Frank Nullmeier | Essay |

1968 – 2018

Zu einer politischen Soziologie des Zeitempfindens

„Unter dem Pflaster liegt der Strand“ war eine Parole der Situationistischen Internationale, des Mai 1968 in Frankreich sowie der Titel einer deutschsprachigen anarchistischen Kulturzeitschrift in den 1970er- und 1980er-Jahren. Er steht für ein Zeitempfinden des Aufbruchs, wie es für einen Teil derjenigen Bewegungen prägend war, die mit dem Kürzel „1968“ verbunden sind. Die folgenden Ausführungen verstehen sich nicht als historische Aufarbeitung oder als geschichtspolitischer Beitrag zum 50-jährigen Gedenken, sondern als Versuch einer politischen Soziologie des Zeitempfindens. Deshalb wird im Zentrum der folgenden Ausführungen eine Gegenüberstellung des Zeitempfindens „1968“ mit einem ebenso stilisierten Zeitempfinden linksliberaler bundesrepublikanischer Mittelschichten im Jahre 2018 stehen. Der Begriff „Zeitempfinden“ wird hier verwendet, um das Zusammentreffen von kognitiven, evaluativen und emotionalen Elementen in der politisch-sozialen Deutung ihrer zeitlichen Position durch Individuen, Gruppen, Organisationen und (Teil-)Öffentlichkeiten bezeichnen zu können und nicht mit dem philosophischen Terminus des Zeitbewusstseins oder psychologischen Kategorien des Zeitgefühls beziehungsweise der Zeitwahrnehmung verwechselt oder gleichgesetzt zu werden.

Zeitempfinden „1968“

Die Markierung „1968“ steht für einen Aufbruch, ein Erwachen und ein Sicherheben, ein ‚sich auf den Weg machen‘. Ein im Gegensatz zu den 1950er-Jahren gänzlich verändertes Zeitempfinden prägte wichtige Teile dieses Ereigniszusammenhangs.[1]

(1) Entscheidendes neues Argument für das Gefühl des Aufbruchs und das damit verbundene Zeitempfinden war, dass eine Realisierung auch von scheinbar utopischen Zukunftsvorstellungen nunmehr objektiv möglich galt. Die 1960er-Jahre und das damit einhergehende Ende materieller Knappheit in den westlichen Ländern zog auch das Ende der Utopieknappheit nach sich. Die technischen Entwicklungen, das wirtschaftliche Wachstum, der Wohlfahrtsgewinn – das alles hatte ein Niveau erreicht, dass es erlaubte, bisher als unmöglich Angesehenes, Wünsche, Utopien, Träume zu realisieren. Die bisherige Entwicklung hatte einen weiten Raum an Möglichkeiten eröffnet und war zugleich hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben. Möglichkeiten in Hülle und Fülle, überschießend, unerfüllt, unerprobt. Die Einengungen der späten 1940er- und 1950er-Jahre, die Mäßigung, Selbstdisziplinierung und Askese der Not und der Knappheit waren passé. Es war nicht nötig, sich weiterhin so zu beschränken. Und noch weitergehender: Der erreichte technologische Innovationsgrad und der wirtschaftliche Wohlstand ließen es zu, weit mehr zu erreichen als nur eine Lockerung der Disziplin und einen Übergang von der Askese zum Konsum im Sinne eines „Gönn Dir doch auch mal was!“. Es schien möglich, alles zu realisieren, was man sich nur erträumen und wünschen konnte, wenn doch erst einmal die Wunschblockaden, die Unfähigkeit, überhaupt nach seinen Wünschen zu handeln, überwunden wären. Das galt im Persönlichen, aber genauso im Gesellschaftlichen wie Politischen.

(2) Wünsche und Träume hatten einen gänzlich neuen Stellenwert. Statt sie einer zwanghaften Disziplin zu unterwerfen, galten Traum und Wunsch als sozial wie individuell befreiende Größen. Die vorhandenen Möglichkeiten waren durch das eigene Denken und Fühlen noch gar nicht eingeholt, die Menschheit hatte sich bisher nur in ein Korsett geschnürt. Die Selbstzurücknahme, die Verdrängung des Wünschbaren waren Verhaltensweisen, die allein auf schlechte Zeiten ausgerichtet waren. Diese aber waren vorbei. Träume und Wünsche, Utopien und Projekte schienen nun realisierbar, Träumen war keine Spinnerei mehr, sondern eine realistische und vielmehr auch notwendige Tätigkeit: Angesichts der realen Möglichkeiten sind Träumen und Wünschen gar erforderlich, um Selbstblockaden zu überwinden. Ohne Träumen können die vorhandenen Möglichkeiten gar nicht genutzt werden. Träumen war nicht nur erlaubt, es war geboten und galt als ein vernünftiger Akt angesichts der nicht ausgeschöpften Möglichkeiten, die nur durch Fantasie, Kreativität und Mut zu erschließen waren. Die Welt lässt es zu, dass man sich etwas wünscht. In den Worten David Millers: „The central contradiction of advanced capitalism was between the possibilities for real satisfaction that technology opened up, and the poverty of actual life under the imperatives of such an economy.“[2]

(3) Das dritte Element dieses neuen Zeitempfindens – neben der Explosion der Möglichkeiten und der neuen Berechtigung für das Wünschen und Träumen – war die Illegitimität der Nicht-Nutzung der neuen Möglichkeiten. Diese objektiv durch wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt gegebenen neuen Möglichkeiten nicht wahrzunehmen, nicht zu entfalten oder zu erkunden, war nicht nur eine Handlungsoption unter anderen, nein, es schien grundlegend unangemessen, ja zynisch, vervielfachte es doch die Ungerechtigkeiten und das Leid der Menschen. Es erschien mithin als eine Art Vergehen, nicht zu träumen, nicht zu wünschen und sich keine neuen Zukünfte auszumalen, zöge es doch eine Verlängerung des bisherigen, gemäß den objektiv gegebenen Möglichkeiten aber unnötigen Leidens der Welt nach sich. Jede Verweigerung der Möglichkeitsentfaltung machte sich mitschuldig an der Not und der Engstirnigkeit der Welt. Das Träumen war damit nicht nur realistisch geworden, es erschien zugleich als moralisch geboten, um die neuen Möglichkeiten zu erfassen und den schlechten Zustand der Welt nicht unnötigerweise aufrechtzuerhalten. Die These der neuen gegebenen Möglichkeiten findet sich exemplarisch und in vielfachen Formulierungen im Werk von Herbert Marcuse,[3] hier nur exemplarisch eine späte Äußerung aus einem Gespräch mit Jürgen Habermas: „Das Wort ‚Utopie‘ sollte unter Sozialisten nicht mehr gebraucht werden, weil das, was als utopisch ausgegeben wird, durchaus nicht utopisch ist. Ein Beispiel: die Abschaffung der Armut, des Elends. Heute ist der gesellschaftliche Reichtum so groß, dass bei einer vernünftigen und wirklich auf das Interesse aller gerichteten Organisation der Produktivkräfte die Überwindung der Armut in der Welt in wenigen Jahren möglich wäre.“[4]

