Philipp Staab, Dominik Piétron | Rezension | 02.10.2019
A Decent Proposal
Rezension zu „Gig Economy. Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co.“ von Colin Crouch
Spoiler Alert: In Colin Crouchs neuem Buch geht es gar nicht um die titelgebende Gig Economy – also jenen in jüngerer Zeit entstandenen Teil des Dienstleistungssektors, in dem Arbeitskräfte zahlreiche Services über digitale Plattformen feilbieten. Der Rekurs auf die Welt der Uber-Fahrer, Essenskuriere oder Reinigungskräfte, die man für kleines Geld per App bucht, dient nur als Aufhänger für seinen Beitrag zu der keineswegs neuen, aber eben auch noch lange nicht abgeschlossenen Debatte um die veränderte Stellung des Faktors Arbeit in spätneoliberalen OECD-Gesellschaften. Crouch macht sich auf, die Arbeitswelt der Gegenwart zu vermessen und zu prüfen, was vom einstigen Normalarbeitsverhältnis noch übrig ist. Er tut dies in national vergleichender Perspektive anhand eines Samples der wichtigsten OECD-Länder. Der Untertitel Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs und Co verrät deshalb schon eher, wohin die Reise geht. Das gilt zumindest für die ersten vier der insgesamt fünf Kapitel des Buches, in denen Crouch eine empirisch gesättigte, hauptsächlich sozialstatistisch informierte Tour de Force durch die problematischen Bereiche zeitgenössischer Arbeitsmärkte unternimmt. Am Ende seines Essays wartet Crouch schließlich mit einem bemerkenswerten Vorschlag zur Reform der Sozialversicherung auf.
Doch der Reihe nach. Sprechen wir zunächst über die ersten vier Kapitel, die gleichermaßen als Vorstufen wie als Begründung des fünften zu verstehen sind. Den Ausgangspunkt für Crouchs Überlegungen bildet der Befund vom „Aufstieg prekärer Arbeit“, den er primär als Rückbau jener sozialen Anrechte von Arbeitnehmer_innen beschreibt, die in der europäischen Nachkriegszeit im Rahmen des später so genannten „Normalarbeitsverhältnisses“ institutionalisiert worden waren. Dieser Rückbau beginnt mit der neoliberalen Wende in den USA und Großbritannien zu Beginn der 1980er-Jahre und fasst während der 1990er-Jahre schließlich auch in Kontinentaleuropa Fuß.
Gleich zu Beginn seiner Ausführungen biegt sich Crouch das Thema ordentlich zurecht: Demnach handelt es sich bei Uber, Deliveroo und anderen Unternehmen der Gig Economy nicht um genuin neue Geschäftsmodelle, sondern nur um die jüngsten und konsequentesten Auswüchse einer langfristigen Entwicklung. In deren Verlauf musste eine beständig wachsende Zahl von Arbeitnehmer*innen Verluste im Bereich sozialer Anrechte hinnehmen,[1] während sich gleichzeitig die vielfach geäußerten Versprechen auf mehr Autonomie in der Arbeit[2] nur für wenige von ihnen bewahrheiteten. Die in Großbritannien etablierten Null-Stunden-Verträge oder die Entstehung des Segments der Minijobs in Deutschland sind die von Crouch ins Feld geführten Kronzeugen für die wenig kontroverse These, dass die Prekarisierung der Arbeit nicht erst mit dem Aufstieg der Gig Economy begonnen habe. Gleichwohl sieht auch er mit den neuen Beschäftigungsformen in der Plattformökonomie einen neuen Kulminationspunkt in der fortschreitenden Entsicherung von Arbeit erreicht, weil sie rigide Arbeitskontrolle mit formaler Selbstständigkeit, also der weitgehenden Abwesenheit von rechtlichen Verpflichtungen der Kapitalseite gegenüber den Arbeitskräften verbinden. So weit, so bekannt.
