Jörg Später | Rezension |

Adorno in Lüneburg

Rezension zu „Sprache, Literatur und Kunst“, „Kultur, Ausdruck und Bild“ und „Philosophie und Gesellschaft I“ von Hermann Schweppenhäuser

Hermann Schweppenhäuser (1928–2015) war der treueste Schüler Adornos. Zu seinen Lebzeiten verkörperte er die „authentische“ Kritische Theorie, die in Lüneburg negativ-dialektische Philosophie im Sinne Adornos betrieb und Walter Benjamins „Eingedenken der Natur im Subjekt“ Rechnung zollte. Nun sind die ersten drei Bände der Gesammelten Schriften dieser eher randständigen Figur der deutschen Philosophie erschienen, der es gleichwohl gelang, Lüneburg zu einem Ort zu machen, der der Kritischen Theorie bis heute verbunden ist. Auch das Projekt der Gesammelten Schriften entstammt dem Lüneburger Zusammenhang.

Schweppenhäuser gehörte zu den ersten Studenten, auf die Adorno im Wintersemester 1949/50 nach seiner Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil nach Frankfurt traf und von deren vorzüglichem Niveau und geistiger Leidenschaft er Horkheimer beglückt berichtete: „Weitaus das erfreulichste sind die Studenten. Von dem Niveau des Kantseminars, bei Freund und Feind, machen Sie sich keine Vorstellung. Diese Dinge zusammen zu tun, wird eine wirkliche Glücksquelle. Wir könnten ruhig die allerschwierigsten Dinge der Hegelschen Logik behandeln. […] es gibt heute wirkliche Gegenkräfte hier gegen den Faschismus und zwar solche, die von Wieland Herzfelde unabhängig sind“, also keinem kommunistischen Einfluss unterliegen. Umgekehrt erschienen dem jungen Schweppenhäuser die beiden Remigranten als sehr außergewöhnliche Philosophie-Dozenten, deren Denken spürbar und explizit in Beziehung mit den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart und der katastrophalen jüngsten Geschichte stand. Studenten wie Schweppenhäuser bildeten tatsächlich das politische Kapital, auf das die beiden Sozialphilosophen setzten, um im „Haus des Henkers“ etwas intellektuell Neues aufzubauen und die „einmalige Situation“, die Horkheimer diagnostizierte, nicht verstreichen zu lassen. Über dieses Neue sprach man ab 1960, zunächst in der akademischen Welt, und dann auch in der Öffentlichkeit, als „Frankfurter Schule“. Als jene Öffentlichkeit in den 1960er-Jahren einen politischen Strukturwandel erlebte, erlangte die Kritische Theorie der Frankfurter Schule eine Diskursmacht, die um 1968 ihren Höhepunkt erreicht hatte, ehe es nach Adornos Tod 1969 keinen zentralen Ort mehr für sie gab und die Schüler sich in alle Winde verstreuten – sei es nach Starnberg, nach Hannover oder eben nach Lüneburg.

Adorno war für den Studenten Schweppenhäuser nach der Loslösung von seiner Familie, die das brotlose Philosophiestudium missbilligte, zum Ersatzvater geworden. Statt das familiäre Geschäft weiterzuführen, arbeitete der junge Mann nun im Institut für Sozialforschung, wo er an der berühmten Gruppenstudie zu „Schuld und Abwehr“ mitwirkte. 1955/56 wurde er mit einer Studie über die Heidegger‘sche Sprachtheorie promoviert, später mit einer Arbeit zu Kierkegaards Hegel-Kritik habilitiert. Adorno verehrte er. In Briefen sprach er seinen Lehrer zuweilen gar mit „Meister“ an. Manchen galt er als Stimmenimitator, der dem „Jargon der Dialektik“ verfallen sei, andere rühmen (noch heute) seinen pädagogischen Eros im assoziationsreichen Gespräch und die liebenswürdige und bescheidene Art.