Es gibt eine merkwürdige Parallele zwischen Herbert Marcuses Werk und der Soziologie Niklas Luhmanns: Beide entfalten den sozialen Raum als Möglichkeitsfülle. Bei Luhmann[5] ist im Begriff der Komplexität die Möglichkeits(über)fülle bloß theoretisch vorausgesetzt. Während Marcuse die Möglichkeiten konkret als Folge einer Überflussgesellschaft versteht und ihre Entfaltung den Produktivkräften sowie deren Fortschreiten zuordnet, wird bei Luhmann das Mögliche im Anschluss an die phänomenologische Philosophie konstruiert. Beide gehen aber von der Möglichkeitsfülle aus und nehmen sie zum Ausgangspunkt ihrer Analyse von sozialem wie politischem Geschehen. Marcuse zielt jedoch auf die reale Entfaltung der Möglichkeitsfülle, während Luhmann genau vom Gegenteil ausgeht, nämlich der ständigen Verringerung von Möglichkeiten zum Zwecke der Komplexitätsreduktion. Ihm gilt jeder Schritt als eine Vernichtung von Möglichkeiten, nicht wie bei Marcuse als ein Schritt zur ihrer Entfaltung.   

(4) Welche Folgen hatte diese Einheit aus neuen Möglichkeiten, Legitimität des Wünschens und Illegitimität der Möglichkeitsverweigerung? Sie entzog jedem Attentismus, jedem Aufschieben eines politischen Aufbruchs, sei es einer Reform oder gar einer Revolution, die Grundlage. Jedweder Verzicht auf unmittelbares Tätigwerden konnte nur als Prokrastination erscheinen, Gründe zu warten gab es nicht. Durch die neuen technologischen und ökonomischen Möglichkeiten waren die Gelegenheiten da. Auch auf eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte musste und durfte nicht gewartet werden. So beschwerte sich Herbert Marcuse: „So wird die Verwirklichung des Sozialismus ständig vertagt, verschoben.“[6] Aufgrund der vorhandenen Möglichkeiten und keinerlei objektiver Hindernisse schien es nur noch eine Angelegenheit des Wollens, die Möglichkeiten auch zu nutzen und sie zu ergreifen. Zeit zum Aufbruch.

(5) Dieses Sich-Öffnen gegenüber einem weiten Möglichkeitsraum, der ohne innere Strukturierung und Ordnung, ohne Vorbedingungen und institutionelle oder sonstige Hindernisse für alle zugänglich war, die nur den Mut zum Wünschen und Träumen hatten, die sich ihrer Fantasie bedienten und den Willen hatten, etwas zu erproben, etwas zu wagen, – das macht den grundlegend anarchischen Charakter des Zeitempfindens der späten 1960er-Jahre aus. Der Möglichkeitsraum war nicht herrschaftlich strukturiert, allein der Zugang zu ihm wurde durch ökonomische, politische und koloniale Herrschaft beschränkt. Die Herrschaft, die bestehende Ordnung war eine Möglichkeitsverweigerin, eine Möglichkeitsvernichterin, sie blockierte den Zugang zum Möglichen, behinderte dabei, das zu ergreifen, was doch als Möglichkeit gegeben war. Ist erst einmal ein Zugang zu den Möglichkeiten geschaffen, befindet man sich auf einem freien Feld, in dem alles von der Kooperationsbereitschaft abhängt. Institutionelle Zwänge entfallen. Das ist kein Anarchismus im Sinne einer politischen Strömung, etwa in den Bahnen eines individualistischen oder eines kollektivistischen Anarchismus.[7] Es ist die Annahme eines weder strukturierten noch herrschaftlich bestimmten, daher anarchischen Möglichkeitsraums, eine Befreiung vom Denkzwang eines immer schon strukturierten und geordneten Feldes, auf dessen Regelungen man sich nur einlassen und von dessen Institutionen man sich – in Gehlen‘scher Manier – nur konsumieren lassen kann. Dieses befreite Empfinden ist in einem basalen Sinne anarchisch – und eröffnet damit auch einen Zugang zu einem politischen oder theoretischen Anarchismus.[8]   

(6) Die neuen gegebenen Möglichkeiten kennen keine sich natürlich auf ein Ziel zustrebenden, sich selbst entfaltenden Potenzialitäten, ihnen liegt keine Gerichtetheit oder gar die Teleologie eines auf ein Ziel zusteuernden Prozesses zugrunde. Es sind reine Möglichkeiten, die genutzt werden können oder nicht, niemand als die gegenwärtig lebenden Menschen bestimmen darüber. In dieser Möglichkeitstheorie liegt weder eine geschichtsphilosophische Konstruktion, die die gesellschaftliche Entwicklung auf einen bestimmten Zustand zustreben lässt, noch bestimmen Bewegungsgesetze die am Ende erreichbaren Resultate. Nur: Unter den vielen Möglichkeiten des Möglichkeitsraumes ist auch diejenige der Realisierung einer sozialistisch-kommunistisch-anarchischen Utopie gegeben, die einer ganz anderen Gesellschaft, die einen grundlegenden Bruch mit der Enge der gegenwärtigen Zeit darstellt. Der Möglichkeitsraum enthält auch die Option für das, was vorher als Utopie erschienen war. Weil es an Gerichtetheit oder Teleologie mangelte, kam es letztlich auf den Einzelnen und seinen Zusammenschluss mit anderen an. Die Zukunft erschien gestaltbar – durch den eigenen Willen und den Willen zur Gemeinsamkeit. Die Möglichkeiten waren da, die Türen standen offen. „Niemand sagt, dass Du durchgehen musst und dass dann alles im Paradies mündet, aber Du kannst die Möglichkeit ergreifen, die Dir geboten wird. Probiere es zumindest aus.“ – so der Grundsatz dieser Zeitdenkweise. Man mag das durchaus Voluntarismus nennen, mussten doch zur Verwirklichung der Möglichkeiten keinerlei Voraussetzungen jenseits des Willens, der Fantasie und des Mutes erfüllt sein.   