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht der ebenfalls keineswegs neue Befund des „Machtungleichgewichts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer“, der gewissermaßen den Deutungsrahmen für die vorangegangene wie auch die folgenden Analysen bildet. Crouch zufolge ist dieses strukturelle Machtungleichgewicht ein „unvermeidlicher Bestandteil eines jeden Arbeitsverhältnisses“ (S. 21), das sich nicht gänzlich beseitigen, sondern nur in seinen Auswirkungen abmildern lässt. Historisch betrachtet habe sich der gewerkschaftliche Zusammenschluss der Arbeitnehmer*innen als ein wirkungsvolles Instrument erwiesen, um im Zuge harter gesellschaftlicher Konflikte Arbeitnehmer*innenrechte zu etablieren, die den Beschäftigten mehr Sicherheit und Mitsprachemöglichkeiten garantiert hätten: Kündigungsschutz, Mitbestimmung, Arbeitsrecht etc. Mit dem Aufstieg der Gig Economy kehrten nun viel ältere und zwischenzeitlich überwunden geglaubte Formen der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit zurück, die am ehesten dem spätmittelalterlichen Verlagssystem ähnelten (S. 30): Seinerzeit belieferten Verleger in der britischen Textilindustrie formal selbstständige Weber*innen mit Rohmaterialien und nahmen ihnen anschließend die fertigen Waren ab, ohne jedoch irgendeine formalrechtliche Verantwortung für die Arbeitskräfte zu übernehmen. Erst mit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung, der Einführung der Sozialversicherung sowie schließlich der Integration der Arbeiterschaft in die „demokratischen Kapitalismen“ (Streeck) der Nachkriegszeit und dem damit einhergehenden Ausbau wohlfahrtsstaatlicher und arbeitsrechtlicher Standards seien signifikante Verbesserungen erreicht worden. Diese Fortschritte aber – so Crouch noch einmal ausführlicher als zuvor –, seien in den vergangenen vierzig Jahren Stück für Stück abgebaut und rückgängig gemacht worden. Die Liste der von Crouch genannten Ursachen ist dabei ebenso lang wie vielfältig. Darauf verzeichnet sind unter anderem der Angriff der Neoliberalen auf Gewerkschaften und öffentliche Dienste; die zunehmende Orientierung am Shareholder Value, die den Faktor Arbeit zum rentiersschädlichen Kostenpunkt degradierte; die Finanzialisierung der Nullerjahre, in deren Kontext sich Wertschöpfung von der Arbeit zum Handel mit Finanzprodukten verschob; das relative Wachstum von Dienstleistungsberufen mit geringem Sicherungsniveau; sowie schließlich die voranschreitende Digitalisierung, die im Zuge der Ausbreitung von Automatisierungs- und Rationalisierungstechnologien ebenfalls Druck auf die Normalarbeit erzeugt habe.
Im dritten Kapitel macht Crouch das Ausmaß der Angriffe auf das Normalarbeitsverhältnis anhand der Variablen Kündigungsschutz, gewerkschaftliche Interessensvertretung, Entwicklung von Sozialtransfers, Renten und Mindestlöhnen detailliert sichtbar und nimmt zu den sozialpolitischen Effekten der Finanzkrise von 2008 Stellung. Anhand seiner verhältnismäßig detaillierten Darstellung der Befunde ließe sich ein recht differenziertes Bild der Teilerosion von Normalarbeit in den entsprechenden Ländern zeichnen, was hier jedoch nicht geschehen soll, da es Crouch um etwas anderes geht. Sein Interesse gilt vielmehr den Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen OECD-Staaten, die er folgendermaßen zusammenfasst: „Insgesamt ist das vormals um zahlreiche Vergünstigungen erweiterte Normalarbeitsverhältnis erheblich beschnitten worden, besonders hinsichtlich des gewerkschaftlichen Schutzes der Arbeitnehmer gegen das im Arbeitskontrakt festgeschriebene Machtungleichgewicht.“ (S. 74) Die auch an dieser Stelle noch einmal erwähnte gegenläufige Tendenz einer „Zunahme der Freistellungsansprüche für Mütter und Eltern“ (S. 75) fällt demgegenüber für Crouch kaum ins Gewicht, da sie nur unter der Bedingung der Festanstellung gilt, die in vielen Fällen nicht mehr erfüllt ist. Im vierten Kapitel, das hier nur kurz erwähnt werden soll, geht Crouch schließlich anhand von Statistiken näher auf spezifische Formen prekärer Arbeit ein. Dazu gehören unter anderem befristete Beschäftigungsverhältnisse, (schein-)selbstständige Tätigkeiten sowie Arbeiten im Bereich der Schattenwirtschaft, die zusammengenommen in den meisten der untersuchten Länder rund ein Viertel der Beschäftigung ausmachen.
