgangspunkt der Theorie- und Modellbildung auf Meso- wie Makroebene machen. Statt der Analyse festgefügter Strukturen wie etwa Großgruppen oder Klassenlagen rückt Weischer die Untersuchung der Handlungsroutinen und Institutionen in den Mittelpunkt, deren Zusammenwirken im Zeitablauf solche Strukturen überhaupt erst hervorbringt beziehungsweise reproduziert. Sozialer Wandel wird in seiner historischen Dimension ernstgenommen, die Komplexität sozialer Zeit unter Rückgriff auf die Einsichten der historischen Forschung von Braudel bis Koselleck für die Sozialstrukturanalyse fruchtbar gemacht. Systematisch führt Weischer das Nebeneinander unterschiedlicher Zeit- und Erfahrungsschichten als Bauprinzip sozialer Strukturbildungen ein: Die Kumulierung von Ungleichheitserfahrungen im Lebensverlauf, die in sozialen Konflikten und politisch-militärischen Ereignissen geprägten Generationeneffekte sind Tatbestände, denen Weischer in den Sozialdaten nachgeht und deren Bedeutung als Gestaltungselemente sozialer Ungleichheit er unterstreicht. Sein „praxeologischer“ Ansatz ist auch ein Plädoyer für eine sozialwissenschaftliche Analyse, welche die Historizität ihres Gegenstands kennt und berücksichtigt.

Hier wird nicht nur Max Webers Erbe produktiv aufgenommen, sondern auch die in der deutschen Gegenwartssoziologie leider arg vernachlässigte Tradition historischer Soziologie als Inspirationsquelle genutzt. Allein dies macht Weischers Buch bereits zu einem wichtigen Beitrag in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussionslandschaft.

Mit der idealtypischen Unterscheidung von Ranking- und Sorting-Prozessen werden zwei in mobilitätsgeprägten Marktgesellschaften getrennte Entstehungsquellen sozialer Ungleichheit identifiziert und zur Grundlage einer empirischen Sozialstrukturanalyse gemacht. Ungleiche Zuweisungsroutinen von Status und Einkommenschancen an Berufe und Tätigkeitsfelder lassen sich gedanklich sehr wohl unterscheiden von den konkreten Berufs- und Zugangschancen von Männern und Frauen zu diesen bereits ungleich gewichteten Feldern sozialer Möglichkeiten. In der sozialen Realität vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften lassen sich in den allermeisten Fällen nur die kombinierten Effekte beider Prozesse erkennen, aber Weischer ist das Risiko eingegangen, in zwei chronologischen Durchgängen die Effekte struktureller Weiter- und Neubildung sozialer Hierarchien und individueller Wahlentscheidungen beziehungsweise Zugehörigkeiten zu analysieren. Leser:innen reisen also gewissermaßen zweimal durch die Landschaften stabiler Ungleichheiten der europäischen Gesellschaften – von der Industrialisierung bis zu den heutigen Transformationen hin zu einer post-industriellen Marktgesellschaft.

Eine besondere Stärke des Buches liegt auch darin, dass es stets die Voraussetzungen und Grenzen sozialwissenschaftlicher Theorie- und Begriffsbildung reflektiert: Sozialstrukturanalyse ist untrennbar mit gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen verknüpft, sie ist eingebunden in die akademischen Kämpfe in und zwischen den Disziplinen um symbolisches Kapital und materielle Ressourcen und sie ist selbstreflexive Aufarbeitung einer inzwischen langen Tradition sozialwissenschaftlicher Rekonstruktion und Konstruktion sozialer Wirklichkeiten. Der Autor kapituliert nicht vor den Herausforderungen, die eine solche dreifache Abhängigkeit mit sich bringen. Vielmehr führt er vor, wie ein selbstreflexiver Umgang mit diesen Einbettungen zu differenzierten Vorschlägen soziologischer Intervention in aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten führen kann.