(7) Die aus einem solchen Zeitempfinden resultierende empirische Grunderfahrung war allerdings die der Nicht-Offenheit der Welt. Denn das Ergreifen der Möglichkeiten gestaltete sich schließlich weitaus schwieriger als erwartet. Entsprechend blieb der Aufbruch stecken. Es ging nicht voran. Überall waren Hindernisse, Zugangsbarrieren, Widerstände. Auch wenn sich individuelle Wünsche und Fantasien verwirklichen ließen, aus dem Aufbruch wurde kein Umbruch. Jeder musste sich seinen Weg bahnen, seine Zugangschance zu einem kleinen Bereich der Möglichkeiten ergreifen – mit erheblichen Kosten, Nachteilen, Frustrationen, verlorenen Kämpfen, enttäuschten Wünschen und gescheiterten Realisierungen. Unter dem Pflaster war oft hartes Gestein. Möglichkeiten waren nicht einfach zu entfalten oder zu erdenken, zu ergreifen oder umzusetzen, sie waren mit Bedingungen, Voraussetzungen, Aufwänden verbunden. Zwar war in der Tat alles Mögliche möglich, weit mehr als das in der Enge der sozialen Welt der frühen 1960er-Jahre Denkbare, weit mehr als die tradierten Herrschaftsformen in Staat, Gesellschaft und Ökonomie zuzulassen schienen. Es erfolgte durchaus ein Aufbruch mit Wirkung, viele Gewissheiten und institutionelle Verfasstheiten konnten tatsächlich infrage gestellt werden. Die Starre löste sich, vieles wurde gerade durch diesen Aufbruch verändert. Die Realisierung konkreter Utopien jedoch gelang nur im Kleinen, der institutionelle Weg zum Umbau der Gesellschaft endete in Gremienkämpfen und die – objektiv immer noch mögliche – Befriedung der Welt, die Beseitigung von Armut, Hunger und Beherrschung erfolgte gerade nicht. Dass Herrschaftsstrukturen sich nicht einfach abschaffen lassen, nur weil die Schaffung einer besseren Welt möglich ist, konnte noch erwartet werden. Dass sie sich jedoch in diesem Maße wehren würden, war in den Aufbruchskonzeptionen und in den Köpfen ihrer Verfechter*innen nicht vorgesehen. Das mag zunächst nur als das Scheitern eines großangelegten, erwartungsvollen Aufbruchs erscheinen, als eine typische Enttäuschungserfahrung.

(8) Eine Paradoxie des Aufbruchs wird daraus, wenn sich Hoffnung wie Enttäuschung auf eine logisch in sich widerspruchsvolle Konstruktion stützen. Und genau das ist bei „1968“ der Fall: Zur Paradoxie wird die Zeitempfindung der gegebenen Möglichkeiten, weil sie von Beginn an unter einem logischen Widerspruch leidet, der sich notwendig entfalten muss, wenn der Aufbruch gewagt wird. Die Paradoxie des beschriebenen Aufbruchs ergibt sich aus eher trivialen Gründen. Sie entsteht nicht dadurch, dass der Zugang zu Möglichkeiten verwehrt wird, sondern dadurch, dass man sich durch das Ergreifen und Schaffen von Möglichkeiten selbst weiterer Möglichkeiten beraubt. Schließlich ist jede einzelne Handlung oder Entscheidung zugleich ein Verzicht auf alternative Optionen. Wann immer ich etwas tue, habe ich mich nicht für diese eine Option entschieden – sondern gleichzeitig auf unendlich viele andere verzichtet. Durch die bloße Existenz der Zeit wohnt allen Entscheidungen ein Moment des Begrenzten inne. Zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Wahl zu treffen, heißt eine konkrete Möglichkeit zu ergreifen – und aktuell alle anderen Optionen zu vernichten. Zudem ist der Möglichkeitsraum nicht unstrukturiert, die einzelnen Möglichkeiten sind mindestens zeitlich miteinander verbunden. Ketten von Möglichkeiten entstehen. Eine gewählte Möglichkeit verhindert nicht nur das Ergreifen vieler anderer Möglichkeiten in der Zukunft, es schließt diese ebenso aus und legt Pfadabhängigkeiten für zukünftige Möglichkeiten fest. An die Stelle der aktivistischen und gestalterischen Perspektive der gegebenen Möglichkeiten wird die eine jeweils gewählte Option eher negativ und im Lichte der verpassten, durch die getroffene Wahl verhinderten anderen Möglichkeiten betrachtet. Durch eine solche Perspektive ist nichts das, was es ist, sondern immer nur das, was es im Verhältnis zu anderen nicht ergriffenen Möglichkeiten zu sein scheint. Die durch eigenes Handeln ausgeschlossenen Möglichkeiten begleiten als Imaginationen das aktuell gewählte Handeln. Alles hätte auch immer anders sein können, man hätte sich immer auch ganz anders entscheiden können. Folglich unterschreiten alle getroffenen Entscheidungen den Möglichkeitsraum dessen, was hätte getan werden können. Sie sind per se defizitär. Das Gewählte ist nachträglich potenziell immer das Falsche oder zu wenig. Jede Erfüllung eines Wunsches heißt dann nichts Anderes als die Nicht-Realisierung vieler anderer Wunschoptionen.

