Bastien Dratwa | Rezension |

All my troubles seemed so far away

Rezension zu „Yesterday. A New History of Nostalgia“ von Tobias Becker

Tobias Becker:
Yesterday. A New History of Nostalgia
USA / Groß Britannien
Cambridge, MA / London 2023: Harvard University Press
332 S., 27,99 EUR
ISBN 9780674251755

Es scheint, als hätte westliche Gegenwartsgesellschaften eine nie da gewesene Nostalgiewelle überrollt. Zumindest legen tagesaktuelle Debatten, politische Kommentare oder (populär-)wissenschaftliche Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen diesen Befund nahe. Dabei findet der Begriff, ein Kompositum aus den altgriechischen Wörtern nostos (Heimkehr) und algos (Schmerz, Kummer), seine Verwendung in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Der 1688 von dem angehenden elsässischen Arzt Johannes Hofer in seiner Dissertation erstmals geprägte Terminus dient gut 350 Jahre später zur Beschreibung heterogenster Phänomene und Tendenzen. Die Rede ist etwa von einem nostalgic craze, der westliche Gesellschaften erfasst habe, die erhebliche Energien in die Verklärung vergangener Zeiten, ausgedienter Objekte und überkommener Praktiken investierten. Die nostalgische Entrückung drücke sich unter anderem in der wachsenden Popularität von Flohmärkten und einem prosperierenden Antiquitätenhandel aus, schlage sich im Konsum von Bio-Lebensmitteln und der Wertschätzung von Vintage-Artikeln nieder. Auch motiviere Nostalgie die Wiederbelebung „natürlicher“ Geburtstechniken, animiere die Beschäftigung mit historischen Computerspielen und führe zur Entstehung von Öko-Museen.[1] Zudem soll das Phänomen der Nostalgie zeitgenössische Präferenzen erklären, was das individuelle Reise- oder Wahlverhalten ganzer Populationen angeht.[2] In seinem posthum veröffentlichten Buch Retrotopia charakterisiert der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman gleich das ganze 21. Jahrhundert als ein Zeitalter der Nostalgie, als eine Ära, in der nostalgische Regression sämtliche Bereiche des Sozialen durchdrungen hätte.

Unter dem einen berühmten Song der Beatles zitierenden Titel Yesterday – A New History of Nostalgia hat der Geschichtswissenschaftler Tobias Becker nun eine kenntnisreiche Studie vorgelegt, die eine kritische Historisierung des Phänomens anbietet. Becker, der an der Freien Universität Berlin lehrt, tritt bewusst einen Schritt zurück, um aufgeheizte Debatten und gegenwartszentrierte Zeitdiagnosen auf Distanz zu bringen. Er analysiert die Entwicklung der Nostalgie-Diskurse seit Beginn der 1960er-Jahre, fragt, welche Akteure den Begriff verwenden, welche Zwecke seinen Gebrauch bestimmten, rekonstruiert die historischen Bedingungen der Begriffskarriere und kann somit auch ausleuchten, wie sich im Zuge dieses Prozesses die Gebrauchsweisen veränderten, das heißt, die Bedeutungen von „Nostalgie“ gewandelt oder durchgehalten haben. Sichtbar wird – primär mit Blick auf die USA und Großbritannien, aber auch anhand von Beispielen aus Deutschland und Frankreich – wie Nostalgie in jeweils nationalen Kontexten (etwa in der Politik) sowie über Ländergrenzen hinweg (etwa in der Populärkultur) zu einer durchaus umstrittenen, jedoch prägenden Vokabel aufsteigen konnte. Die materialreiche Analyse vermag überzeugend darzulegen, dass die These, gerade die Jetztzeit sei in außergewöhnlich intensiver Form von Nostalgie befallen, zeithistorisch betrachtet keineswegs originell ist. Beckers Sondierungen machen ganz im Gegenteil sinnfällig, dass variierende Nostalgie-Diagnosen bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein periodisch wiederkehrender Bestandteil der politischen und kulturellen Diskurse westlicher Gesellschaften sind.