Weischers dichte empirische Untersuchung der mehrdimensionalen Ungleichheitsstrukturen Deutschlands (Kapitel Soziale Lagen in der transformierten Industriegesellschaft, S. 538–674.) betrachtet die sozialen Verhältnisse der Bundesrepublik immer schon vor dem Hintergrund der zuvor untersuchten Ungleichheitsstrukturen im Deutschen Reich sowie in den beiden Nachkriegsgesellschaften (Bonner Republik und DDR). So erklärt sich auch der Ansatz, die Gegenwart geprägt zu sehen durch Umbrüche („Transformationen“) einer nach wie vor in sozialen Lagen und Erfahrungen spürbaren industriegesellschaftlichen Grundstruktur. Einkommens-, Vermögensverteilungen, geschlechtsspezifische Differenzierungen und Migrationserfahrungen werden auf der Grundlage umfangreicher Zeitreihen empirischer Sozialdaten für den Zeitraum 1985 bis 2015 differenziert analysiert. Weischer geht über die üblichen Parameter sozialwissenschaftlicher Ungleichheitsstudien (Armutsrisiken, Einkommens- und Vermögensverteilungen) hinaus und analysiert die bundesrepublikanische Gesellschaft als stabile Gesellschaftshierarchie mit vier durch Einkommens- und Vermögenslagen, aber auch durch Berufserfahrungen, Bildungsgrade und Konsummuster voneinander unterscheidbare „Lagegruppen“. Entgegen mancher Alarmrufe soziologischer Gegenwartsanalysen betont Weischer auf der Grundlage seiner sorgfältigen empirischen Untersuchungen die Stabilität dieser sozialen Großlagen bis in die Gegenwart. Die relative Stabilität dieser Ungleichheitsstruktur erklärt er nicht zuletzt anhand seiner Analyse von Lebensverläufen der Menschen in der heutigen Bundesrepublik sowie ihren gruppenspezifischen Erwerbs- und Reproduktionsstrategien. Hier erweist sich Weischers systematische Einbeziehung der familienhistorischen beziehungsweise -soziologischen sowie der Biografie- und Lebenslaufforschung als ausgesprochen hilfreich. Die Adaptionsleistung westdeutscher Haushalte in mittleren und unteren sozialen Lagen an die vielfach statusgefährdenden Umbrüche der letzten 40 Jahre ist im Lichte von Weischers differenzierten Analysen ein Schlüssel zum Verständnis dafür, wie ökonomische Krisen und soziale Statusgefährdungen abgefedert wurden. Lebensverläufe und -erfahrungen der großen Mehrheit in mittleren Einkommens- und Vermögensverhältnissen waren geprägt von „realistischen“ Berufszielen und großer Kontinuität im Berufsleben, immer mehr Frauen waren berufstätig und dies vermehrt in qualifizierten Tätigkeiten, aber vielfach in Teilzeit. Damit trugen sie in erheblichem Maße dazu bei, dass die Zahl derjenigen Haushalte, die mit einem Leben geprägt von Armut oder dauerhafter Prekarität konfrontiert waren, niedrig geblieben ist. Solche angesichts der vielfältigen Umbrüche der Jahrzehnte unerwartet undramatischen Biografien sind typisch für die westdeutsche Gesellschaft, an ihr partizipierten mehr als man zeitgenössisch erwartete und kommentierte, auch ein Großteil der Nachkommen von Migrant:innen. Erfahrungen biografischer Brüche, von Neubeginn und Verlust machten dagegen viele Menschen der früheren DDR, sie sahen sich nach 1990 – wenn auch in ganz unterschiedlichem Ausmaß mit starken Veränderungen ihrer beruflichen und sozialen Lage konfrontiert. Ähnliches gilt für einen Teil der Migrant:innen, vor allem wenn sie aus ländlich-agrarischen Lebensverhältnissen und traditional geprägten Herkunftsmilieus stammten.