Aus dieser Konstellation erwächst der Wunsch, sich immer alle Optionen offenhalten zu können. Die Irrealität eines solchen „Alles Zugleich“ flüchtet sich in die Zeitkontingenz: Zumindest morgen noch ist alles zugleich möglich, auch wenn heute eine einzelne Wahlentscheidung getroffen werden musste. Die Möglichkeitsverkettungen in der Zeit, die Pfadabhängigkeit des eigenen Tuns muss dabei radikal geleugnet werden. Aber es hilft, denn auf diese Weise kann jedes Handeln als bloß vorläufige und daher letztlich folgenlose Wahl angesehen werden, als eine bloß aktuelle Festlegung in einem Universum jederzeit ergreifbarer Möglichkeiten. Damit ist subjektiv durchaus Zeit gewonnen, bis das definitive Festgelegtsein und die Vernichtung von Möglichkeiten durch das bloße Verstreichen von Zeit unübersehbar werden. Die Möglichkeitsfülle, die im Aufbruchsempfinden der 1960er-Jahre als Befreiung zum Handeln erlebt werden konnte, schlägt um in eine ständige Belastung durch all das Andere, das auch hätte getan werden können. Jedes Handeln kann dann nur noch als klein, unbedeutend und letztlich immer verfehlt angesehen werden. Die Aufbruchsempfindung verliert sich an eine depressiv stimmende ständige Defizitanzeige.

(9) Untergründig, aber in veränderter Form, leben jedoch Momente des Anarchischen in der Erfahrung des Nicht-Offenen und der Paradoxien der Möglichkeitsoffenheit fort. Nennen wir es die Vorstellung einer schwach teleologischen Anarchie des Diskursiven. Letztere finde sich in einer weniger beachteten Argumentationslogik der für die 1970er- bis frühen 2000er-Jahre besonders bedeutenden politischen Theorie von Jürgen Habermas[9]: Für Habermas ist der öffentliche Diskurs zwar selbst eine Institution und Prozedur, eine höherstufige Form institutionalisierter Intersubjektivität. Innerhalb der Institution Diskurs ist aber alles ungeregelt, ein bloßer Austausch von Argumenten findet statt, es scheint keine Mikroinstitutionen geben zu müssen, keine die Einhaltung der Diskursprinzipien kontrollierenden Instanzen. Intern ist der Diskurs institutionenfrei. Diskurs ist in sich eine kooperative Anarchie. Im Vertrauen auf die Kraft des Argumentes, das sich, wenn es denn frei entfaltet werden kann, auch gegenüber weniger treffenden Argumenten durchsetzt, liegt das Vertrauen in einen institutionell unstrukturierten Argumentationsraum. Jedes Argument hat gleichen Zugang, gleiche Rechte, gleiche Chancen, kann gleichermaßen gehört, angenommen oder verworfen werden. Weder Vorsortierung noch herrschaftliche Instanzen stehen darüber. Der Diskurs, wie er von Jürgen Habermas entworfen wird, ist einem polypolistischen, idealen Markt der neoklassischen Ökonomie strukturell nicht unähnlich – allerdings mit dem Unterschied, dass hier Argumente und deren Qualität und nicht Mengen und Preise entscheiden. Er ist so konstruiert, dass ihm das fehlt, was nunmehr in der neueren Wirtschaftssoziologie für den Markt nachholend geltend gemacht wird, nämlich die detaillierte Betrachtung dessen, was die elementare Interaktion, hier der Markttausch, im Einzelnen überhaupt ermöglicht. Es gibt bisher noch keine analoge Mikros-Soziologie des Diskurses, es gibt keine Analyse der Normen und Bewertungen, Erwartungen und Mikroinstitutionen, die den öffentlichen Diskurs ausmachen. Wirksam geworden ist die Idee des Diskurses aber gerade durch das Fehlen einer solchen mikrosoziologischen Untersuchung seiner Funktionsweise. Die Faszinationskraft des offenen Möglichkeitsraumes hat sich in die Diskursvorstellung übertragen und so politisch-intellektuelle Bedeutung erlangt. Schwach teleologisch ist dieser moderate Anarchismus des Diskurses deshalb, weil diese Form einer ungebundenen Kommunikation die Möglichkeit verbürgen soll, dass höhere Stufen der Moral- und Politikentwicklung erreicht werden.[10] Der Diskurs verweist auf die kooperative Kraft einer argumentationsinternen anarchischen Konstellation. Die auf Argumentation zentrierte und eingeschränkte kommunikative Anarchie kann durch ihre zwanglose Kooperationskraft Potenziale freisetzen, die dann andere, nicht auf Argumentation eingeengte Bereiche gesellschaftlichen Handelns im Sinne der besten Argumente programmieren. Die an ihrer Paradoxie scheiternde anarchische Vorstellung des Möglichkeitsraumes und der Zukunft war damit nicht gänzlich verschwunden, sie lebte in der Idee kommunikativer Argumentationskooperation fort.       

Zwischenbemerkung

Nun ist diese Phänomenologie eines Zeitempfindens weder eine exakte Darstellung dessen, was „1968“ geschehen ist, noch vermag die Analytik der Paradoxie eines Aufbruchs die historische Entwicklung nach „1968“ zu erklären. Fast jede Analyse der Ereignisse von 1968 scheint daran zu scheitern, mittels einer bestimmten Charakteristik ein Gesamtbild von „1968“ zeichnen zu wollen. Es ist jedoch schlicht nicht sinnvoll, Subversive Aktion, SDS, Hippies, die K-Gruppen und die Anfänge des Linksterrorismus – Von welchem Zeitraum spricht man da eigentlich? – auf einen Nenner bringen zu wollen. Auch nicht in dem hier skizzierten Zeitempfinden. Eine Rechtfertigung kann diese Skizze nur darin haben, dass sie sich auf eine, zudem durchaus prominente Denkströmung in den Bewegungen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre beziehen kann. Dass sich bereits am Ende des Jahres 1968 Tendenzen verfestigten, marxistische Theoreme zur Grundlage politischer Organisierung zu wählen, die Zeitlichkeitseinstellungen mit sich brachten, die dem hier vorgestellten Zeitempfinden radikal entgegenstehen, weil sie mit Bewegungsgesetzen und Bedingungen einer revolutionären Situation hantierten (und damit auch wieder Attentismus als zeitliche Handlungsform einführten) oder auf einen Reformevolutionismus des permanenten Teilaufbruchs setzten, ist mit paradoxen Effekten des vorgestellten Zeitempfindens kaum zu erklären: Sicher ist die Offenheit des Theorems der gegebenen Möglichkeiten so groß, die basale anarchische Struktur so dominant, dass das Verlangen nach Haltelinien, konkreten Handlungsanweisungen oder Hinweisen auf eine wenigstens wahrscheinliche Zukunft übermächtig geworden sein könnte. Doch das erklärt nicht die Vielzahl der gewählten Zeitmodelle in der Nach-68er-Zeit, nicht die einzelnen gewählten Formen alternativer Zeiteinstellungen und auch nicht die Radikalität der Abweichung vom hier skizzierten Zeitempfinden. Die Verkettungen und Verirrungen der Realgeschichte der „1968er“ und „Post-1968er“ lässt sich auf diesem Wege nicht klären.      