„Ein neuer Ansatz zur Beschäftigungssicherheit“
Wir befinden uns nun am Ende des vierten Kapitels und haben damit bereits rund vier Fünftel des Buches hinter uns. Bis hierhin bietet Crouchs Essay viel Interessantes, aber nur wenig Neues – jedenfalls, wenn man die Prekarisierungs- und Exklusionsdebatten der Nullerjahre und ihre verschiedenen diagnostischen Engführungen, exemplarisch etwa in Oliver Nachtweys Abstiegsgesellschaft, noch erinnert.[3] Gelegentlich fallen Crouchs Ausführungen sogar hinter den inzwischen erreichten Stand der wissenschaftlichen Forschung zurück, etwa wenn er Studien zu den erwartbaren Effekten digitaler Automatisierung auf Beschäftigung zitiert, die heute wesentlich kritischer betrachtet werden als noch vor ein paar Jahren. Doch das nur am Rande. Denn so wie ihm digitale Automatisierung und Gig Economy nur als Aufhänger für seine viel breiter angelegte Analyse prekärer Arbeit dienen, so dient die Analyse der (Teil-)Erosion des Normalarbeitsverhältnisses nur zur Erläuterung und Rechtfertigung von Crouchs eigentlichem Anliegen, nämlich seinem Vorschlag einer „Sozialversicherungsreform, die diese in eine Steuer umwandelt und nicht mehr auf der Verantwortung eines Arbeitgebers, sondern auf der Tatsache der Nutzung menschlicher Arbeitskraft beruht.“ (S. 20) In seinem Vorschlag führt Crouch zwei wichtige sozialpolitische Initiativen der vergangenen 20 Jahre zusammen: zum einen Alain Supiots Ansatz der „Sonderziehungsrechte“, und zum anderen das von Ton Wilthagen und anderen ausgearbeitete Modell der „Flexicurity“.[4]
Crouchs wichtigster Bezugspunkt ist Supiots Konzept der Sonderziehungsrechte, das dieser im Rahmen eines im Auftrag der französischen Regierung angefertigten und 2001 veröffentlichten Berichts[5] entwickelt hat. Hinter dem ungewöhnlichen Namen verbirgt sich die Forderung nach finanziellen Unterstützungen für Personen, die gesellschaftlich sinn- und wertvollen, aber unbezahlten Tätigkeiten nachgehen oder die sich beruflich neuorientieren. Supiots Ideen wurden in der Folgezeit von Verfechter*innen eines bedingungslosen Grundeinkommens aufgenommen, die sich – unter anderem – ebenfalls für eine Besserstellung marktferner Tätigkeiten einsetzten. Crouch hegt sowohl für Supiot als auch für die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens gewisse Sympathien, zumal er die von ihnen benannten Problemlagen für zutreffend erachtet, doch bleibt er mit Blick auf die praktische Umsetzung skeptisch: Das Grundeinkommen, so Crouch, lasse sich politisch zu leicht instrumentalisieren und laufe zudem Gefahr, die mit dem Arbeitnehmer*innenstatus verbundenen Rechte weiter zu schwächen, weshalb der Vorschlag „an diesen politische Hindernissen (…) wohl scheitern“ werde (S. 96).
Der Flexicurity-Ansatz hingegen erscheint Crouch als eine praktikable Antwort auf eine der zentralen Fragen seiner Studie: „Wenn man Arbeitgebern Pflichten wie etwa den Mindestlohn auferlegt, gibt man ihnen zugleich einen Anreiz, Beschäftigungsformen zu ersinnen, die sie von der Erfüllung dieser Pflichten entbinden. Beispielsweise indem sie behaupten, dass diejenigen, die sie beschäftigen, keine Arbeitnehmer seien.“ (S. 97) Das zunächst in den Niederlanden und anschließend in modifizierter Form auch in Dänemark eingeführte Modell der Flexicurity stellt in seinen Augen die bislang aussichtsreichste Strategie dar, um diesem Dilemma zu entgehen. Im Kern geht es darum, eine Lockerung des Kündigungsschutzes (Flexibility) mit einer relativ langen Bezugsdauer statuserhaltender Transfers im Falle von Arbeitslosigkeit (Security) sowie umfangreichen Fortbildungsoptionen zu verbinden. Crouch sieht hierin „eine Weiterentwicklung des erweiterten Normalarbeitsverhältnisses“ (S. 103). Obwohl das Modell im Zuge seiner bisherigen Umsetzung neoliberal verwässert worden sei, lautet Crouchs Schlussfolgerung: „Ein ernsthaft, also mit aktiver Arbeitsmarktpolitik, Elternrechten, Arbeitslosenunterstützung und starken, mitgliederreichen Gewerkschaften umgesetztes Flexicurity-Konzept kann in entwickelten Ökonomien eine Win-win-Situation herbeiführen.“ (S. 108; Hervorh. im Orig.) Arbeitnehmer*innen wären besser abgesichert, Unternehmen würden produktiver.