Anfang der 1960er-Jahre wurde Schweppenhäuser Philosophieprofessor an der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg, blieb aber auch Honorarprofessor in Frankfurt, wo die Kritische Theorie nach Adornos Tod einen schweren Stand hatte. Zusammen mit Rolf Tiedemann gab er die Gesammelten Schriften Walter Benjamins heraus. Wie zuvor zu Adorno entwickelte er auch zu Benjamin eine fast mimetische Bindung, die sich im Bemühen äußerte, dessen Bildtheorie weiterzudenken. In Lüneburg entstand unter Schweppenhäusers Ägide – die Philosophen Günther Mensching und Christoph Türcke waren in den 1970er- und 1980er-Jahren an seiner Seite – ein Zusammenhang, der sich der „authentischen“, also von Adorno und Benjamin inspirierten „dialektischen Philosophie“ verpflichtet fühlte. Das hieß auch, dass die Lüneburger mit großem Pathos gegen die kommunikationstheoretische Wende von Habermas protestierten. „Unkritische Theorie. Gegen Habermas“ hieß ein Band, der 1989 im neu gegründeten Lüneburger Zu Klampen Verlag erschien und pars pro toto für die publizistischen Äußerungen dieser Antipathie herangezogen werden kann. Umgekehrt wurde den Lüneburgern von den Nachfolgern der Kritischen Theorie um Habermas (Axel Honneth, Helmut Dubiel, Herbert Schnädelbach etc.) vorgeworfen, ihre Kritik sei sektiererisch, scholastisch und nicht mehr zeitgemäß.

Die auf sechs Bände angelegten Gesammelten Schriften, von denen drei nun vorliegen, sind allerdings nicht im Lüneburger Hausverlag, sondern bei J.B. Metzler erschienen, der mittlerweile zum soziologischen Springer Verlag gehört. Zu den Herausgebern zählt Schweppenhäusers Sohn Gerhard, der selbst ein ausgewiesener Kopf der Szene und wie die beiden anderen Editoren, Thomas Friedrich und Sven Kramer, Herausgeber der Zeitschrift für kritische Theorie (übrigens mit kleinem „k“ geschrieben) ist, einem Publikationsorgan, das bis heute die Lüneburger Linie vertritt – allerdings mit dezidierter Liberalität. Was das Projekt, die Schriften zu versammeln, besonders wichtig macht: Hermann Schweppenhäuser war kein Autor großer Monografien, sondern hatte vor allem Essays, gelehrte Artikel und Vorträge verfasst, die nun in den Bänden „Sprache, Literatur und Kunst“, „Kultur, Ausdruck und Bild“, „Philosophie und Gesellschaft I“ zusammengeführt sind.[1] Die erwähnten Qualifikationsarbeiten und der Beitrag zum Gruppenexperiment sind natürlich aufgenommen, aber auch zwei längere übersetzte Interviews mit einer griechischen und einer italienischen Zeitschrift aus den 1990er-Jahren. In ihnen erklärt Schweppenhäuser zwar in der ihm eigenen idiosynkratischen Ausdrucksweise, aber doch lebhaft-anschaulich, worin die Schätze und Geheimnisse im Denken Adornos und Benjamins liegen, wobei er überraschenderweise eine Verwandtschaft Adornos mit Foucaults und Derridas sozialphilosophischen Arbeiten konstatiert. Sehr gespannt darf man auf Band 6 sein, in dem die Vorlesungen editiert werden, denn es heißt immer wieder, jene seien in Lüneburg öffentlicher Ereignisse gewesen, zu den viele Zuhörer strömten – nicht ganz so viele wie zu Adorno in Frankfurt, aber immerhin.