Zeitempfinden 2018

50 Jahre später ist von „Aufbruch“ sicherlich nicht die Rede. Das gilt wieder mit der Einschränkung, dass nur die Phänomenologie eines auf der linken Seite des politischen Spektrums angesiedelten Zeitempfindens entworfen werden kann. Aber der Unterschied ist deutlich.

(1) Ein offener Raum an Möglichkeiten? – Nein, so stellt sich heute die Zukunft nicht dar. Zwar wird Zukunft durchaus als Welt voller Möglichkeiten verstanden, Vieles kann passieren oder auch nicht, doch dieser Raum ist strukturiert und bewertet. Zukunft ist nicht mehr die Möglichkeitsfülle, es ist ein Raum von Gefährdungen – und vielleicht im geringeren Umfang – auch von Chancen, aber offen ist er nicht. Vieles ist bereits erprobt worden, die Möglichkeitsemphase der 1968er hat viele Wege erkunden lassen, viele Irrwege und Nicht-Möglichkeiten sind bekannt, ob durch Blockaden, Paradoxien des Wünschens oder durch letztlich fehlenden Willen bedingt. Heute ist das, was in einem Aufbruch angestrebt werden könnte, meist schon ausprobiert, erprobt, geübt, tausend- und millionenfach versucht, gescheitert oder geglückt, jedoch immer in eine Art von Normalleben zurückgeführt. Jeder dieser Aufbrüche war ein Aufbruch in eine neue Normalität, die sicher anders als die Vor-Aufbruchs-Normalität, aber doch immer nur eine Normalität war. Wirklich offene, rundherum bejahend erfahrene Möglichkeiten scheiden damit aus. Gleichzeitig treten nicht vermutete, negative Möglichkeiten hinzu. Die Kategorie der Möglichkeit per se ist nicht mehr positiv zu bewerten, jede Möglichkeit kann auch eine zum Schlechteren sein.

Die Ambivalenz jeder Erweiterung von Möglichkeiten zeigt sich am Beispiel der allseits diskutierten Digitalisierung: Die faszinierenden Möglichkeiten einer autonom automatisierten Welt der Produktion und des Konsums trifft mit den Ängsten vor einer allumfassenden Überwachung und Manipulation, vor dem Verlust von Arbeitsmöglichkeiten und Einkommen sowie der Unterwerfung unter die Herrschaft von Algorithmen, Robotern, Silicon-Valley-Firmen und Geheimdiensten zusammen. Mehr als bestenfalls eine ambivalente Haltung ist hier nicht zu erwarten.   

(2) Realismus regiert heute auf nahezu allen Feldern. Und er wird als Einstellung nicht nur bevorzugt, er wird von anderen eingefordert, zunehmend auch von jenen, die für globale Kooperation eintreten und bereits in Anbetracht des bloßen Ausmaßes einer solchen Aufgabe als Vertreter*innen von Moralismus und Idealismus gelten. Es geht diesem neuen Realismus darum, alle aufzufordern, die machtbestimmten Realitäten zu erkennen, anzuerkennen und sich in ihnen zu positionieren. Angesichts der Unsicherheiten in vielen wirtschaftlichen und politischen Feldern wird die Verteidigung des je Erreichten und des je Eigenen zur Maßgabe eines zwar auf die Zukunft gerichteten, aber an der oft verklärten Vergangenheit orientierten Handelns. Möglichkeiten an sich werden unattraktiv, da sie immer auch Gefährdungen darstellen oder zumindest darstellen können. Ein Verharren im Status quo (ante) ist in vielerlei Hinsicht die präferierte Option. Mit einem nüchternen bis dramatisierenden Gegenwarts- und Zukunftsrealismus verbindet sich oft eine Idealisierung der Vergangenheit. An die Stelle von Zukunftsträumen rückt der Traum von alten Zeiten, von den Wachstums- und Aufbruchszeiten der 1950er- bis 1970er-Jahre. Man kann hier durchaus von Verklärung sprechen, wie sie auch in wissenschaftlichen Diagnosen betrieben wird, man denke etwa an Mark Lillas The Once and Future Liberal, Colin Crouchs Postdemocracy, Oliver Nachtweys Die Abstiegsgesellschaft, einige Beiträge in Heinrich Geiselbergers Essaysammlung Die große Regression oder in Sozialstaatstheorien, die von einem sozialpolitisch „Goldenen Zeitalter“ sprechen. Eine Glorifizierung der Vergangenheit liegt vor, weil Tatbestände wie der Kalte Krieg mit der ständigen Möglichkeit des Atomkrieges, des Wiederaufbaus einer kapitalistischen Marktwirtschaft, des Fortbestands alter Eliten inklusive gesellschaftlicher Normenstarre und weiterhin bestehender beziehungsweise (gegenüber den 1920er-Jahren) gar gesteigerter Festigung tradierter Geschlechterverhältnisse und gleichzeitiger Unterdrückung aller anderen denn heterosexuellen sexuellen Orientierungen in das Lob der Vergangenheit eingeschlossen werden müssten, wenn sich der Realismus auch auf die Vergangenheit beziehen würde. Die Verklärung gelingt vielleicht dadurch, dass das „Wirtschaftswunder“ im Gefolge einer durch Bretton Woods geregelten internationalen Ökonomie mit den Errungenschaften der „1968er“ und der Reformperiode der frühen 1970er-Jahre zu einer zeitlichen Einheit zusammengedacht werden. Aber auch dann sind Kolonialismus und postkolonialer Imperialismus, die politische Bipolarität mit fundamentalen Abhängigkeiten von den USA und der UdSSR sowie einem hohen Anteil an Autokratien und Armut in den Entwicklungsländern Belege dafür, dass in der Vergangenheitsbejahung nur eine hochgradig eurozentrische Sicht zum Zuge kommt.