Die Pointe von Crouchs Vorschlag zur Reform der Sozialversicherung besteht nun darin, dass er beide Ansätze – die Idee der Sonderziehungsrechte und das Konzept der Flexicurity – zusammenführt und miteinander kombiniert: In einer Welt, in der Arbeitnehmer*innen durch verschiedene Entwicklungen immer stärker unter Druck gerieten, sei ein zeitgemäßes Flexicurity-Konzept nur auf der Basis einer erfolgreichen Reorganisation der Sozialversicherung vorstellbar. Dafür brauche es jedoch eine andere Logik der Finanzierung, insofern es tendenziell immer weniger Normalarbeitnehmer*innen gäbe, deren Normalarbeitgeber*innen Sozialversicherungsbeiträge abführen. Crouchs Vorschlag: Die Sozialversicherung soll durch eine Steuer auf die Nutzung menschlicher Arbeitskraft ersetzt oder zumindest ergänzt werden (hier bleibt sein Vorschlag unklar). Eine solche Steuer hätte den Vorteil, dass sie alle Organisationen träfe, die auf menschliche Arbeitskraft zugreifen. Lediglich nicht-korporative, also ,individuelle‘ Auftraggeber*innen sowie Arbeiten unterhalb einer bestimmten Stundenzahl sollen davon ausgenommen sein. Im Rahmen dieser allgemeinen Steuerpflicht für Auftrag- und Arbeitgeber*innen könnten dann weitere Zusatzvereinbarungen getroffen werden, etwa Beitragsnachlässe für verantwortungsvolles unternehmerisches Verhalten wie zum Beispiel die Bereitstellung von Arbeitsverträgen, die Freistellung für Bildungsmaßnahmen oder die Anerkennung von Tarifvereinbarungen. Was Crouch vorschlägt ist, mit anderen Worten, eine Steuer, die auch die Betreiber*innen von digitalen Arbeitsvermittlungsplattformen wie Clickworker oder Helpling zur Verantwortung und zur Kasse bittet, um sicherzustellen, dass ‚faire‘ Arbeitgeber*innen für die Achtung sozialer Mindeststandards nicht indirekt bestraft werden. Stattdessen sollen die Gewährleistung guter Arbeitsbedingungen, gemessen an den Kriterien des Flexicurity-Normalarbeitsverhältnisses, sowie die Anerkennung von Gewerkschaften und die Ermöglichung betrieblicher Mitspracherechte mit Steuererleichterungen für ,progressive‘ Arbeitgeber*innen belohnt werden.
Die mit der neuen Steuer auf die Nutzung von Arbeitskraft generierten Einnahmen sollen nach Crouchs Vorstellungen in einen neu zu schaffenden „Sozialversicherungsfonds“ fließen, der sich zusätzlich zu den Abgaben von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen aus Beiträgen aller erwerbstätigen Bürger*innen speist. In Anlehnung an die paritätische Finanzierung des deutschen Sozialversicherungssystems sollen also nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern alle Erwerbstätigen Beiträge entsprechend ihrer Einkommenshöhe zahlen, was explizit auch die Gruppe der Selbstständigen einschließt. Doch damit nicht genug. Crouch will nicht nur den Begriff der „Arbeitskraft“ anders verstanden und bewertet wissen, auch der Begriff des „Einkommens“ wird von ihm deutlich erweitert und auch auf Kapitaleinkommen ausgedehnt, das er ebenfalls einer Besteuerung durch die Sozialversicherung unterworfen wissen will. Auf diese Weise will Crouch der Sozialversicherung neue Finanzierungsquellen erschließen, ohne Geringverdiener zusätzlich zu belasten. Langfristig, so seine Zielvorstellung, soll der so entstehende Giga-Fond nicht nur das klassische Portfolio der Sozialversicherungsträger wie Arbeitslosen-, Renten-, Pflege- und Unfallversicherung abdecken können, sondern darüber hinausgehend auch Finanzmittel erwirtschaften, die eine Verwirklichung von Supiots Idee der Finanzierung gesellschaftlich wert- und sinnvoller, aber unbezahlter Arbeit ermöglicht und damit eine umfassende soziale Sicherung für alle bereitstellt.