Historisierung als Technik der Verfremdung

Gleich zu Beginn seines Buches thematisiert Becker das angespannte Verhältnis einer Wissenschaft, die sich letztlich auch um Zugänge zu Vergangenheiten, also um Yesterdays, bemüht, zum Phänomen und Begriff der Nostalgie. Er notiert, dass Historiker:innen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bisher der Untersuchung von Nostalgie keine gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt hätten, um von einer Annäherung an das Phänomen unter historisierender Perspektive ganz zu schweigen (S. 3). Exemplarisch seien Stimmen wie die des namhaften US-amerikanischen Historikers Charles Maier, der konstatiert hatte, Nostalgie verhalte sich zur Sehnsucht wie Kitsch zu Kunst,[3] oder die des nicht weniger prominenten Historikers Christopher Lasch, der behauptet, Nostalgie habe mit Erinnerung nicht das Geringste zu tun. Für Historiker:innen, so Becker in Anlehnung an den britischen Historiker Raphael Samuel, sei Nostalgie eine Haltung, die dem entspricht, was Marxismus und Neo-Marxismus „falsches Bewusstsein“ nennen, was im Existentialismus eines Jean-Paul Sartre als „mauvaise foi“ erfasst, also als innere Unaufrichtigkeit oder Unwahrhaftigkeit dechiffriert wird. Unter solchen Beschreibungen blockiere die Historiografie eine differenzierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Nostalgie. Becker geht noch weiter, wenn er pointiert, die Geschichtswissenschaft sähe angesichts nostalgisch imprägnierter Vergangenheitsbezüge ihre Deutungshoheit in Sachen Vergangenheit gefährdet, mithin ihren eigenen, nämlich wissenschaftlichen Ansatz als einzig legitimen Zugang zum Vergangenen infrage gestellt. Die Geschichtswissenschaft konstruiere sich ihrem Selbstverständnis nach in entschiedener Opposition zur Nostalgie. Die eigenen Methoden seien rational und methodisch kontrolliert, während Nostalgie vorwissenschaftlich operiere, nämlich emotional, mithin irrational:

“Whereas history explores the past to better understand it and, through it, the present, nostalgia, or ‘history without guilt’ falsifies the past to feel better in the present and, to that end, forgets, downplays, and ignores its horrors.” (S. 4)

Dass sich Becker in seiner Studie derart pejorativen Lesarten von Nostalgie widersetzt, kann nicht überraschen. Er plädiert stattdessen dafür, in der „Nostalgie“ einen Schlüsselbegriff der Moderne zu identifizieren, dessen wandelnde Bedeutung und vielgesichtige Erscheinung es historisch zu entschlüsseln gelte. Becker versteht unter Nostalgie ein kollektives, sozio-historisches Phänomen, das eng mit bestimmten emotional eingefärbten Weisen individuellen und überindividuellen Erinnerns verbunden ist. So verstanden gehört Nostalgie unter die Vermögen, denen Gesellschaften die Fähigkeit verdanken, ihre Gegenwart und Zukunft zu gestalten (S. 235 f.). Folgerichtig wendet sich der Autor gegen eine allzu wohlfeile und autoritativ daherkommende Nostalgie-Kritik, nicht zuletzt mit dem schlagenden Argument, dass derartige Kritiken ihrerseits auf einer linearen, genuin modernen Vorstellung von Zeitlichkeit beruhen, an der den Westen verklärenden Fortschrittserzählung mitschreiben.

Von den zahlreichen Arbeiten in den Geistes- und Sozialwissenschaften – etwa in der Anthropologie, der Soziologie, der Psychologie, der Literaturwissenschaft oder den Media and Fashion Studies –, die im Laufe der letzten Jahre zum Thema Nostalgie publiziert wurden, hebt sich Beckers Studie durch ihren radikal historisierenden Zugriff ab. Mit Blick auf die existierende Literatur moniert er ein unreflektiertes Changieren zwischen zwei Extrempositionen: Entweder handelt es sich um Arbeiten, die Nostalgie für ein sich selbsterklärendes Phänomen halten, weshalb auf begriffsdefinierende Klärung verzichtet wird, oder um Studien, die ihren Gegenstand aufgrund immer feinerer Definitionen und Klassifikationsanstrengungen zerlegen, womit er sich in reflexive, reflektive, restorative oder interpretative Nostalgien auflöst. Auch Becker misstraut angesichts eines historisch gegebenen, empirischen Phänomens dem Leistungsvermögen deduktiver Theorie, verzichtet auf eine vorgefertigte Definition dessen, was Nostalgie ist, bedeutet oder ausmacht. Stattdessen spürt er der Begriffsgeschichte und den wandelnden Bedeutungen von Nostalgie im Zeitverlauf nach, spannt seinen Bogen im Ausgang von der einflussreichen Publikation Future Shock (1970) des US-amerikanischen Futuristen Alvin Toffler bis hinein in jüngste Vergangenheiten und Debatten rund um den Aufstieg Donald Trumps, den Brexit und einen transnational erstarkenden Rechtspopulismus.