(3) Im Zeitempfinden von „1968“ erschien Ungerechtigkeit als ‚unnötig‘ – eine Denkfigur, die heute nicht mehr greift. Sie gilt heute nicht mehr als Argument, weil die Überzeugung vorherrscht, dass die Tragkraft der Natur für eine volle Entfaltung des Wohlstandes aller Menschen auf der Erde nicht ausreichend ist. Die frühere materielle Knappheit, mag sie auch ökonomisch aufgehoben sein oder in vermindertem Maße bestehen, wurde durch ökologische Knappheit ersetzt. Die von Marcuse und anderen angesprochene Reduktion der notwendigen Arbeit erscheint zudem nicht als erstrebenswert. Die Identifikation mit der Arbeit und der eigenen Tätigkeit hat (gerade oder auch nur) in den Mittelschichten (einschließlich der Industriearbeiterschaft) ein extrem hohes Maß erreicht, jede Automatisierung erscheint daher als potenzielle Bedrohung, selbst das bedingungslose Grundeinkommen ist kein basaler Schritt in eine arbeitsreduzierte Welt, sondern nur eine Entschädigungsleistung für die Situation fehlender Arbeitsplätze.[11] Selbst wenn die ökonomischen Möglichkeiten ähnlich oder gar besser als die von 1968 eingeschätzt werden sollten, wird das nicht als Verheißung begriffen, sondern als potenzielles Übel. Die Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer geringen Arbeitslosigkeit wird als angenehmer eingestuft als die Aussicht auf weniger Arbeit in einer voll digitalisierten Welt des Überflusses.

Überhaupt ‚Überfluss‘. Diese Kategorie war in den 1960er-Jahren allgegenwärtig, heute ist sie beinahe verschwunden, obwohl ohne Zweifel der ökonomische Output heute weit höher ist und sich sogar auf weit größere Teile der Menschheit erstreckt als damals. Der ökonomische Output erscheint nicht als quantitativer Überfluss, er wird qualitativer, differenzierter betrachtet. Welche Güter in welcher Weise und mit welchen Materialien produziert werden, ob Kinderarbeit, Ausbeutung von Mensch und Natur sowie Energie- und Ressourcenverschwendung bei welchem Schadstoffausstoß mit diesem Produkt einhergehen, ist entscheidend und gibt Anlass zu höchst detaillierter Kritik, nicht etwa am Konsum und der Konsumgesellschaft an sich, sondern an spezifischen Produkten, Produktionsweisen und Naturverhältnissen. Angesichts solch komplizierter Sachlagen ist eine Illegitimität des Nicht-Ergreifens von Möglichkeiten nicht begründbar. Es stellt sich eher die Frage, welche ‚Möglichkeiten‘ sich als ‚Zwänge‘ durchsetzen, denen man sich fügen muss. Das führt generell zu eher defensivem Verhalten gegenüber allen vom Status quo abweichenden Möglichkeiten – und im Falle sich schnell durchsetzender Innovationen zu einer Anpassung an diese als Quasi-Schicksal.    

(4) Eine solche Neigung zur Defensive, zum Verteidigen, zu einer generell vorsichtigen Abwehrhaltung und im Falle nicht erfolgreicher Abwehr zur Anpassung, lässt in der Tat keinen Aufbruch zu, sondern ist eher durch die präventive Vermeidung von Aufbrüchen bestimmt. Ein Attentismus besonderer Art steht im Raum, wenn die Gefährdungen betrachtet werden. Wann ist mit einer wirklich engagierten Abwehr von Bedrohungen (etwa des Rechtspopulismus, eines Niedergangs der Demokratie, einer Zerstörung der EU) zu beginnen? Wann kann man noch abwarten, wann ist es angemessen zu zögern, wann muss wirklich agiert werden? Wann ist die Schwelle erreicht, ab der mehr verlangt ist als ein meinungsmäßiges Dagegensein. Neigt man vielleicht zur Dramatisierung, sieht die Zukunft zu schwarz und überreagiert, wenn man bereits jetzt etwas tun würde? So bestimmt die Frage, wann eigenes Handeln tatsächlich erforderlich ist, wann mit einem unmittelbar bevorstehenden Bruch in der Kontinuität normalen demokratischen Lebens zu rechnen ist, die Debatten jener, die die Gefährdungen von Demokratie und der Freiheit für gravierend halten. All das lässt im Zwischenzustand einer großen Besorgnis verharren.

(5) Die Gegenwart wird zunehmend als ‚anarchisch‘ erlebt, aber in dem Alltagssprachgebrauch einer ungeordneten, aus dem Lot geratenen, chaotischen Zeit. Darin liegt ein fundamentaler Gegensatz zu jedem politischen Anarchismus. Das im Sinne einer gesellschaftlichen Ordnungs- und Kooperationsform anarchische Moment[12] verliert sich heute. Kaum jemand glaubt an die Kraft der Selbstkoordinierung als Weg zur Ergreifung von gänzlich neuen Möglichkeiten. Die Machtdurchsetzungspotenziale herrschaftlicher Akteure sind in einem realistischen Weltbild entscheidend. Es ist nur die Frage, welche Herrschaftsinstanz, welche ökonomische Macht sich durchsetzen kann. Sind es die Silicon-Valley-Firmen oder einzelne Nationalstaaten? Wird China die neue einzige Weltmacht? Zerfällt die Welt in viele kleine Kämpfe ohne Hegemon, der sie befrieden könnte, und auch ohne Willen zur internationalen Kooperation? Eine Gruppe innerhalb dieser Elite von durchsetzungsfähigen Akteuren aus Ökonomie, Politik und Sicherheitsapparaten setzt allerdings auf anarchistische Denkfiguren: Wo Digitalisierung als disruptive Kraft gefördert wird, gilt Staatlichkeit als letztlich überflüssig. Bei den Vertretern eines digitalen technisch-ökonomischen Fortschrittes findet sich individualanarchistisches und radikal-libertäres Gedankengut, wohl wissend, dass die Digitalkonzerne sich zu Monopolen fortentwickeln.