Was zeichnet dieses Werk aus? Ein exemplarischer Streifzug in drei Etappen durch Schweppenhäusers Texte eröffnet den Blick auf eine Melange von streng ausgelegter Frankfurter Schülerschaft, einem freundlich-pragmatischen pädagogischen Eros und einer bürgerlichen Distanz zu den politischen Kämpfen der Zeit. In den Qualifikationsschriften ist der Einfluss Adornos nicht zu verkennen: Die Dissertation über Heideggers Sprachtheorie reagierte auf das Übergreifen der Ontologie auf die philologischen Fächer und stellte eine Affinität der Fundamentalontologie zum Faschismus fest – Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ profitierte durchaus von der Vorarbeit Schweppenhäusers. In seiner Habilitationsschrift setzte sich Schweppenhäuser – ebenso wie Adorno Anfang der 1930er-Jahre in seiner eigenen – mit Kierkegaards Hegel-Kritik auseinander. Schweppenhäuser verteidigte beide, Hegel und Kirkegaard, gegeneinander, kritisierte sie immanent und fuhr mit allem auf, was er von Adorno gelernt hatte: der „Dialektik von Logik, Mythologie und Religion“, dem „Trug aller Unmittelbarkeit“, der „Idee der Wahrheit in ihrer Unwahrheit“, der „Nichtidentität“ und der „Subjektivität als die Form, in welcher Objektivität besteht“, um nur einige zu nennen.

An der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg angekommen – ein Universitätslehrstuhl blieb ihm verwehrt –, stellte Schweppenhäuser in seiner Antrittsvorlesung klar: „Es gibt keine Philosophie für Volksschullehrer“, bloß eine Philosophie, die der Autonomie und der Vernunft verpflichtet sei. Damit wendete er sich sowohl gegen die „Professorenphilosophie der Philosophenprofessoren“ (Schopenhauer) als auch gegen die didaktische Zurichtung und Pädagogisierung kritischer Philosophie. Bei der Lektüre der öffentlichen Vorträge drängt sich allerdings die Frage auf, wer Schweppenhäusers komplexen Ausführungen überhaupt folgen konnte. Es ist davon auszugehen, dass der Adorno-Schüler das gesprochene Wort nachträglich schriftsprachlich stilisiert hat.

Dem politischen Engagement der Studenten stand er eher distanziert gegenüber, wie beispielsweise der Artikel „Zur Dialektik der Emanzipation“ (1973) zeigt, in dem er die adorneske Skepsis bezüglich Befreiungspotenzialen artikuliert: Es gebe keine Emanzipation in der falschen Gesellschaft, die nicht ihrerseits Zwang, Macht, Herrschaft reproduziere! Das gelte auch für emanzipatorische kritische Theorie! Der Protest gegen die falsche Gesellschaft sei bereits in Scheinemanzipation umgeschlagen!

Die Herausgeber der Gesammelten Schriften sind zweifelsohne von der Motivation getrieben, dem unterbelichteten und unterschätzten Lüneburger Adorno-Schüler ein kleines Denkmal zu errichten. Das ist nachvollziehbar, legitim und für die Forschung von großem Wert. Dass in der Öffentlichkeit spätestens seit Beginn der 1980er-Jahre Habermas als legitimer Erbe der Kritischen Theorie angesehen wird, nicht aber die treuen Frankfurter Schüler Schweppenhäuser, Karl Heinz Haag oder Alfred Schmidt ist ein Stachel, der „Lüneburg“ offenbar noch immer schmerzt. Habermas werde über- und Schweppenhäuser unterschätzt, steht zwischen den Zeilen der Begleittexte, die nach meinem Geschmack aber zu viel der Lobpreisung und zu wenig Historisierung darbieten, von Kritik nicht zu reden. Das Nachwort von Sven Kramer (Band I) ist eher eine Laudatio: Der doch extrem hermetische Schreibstil des Sprachphilosophen wird als luzide gefeiert und sein Denken als gründlich, wesentlich und mustergültig gepriesen. Während Habermas Sprache auf Kommunikation „verkürzt“ habe, so sei es Schweppenhäuser gelungen, den dialektischen Sprachbegriff der älteren Kritischen Theorie „auszudifferenzieren“. Auch das eloquente und elegante Nachwort von Christoph Türcke (Band II) verzichtet nicht auf die pathetische Rede vom „Lüneburger Exil“, ganz so, als wäre Schweppenhäuser vertrieben worden wie Horkheimer und sein Kreis 1933. Und Günther Menschings Kommentar (Band III) ist in Ton und Inhalt ein selbstgewisses Hohelied auf das konsequente und kompromisslos der Wahrheit und der Kritik verpflichtete Denken, das vom belanglosen und bornierten Wissenschaftsbetrieb ausgemerzt werde. Manches davon mag zutreffen, aber die Pose der verdrängten Opfergemeinde Adornos ist übertrieben. Der Häme, die Schweppenhäusers zeitgenössischer Etikettierung als „Epigone“ innewohnen mag, wird mit stolzem Trotz begegnet. Ein wenig mehr Distanz und weniger Lüneburger Schulpatriotismus wäre einem Editionsprojekt angemessen gewesen, zumal die Kämpfe um Adornos Erbe nun wirklich lange zurückliegen.