Mehr Zentralisierung wagen?
Wie gesagt: Anders als der Titel suggeriert, ist in Colin Crouchs neuem Buch von Gig Economy kaum die Rede. Er formuliert vielmehr einen ambitionierten Vorschlag zur „Neuerfindung des Sozialen“ (Stephan Lessenich), dem der technologische Wandel nur als Strohmann zur Verfolgung anderer, empirisch freilich gut begründbarer Ziele dient.
Mit der Indienstnahme des technologischen Wandels für seine sozialreformerische Agenda steht Crouch nicht allein dar. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert den „Sozialstaat 4.0“,[6] und speziell für Gigworker existieren darüber hinaus viele weitere sozialpolitische Reformvorschläge, angefangen bei dem Versuch, einen neuen Beschäftigungsstatus zu schaffen, über Enzo Webers Konzept „Digitaler Sozialer Sicherung“[7] bis hin zur kalifornischen AB5-Regulierung, bei der erstmals die Auftraggeber nachweisen müssen, dass keine Scheinselbstständigkeit vorliegt. Die internationale Debatte um die Absicherung prekärer Arbeit schreitet vielerorts voran; doch anstatt die bestehenden Ansätze zu diskutieren, wirft Crouch eine eigene Idee in den Ring.
Crouch hat einen starken Punkt, wenn er vorschlägt, das Solidarprinzip radikal zu erweitern und die Legitimität wohlfahrtsstaatlicher Institutionen durch die Belohnung von sozialverträglichem Unternehmertum zu steigern. Gleichwohl stehen mit diesem Vorstoß – gerade mit Blick auf die deutsche Tradition – womöglich zentrale Legitimationspfeiler der historisch gewachsenen Sozialversicherungssysteme zur Disposition. So schlägt Crouch nicht nur eine neue Steuer vor, sondern implizit auch einen zentralen Verwaltungsapparat, der das differenzierte Geflecht der deutschen Sozialversicherungen ersetzen soll. Das Vorhaben kann man als Bürokratieabbau vermarkten, es aber, wenn man will, auch als neues Behördenmonster denunzieren, das die Pluralität der verschiedenen Versicherungsanbieter in der gesetzlichen Krankenkasse ebenso verschlingen könnte wie die fest verankerte demokratische Selbstverwaltung der deutschen Sozialversicherung. Crouchs soziales Reformprogramm muss zwar nicht notwendigerweise zu einem Bumerang in Sachen politischer Legitimität werden, doch es bleiben noch viele wichtige Fragen unbeantwortet, wie zum Beispiel die Treuhänderschaft des Sozialfonds, die Zukunft der bestehenden Sozialkassen, die Rolle der Sozialwahlen, die Art der Bedürftigkeitsprüfung oder die Implementierung möglicher Sanktionen. Es besteht also nach wie vor viel Raum zur konkreteren Ausgestaltung des Konzepts in unterschiedlichen nationalen Kontexten. Ob die genannten Unschärfen geeignet sind, entsprechende Diskussionen zu befördern, bleibt abzuwarten.
[1] Eine in diesem Zusammenhang von Crouch zu Recht immer wieder erwähnte Ausnahme bilden allerdings die Rechte von Eltern und Schwangeren.
[2] Vgl. u.a. Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, übers. von Michael Tillmann, Konstanz 2003.
[3] Vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016.
[4] Siehe hierzu u. a. Ton Wilthagen, Flexicurity: A New Paradigm for Labour Market Policy Reform?, Berlin 1998 (= WZB Discussion Paper, FS I 98–202); Ruud Muffels / Ton Wilthagen, Flexicurity: A New Paradigm for the Analysis of Labor Markets and Policies Challenging the Trade-off between Flexibility and Security, in: Sociology Compass 7 (2013), 2, S. 111–122..
[5] Vgl. Alain Supiot et al. (Hg.), Pour une politique des sciences de l'homme et de la société, recueil des travaux du Conseil national du développement des sciences humaines et sociales (1998–2000), Paris 2001.
[6] Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund, Sozialstaat 4.0: Jetzt auf den Wandel vorbereiten, Pressemitteilung vom 15. 5. 2018.
[7] Siehe Enzo Weber, Digitale Soziale Sicherung. Entwurf eines Konzepts für das 21. Jahrhundert (= Hans Böckler Stiftung, Working Paper Forschungsförderung Nr. 137, Mai 2019).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Gesellschaft Arbeit / Industrie Digitalisierung
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