(6) Wenn der technische Fortschritt mindestens ambivalent bewertet wird, sich also die Faszination für ganz neue Formen des Arbeitens, Konsumierens, Mobilseins auf der einen und die Gefährdung von Privatheit, Erwerbstätigkeit und des gewohnten Lebens auf der anderen Seite gegenüberstehen, zugleich aber in der Sphäre des Politischen tradierte Kooperationsformen und Politikmodelle zerfallen, dann ist eine positiv gerichtete Konstruktion des Zusammenhangs von Vergangenheit und Zukunft nicht mehr möglich. Versuche, den Fortschrittsbegriff in seiner alten Fassung, bei der ein technisch-wissenschaftlicher Wandel als Folgewirkung auch ökonomischen, sozialen und demokratischen Fortschritt mit sich brachte, wieder zu beleben, sind auch dann, wenn sie sich der Formel eines „neuen Fortschrittes“ bedienen, weithin aussichtslos.[13] Dennoch vollzieht sich eine Renaissance des Fortschrittsbegriffs als Folgewirkung aus der Diagnose sozialen und politischen Rückschrittes. Weil Regression stattfindet oder erwartet werden muss,[14] kann auf eine Skizzierung des positiven Pendants, des Fortschrittes, nicht verzichtet werden. Doch die neue Verteidigung des Fortschrittes ist ein rein normatives Unternehmen, völlig losgelöst von einer Verankerung des Fortschrittes in der realen Welt. Fortschritt ist nur eine normative Größe, ein Bündel von Kriterien, Maßstäben, Werten, eine Zusammenführung von Begriffen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Anerkennung, Solidarität, Universalismus, Nachhaltigkeit und Inklusion. Diese Zusammenstellung von Werten sowie die Bewertung eines Zustandes als gut, gemessen an diesem Maßstab, heißt jetzt schon Fortschritt. Es ist ein Fortschritt ohne Hinweis darauf, was dazu berechtigen könnte, eine gesellschaftliche Entwicklung in Richtung dieses Wertebündels erwarten zu dürfen. Die Verankerung von Fortschritt in der Welt, die Vorstellung, dass es reale und benennbare Kräfte geben müsse, die diese Werte hervorbringen und zur institutionellen Wirklichkeit werden lassen, entfällt. Ob ich links oder Fortschritt sage beziehungsweise rechts und Regression ist dann nur noch Ausdruck einer Richtungsentscheidung in grundlegenden normativen Fragen. Fortschritt als Konstruktion, bei der die Entwicklung der Welt sich auf einen normativ präferierten Zustand wirklich hinbewegt, ist nicht mehr vorhanden. Herbert Marcuse hatte in seinem Möglichkeitsraum den Bezug zu gesellschaftlichen Kräften der Bewegung in Richtung Fortschritt schon entscheidend gelockert, die technisch-ökonomische Entwicklung war aber die Triebkraft für eine offene Zukunft, die auch den normativ präferierten Zustand umfasste. Nunmehr sind keine Beweger der Welt in Richtung Fortschritt mehr gesichert – und auch der Möglichkeitsraum erscheint nicht offen. Es bleibt nur das bloße normative Bestehen auf einem Bündel an Werten – im Zweifel gegen die Welt. Ein linkshegelianisches Fortschrittsverständnis ist kaum mehr zu verteidigen.[15]

(7) Die wesentliche mit diesem Zeitempfinden verbundene Erfahrung ist die eines Verlustes kultureller Hegemonie. Dass die normativen Überzeugungen auf einmal ohne Rückendeckung durch die geschichtliche Entwicklung dastehen, dass die zur Selbstverständlichkeit gewordene Dominanz dieser Werte als politische Leitlinie – wie immer halbherzig umgesetzt – als Lebensweise und als identitätsverbürgendes Selbstverständnis mindestens gefährdet ist, wird als ernste Erschütterung erlebt. Es heißt, sich neu zu orientieren, sich mit dieser neuen unsicheren Lage vertraut zu machen und – angesichts fehlender sonstiger Rückendeckung – über die eigene Rolle (als wesentlich akademisch mittelschichtsgetragene politische Richtung) nachzudenken. Man müsste eine Theorie[16] haben, in der man selbst vorkommt, um wieder eine Verankerung seiner Überzeugungen in der Welt zu erhalten, die man dann aber zugleich auch einlösen müsste.

(8) Die Paradoxie dieses stilisierten Zeitempfindens „2018“ nimmt ihren Ausgang bei der Überzeugung, die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Richtung Kosmopolitismus, Aufklärung und Liberalität sei Ausdruck eines weltweiten Lernprozesses, von guten Argumenten, sie entspreche der Rolle der Wissenschaft und der in ihr verankerten Diskursivität, sie sei zudem die angemessene Reaktion auf die wirtschaftliche Globalisierung. Nun muss man aber einsehen, dass diese Entwicklung ein Effekt des gesellschaftlichen Aufstiegs und der Machtdurchsetzung einer gesellschaftlichen Gruppe, zu der man selbst gehört, war und ist. Die Paradoxie besteht dann darin, dass man selbst nur Ausdruck eines gesellschaftlichen Prozesses hin zu höherer Rationalität sein will und nur darin seine Identität finden kann. Dass diese Rationalität auf den eigenen Willen, die eigene Partikularität zurückgeht und somit ein Machteffekt ist, verstört, steht dem doch der Anspruch auf eine universelle Rationalität diametral entgegen.

(9) Im heutigen Zeitempfinden ist für den zwanglosen Zwang des besseren Arguments im Rahmen einer diskursiv-anarchisch verfassten öffentlichen Kommunikation kaum mehr ein Halt. Das Bild der politischen Öffentlichkeit wird bestimmt von strategischer Interaktion, als reinem Machtkampf, dem selbst offensichtliche Wahrheiten und Tatsachen nichts mehr wert sind. Die selbstkoordinierende Kraft der diskursiven Kommunikation erscheint nur noch als naiver Wissenschaftler*innenglauben, der angesichts von FakeNews, Social Bots und Hate Speech in sozialen Medien – aber nicht nur dort – weder als Überzeugung noch gar als Handlungsansatz mehr hinreichend Kraft besitzt. Die Restbestände anarchischen Denkens werden damit fortgespült, was durchaus mit einem Wiederaufleben eines politischen Anarchismus im Kleinen einhergehen mag, der sich zu ausgefeilten Formen eines diskursiven und hochkooperativen Entscheidungsverhaltens ohne interne Hierarchisierung bekennt, aber gerade in der Erfindung von diskursiven Mikroinstitutionen sehr engagiert ist.[17] Aber das sind periphere Entwicklungen. Eine andere Sicht gewinnt breit an Plausibilität: Rationalität muss sich in einen strategischen Kampf um die Bewahrung der Möglichkeit von Rationalität hineinbegeben und wird dadurch selbst zu einer ‚Kampfpartei‘ – wo doch eigentlich sie es sein sollte, die auf einer Meta-Ebene das Terrain erst definiert.        