Die Lüneburger Selbstdarstellung wäre auch gar nicht nötig gewesen, um das Projekt der Gesammelten Schriften zu begründen, denn Schweppenhäusers Texte, die ja fraglos zu jenen Apokryphen der Kritischen Theorie gehören, die über einen eigentümlichen Charme verfügen, sind nur noch antiquarisch zu erwerben. Darüber hinaus macht die Edition auch manches bisher unveröffentlichte Material zugänglich. Für die ideengeschichtliche Forschung zur Frankfurter Schule steht das Kapitel „Schweppenhäuser in Lüneburg“ ohnehin an bedeutender Stelle, denn so wie der treue Schüler zogen auch die anderen Schüler und Adepten der Kritischen Theorie von Frankfurt in die Provinzen der Bundesrepublik. Und in der bildungsbürgerlich geprägten Stadt Lüneburg kam der etwas altmodische, freundliche und geistreiche Gelehrte überaus gut an: ein Gentleman alter Schule eben, der noch in den 1980ern sprach und sich kleidete wie in den 1950ern. Auch in Frankfurt war er bei den Studenten, die der alten Kritischen Theorie nachtrauerten, sehr beliebt. Er spielte einerseits den Adorno in der Provinz und füllte andererseits an der Goethe-Universität die Rolle des treuen Sachverwalters der Belange Adornos und Benjamins aus, was ihm sowohl Dankbarkeit als auch Spott über seine scholastisch-konservierende Haltung einbrachte. Diese Geschichte und die nicht gerade leicht zu lesenden Texte dokumentieren eine sehr bezeichnende Episode der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik, die man vielleicht unter die Überschrift „Notizen aus der Provinz“ stellen kann. Dabei ist das Wort „Provinz“ nicht abfällig gemeint, sondern eher in dem Sinne zu verstehen, dass sich die Frankfurter Erbschaft in Nischen und Nester verflüchtigt hat – nicht nur der Kultur, Wissenschaft und Kunst, sondern in den 1970er-Jahren auch geografisch. Hermann Schweppenhäuser ist also ein zentraler Baustein für eine Geschichte der Frankfurter Schule in der Bundesrepublik: er steht für die Kritische Theorie aus dem Geiste eines bildungsbürgerlichen Humanismus, der Adorno und Goethe zusammen denkt.

  1. Ein zweiter Band zu Philosophie und Gesellschaft, ein weiterer mit Aphorismen, Fragmenten und Gedichten und einer, der die Vorlesungen versammelt, sind angekündigt.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaft Kritische Theorie Kultur Kunst / Ästhetik Philosophie

Jörg Später

Jörg Später, geb. 1966, ist freier Autor und Lektor. Als Historiker gehört er zur Forschungsgruppe Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und ist Stipendiat der Gerda Henkel-Stiftung. Er arbeitet an einem Buch über Frankfurter Schüler in der alten Bundesrepublik, in dem Schweppenhäuser und Lüneburg eine tragende Rolle spielen. Es wird im Frühjahr 2024 im Suhrkamp Verlag erscheinen.

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