Weischers Buch richtet sich an ganz unterschiedliche Leser:innen: Es kann als Einführung in die theoretischen Grundlagen der Sozialstrukturanalyse gegenwärtiger Gesellschaften dienen – und ist weit über den in den empirischen Verweisen immer wieder herangezogenen deutschen Fall von Interesse. Ihm sind viele studentische Leser:innen zu wünschen; es wäre ein wichtiges Gegengift gegen die Folgen kleinteiliger Spezialisierung im Zeichen innersoziologischer Teilfachprofilierungen. Zugleich bietet das Buch einem breiteren, historisch wie sozialwissenschaftlich interessierten Publikum eine fundierte Einführung in die Analyse moderner kapitalistischer Industriegesellschaften. Die meisten europäischen Länder sowie viele europäische Siedlerkolonien sind dem hier untersuchten Entwicklungspfad einer industriegesellschaftlichen Moderne gefolgt. Insofern erheben Weischers Überlegungen zu den theoretischen Modellen für eine erklärende Beschreibung der grundlegenden Prozesse sozialen Wandels derartiger Gesellschaften den Anspruch, auch jenseits der deutschen Grenzen mit Erfolg Anwendung zu finden. Damit nimmt der Autor so bescheiden wie selbstbewusst die Tradition einer historischen Soziologie moderner Industriegesellschaften wieder auf. Für einen Gesellschaftshistoriker Europas bieten Weischers Perspektiven vielfältige Anknüpfungspunkte, auch wenn er noch stärker, als der Autor dies aus soziologischer Perspektive tut, gegenüber Kohärenzannahmen auf der Makroebene misstrauisch geworden ist. Das hängt auch damit zusammen, dass die von Weischer in Anschlag gebrachten Klassiker der deutschen Gesellschaftsgeschichte viel stärker als er selbst modernisierungstheoretischen Großerzählungen verpflichtet blieben. Dass ihre empirischen Befunde aber auch heute noch valide Einsichten für die historischen Sozialwissenschaften bereithalten, erinnert uns daran, wie fruchtbar disziplinübergreifende Forschung ist.

Eine Strukturanalyse der deutschen Gesellschaft steht nicht erst heute vor dem Problem, einen nationalstaatlich verfassten Beobachtungsraum als Bestandteil grenzüberschreitender Prozesse konstruieren zu müssen. Auch Weischers Buch muss hier Kompromisse eingehen. Der theoretisch formulierten Aufmerksamkeit für grenzüberschreitende Produktionszusammenhänge, Migrationen und soziale Lagen können zwangsläufig in den empirischen Teilen deutlich weniger Konkretisierungen folgen; auch die theoretische Bereitschaft, die Sozialstrukturanalyse zu öffnen für die Abschätzung der Folgen, die sich innergesellschaftlich aus den Positionen des jeweiligen Nationalstaats auf internationalen Märkten oder in der politisch-militärischen Staatenkonkurrenz ergeben, kann in der konkreten Darstellung der empirischen Befunde kaum eingelöst werden. Hier ist die Sozialstrukturanalyse auf Vor- und Zuarbeiten der Politischen Ökonomie, der Wirtschafts- und Globalgeschichte angewiesen. Faktisch skizziert Weischer hier die Umrisse wichtiger künftiger Forschung.

Darin liegt denn auch das große Potenzial des Buches: Es ist ein Angebot, ja eine Herausforderung an Ökonom:innen, Historiker:innen und Soziolog:innen, die hierzulande nur noch selten gepflegte Zusammenarbeit wieder aufzunehmen, um Dynamik und Stabilität sozialer Ungleichheit gemeinsam zu untersuchen. Gerade die empirischen Ergebnisse zur transformierten Industriegesellschaft der gegenwärtigen Bundesrepublik könnten für Ökonom:innen und Zeithistoriker:innen wichtige Anregungen liefern, die Prämissen und empirischen Befunde ihrer eigenen Analysen sozialer Ungleichheit zu prüfen beziehungsweise zu differenzieren. Hier erweist sich die genuin soziologische Perspektive auf Ungleichheiten als fruchtbar und anregend.

Am Ende werden unvoreingenommene Leser:innen dieser drei Bücher in einem Band dankbar sein, eine solch differenzierte Analyse sozialer Ungleichheit unserer Gegenwart gelesen zu haben. Spezialisten werden Einzelheiten ergänzen oder korrigieren wollen; Historiker:innen und Ökonom:innen wird die Andersartigkeit des soziologischen Blicks mit ein wenig Neid erfüllen, aber alle werden die Gewissheit teilen, wichtige Einsichten in die Komplexität aktueller Ungleichheitsstrukturen vermittelt bekommen zu haben.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Arbeit / Industrie Bildung / Erziehung Gesellschaft Methoden / Forschung Soziale Ungleichheit Sozialgeschichte Staat / Nation

Lutz Raphael

Lutz Raphael ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Sonja Bastin

Feminismus meets Elternschaft

Rezension zu „Feministische Perspektiven auf Elternschaft“ von Lisa Yashodhara Haller und Alicia Schlender (Hg.)

Artikel lesen

Simon Schaupp

Kein Knecht sein

Rezension zu „Im Minus-Bereich. Reinigungskräfte und ihr Kampf um Würde“ von Jana Costas

Artikel lesen

Newsletter