Aufbruch und Abwehr – Jahresende 2018

2018 war das Jahr, in dem aus vielerlei Gefährdungen eine große und tiefe Besorgnis um Wahrheit, Liberalität und Demokratie erwachsen ist. Die für selbstverständlich erachteten Werte und Einrichtungen zu sichern, zu stützen und zu verteidigen, bestimmt heute ein Zeitempfinden, das die Zukunft als Bedrohung, die Gegenwart als Konfliktfeld und die Vergangenheit als positive Orientierungsgröße versteht. Verteidigung und Unterstützung der liberalen und demokratischen Institutionen rücken in den Vordergrund, damit es nicht schlimmer wird. Abwehr statt Aufbruch. Ob dieser eher eine depressive Veranstaltung dauernder Klage wird oder eine aktive Bewegung, ist nicht entschieden. Eine breite defensive Mobilisierung gibt es jedenfalls noch nicht. Und schaut man auf andere Proteste, etwa die der Gelbwesten in Frankreich, der Mouvement des Gilets jaunes, dann ist das sicherlich ein ganz anders gearteter Aufbruch, nicht einer der Trägerschichten von „1968“. Wenn heute Aufbruch vorhanden ist, dann anderswo und er wird von anderen getragen. Aber Aufbruch an sich ist schließlich kein Wert.

  1. Die folgenden Ausführungen bilden Interpretationen, die sich insbesondere der Lektüre von Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014; und Alexander Sedlmaier, Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin 2018 (unter Heranziehung von Joachim Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017) verdanken. Nur, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Der Autor kennt die Geschehnisse und Zeitempfindungen nicht aus eigener Erfahrung.
  2. David Miller, Anarchism, London/Melbourne 1984, S. 143
  3. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied/Berlin 1967 [1964]; ders., Versuch über die Befreiung, Frankfurt am Main 1969; ders., Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973.
  4. Jürgen Habermas / Silvia Bovenschen u. a., Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1978, S. 98.
  5. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984.
  6. Habermas/Bovenschen u. a., Gespräche mit Herbert Marcuse, S. 94.
  7. Daniel Loick, Anarchismus zur Einführung, Hamburg 2017.
  8. Dass die Neue Linke und die Studentenbewegung von anarchistischen Ideen beeinflusst war – und das nachdem der organisierte Anarchismus seit seiner Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg als politische Kraft weitgehend verschwunden war und allein intellektuelle Restbestände in kleinen Gruppen tradiert wurden – kann als gesichert gelten (Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, Berlin 2014). Es sind insbesondere die über die Situationistische Internationale, SPUR und Subversive Aktion in die Studentenbewegung einfließenden Impulse, besonders in Deutschland (Kunzelmann, Teufel, Dutschke) und in Frankreich (Debord, Cohn-Bendit), die als anarchistisch gelten können (Miller, Anarchism, London/Melbourne 1984; Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, Berlin 2014). Es ist aber eher ein aus den künstlerischen Avantgarden stammender anarchischer Impuls, der sich nicht auf alt-anarchistische Konzepte und Theoreme bezieht, sondern in der Verlagerung auf die Konsumgesellschaft und die Kulturindustrie als Quellen der Unterdrückung seine Spezifik gewinnt (Sedlmaier, Konsum und Gewalt, Berlin 2018). Materielle Fragen der Produktion und des Konsums werden in ihrer psychischen Dimension der Formung der Subjekte thematisiert, zudem steigt die Bedeutung der Selbstveränderung als Bewegungszielsetzung.
  9. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992.
  10. Amy Allen, The End of Progress. Decolonizing the Normative Foundations of Critical Theory, New York/Chichester 2016.
  11. Die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) kennt Argumentationen, die sehr ähnlich klingen wie die des offenen Möglichkeitsraumes. Zwar gibt es vielerlei politische Positionen, von denen aus für und auch gegen ein BGE argumentiert werden kann, aber eine Argumentation macht die Konzeption des BGE besonders attraktiv. Das Recht auf arbeitsloses Einkommen ohne jede Konditionalität vor, während und nach dem Bezug des BGE wird gerechtfertigt mit dem Argument, es sei realisierbar, es sei ökonomisch schlichtweg möglich, jedem Menschen ein solches BGE zur Verfügung zu stellen. Zwar ergeben sich Milliarden-, ja Billionenwerte, aber das ist, so die Argumentation, heute schon möglich und wird sicher durch Digitalisierung noch weiter erleichtert. Das BGE ist danach nicht unbedingt die beste politische Lösung für konkrete Probleme, aber sie ist radikal – und möglich. Das Zusammenstimmen von realer ökonomischer Möglichkeit (im Unterschied zur Denkmöglichkeit) und Radikalität (im Sinne eines Bruchs mit dem Leistungsprinzip) erlaubt die Freisetzung von politischen Energien, die Idee eines (Auf-)Bruchs wird sympathisch und die Vertreter*innen einer solchen Position müssen sich nicht sogleich aus der Welt der vernünftig Argumentierenden ausgeschlossen fühlen.
  12. Loick, Anarchismus, Hamburg 2017.
  13. Matthias Machnig (Hg.), Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand, Frankfurt am Main/New York 2011; Nils Heisterhagen, Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen, Bonn 2018; Peter Wagner, Fortschritt. Zur Erneuerung einer Idee, Frankfurt am Main/New York 2018.
  14. Zygmunt Bauman, Retrotopia, Berlin 2017; Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017.
  15. Amy Allen, The End of Progress, New York/Chichester 2016.
  16. Auf dem Weg dorthin: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.
  17. David Graeber, The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy, New York/London 2015.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Zeit / Zukunft Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen Politik Erinnerung

Frank Nullmeier

Prof. Dr. Frank Nullmeier ist Politikwissenschaftler am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. 2021 hat er eine Monografie zum Thema „Process Tracing und kausale Mechanismen. Perspektiven qualitativer Politikforschung“ vorgelegt.

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