Statt dem Ensemble bereits existierender Nostalgie-Definitionen lediglich eine weitere, blutleere Begriffsklärung hinzuzufügen, irritiert Beckers Studie den alltagsweltlichen Blick auf das Phänomen mit einer Reihe von Fragen: Sind Praktiken des Bewahrens, Sammelns, Restaurierens oder Wiederaufführens eo ipso nostalgisch? Gibt es so etwas wie einen emotionalen Stil der Nostalgie, eine bestimmte Art und Weise, wie sie erlebt, gepflegt und dargestellt wird? Ist Nostalgie Teil eines übergreifenden emotionalen Regimes, der normativen Ordnung von Emotionen im 20. Jahrhundert? Offeriert Nostalgie ein emotionales Refugium, das als Nische für bewusste Langsamkeit und intendierten Rückzug in Gesellschaften fungiert, die Geschwindigkeit, Beschleunigung, Disruption und Fortschritt betonen? In welchem Verhältnis steht Nostalgie zu Erinnerung, zu Zeitlichkeit überhaupt und zu den Emotionen, die den individuellen und kollektiven Umgang mit dem Vergehen von Zeit prägen? Könnte Nostalgie eine spezifische Form des Erinnerns sein oder haben beide Phänomene nichts miteinander zu tun? Indem Becker diesen Katalog grundsätzlicher wie ungeklärter Fragen aufblättert, eröffnet er seiner sich über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts erstreckenden Historisierung die Chance, das Phänomen der Nostalgie zu verfremden. Ihm gelingt es, den Blick nicht nur für die ganz unterschiedlichen Funktionen, Kontexte und (sich teils widersprechenden) Konnotationen von Nostalgie zu schärfen, sondern auch für die gesellschaftspolitischen Konflikte, die im Medium der Nostalgie konturiert, bearbeitet und ausgetragen wurden, und nach wie vor weiterhin verhandelt werden. So liefert das Buch auch ein aufschlussreiches Kapitel zur Geschichte der Gegenwart.

Ein politischer Kampfbegriff

Die zentrale These von Yesterday lautet, dass Nostalgie primär als eine Rhetorik fungierte, die zum Einsatz kam, um als nostalgisch gebrandmarkte Ansichten, Erzeugnisse oder Personen zu delegitimieren und diskursiv auszugrenzen. Nie reklamierte, wie Beckers Kasuistik eindrucksvoll veranschaulicht, ein Sprecher offensiv für sich, „nostalgisch“ zu sein – selbst nicht jene Vertreter einer konservativen Politik, denen oft zugeschrieben wird, vergangene Zustände zu verklären. Vielmehr taucht Nostalgie im Diskurs stets als abwertende Fremdzuschreibung auf, als Anschuldigung gegenüber Dritten, deren Bezugnahmen auf Vergangenes angelastet wurden, emotional und grundsätzlich irrational, eben „nostalgisch“ zu sein. Diesen generell pejorativen, anschuldigenden Charakter des Nostalgie-Begriffs belegt Becker anhand zahlreicher historischer Indizien. So wurden etwa Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien während ihrer Amtszeiten von politischen Opponenten der Nostalgie bezichtigt – Reagan musste sich den Vorwurf gefallen lassen, ein Politiker der Nostalgie par excellence zu sein (S. 74), der in die 1950er-Jahre zurückwolle; und Thatcher denjenigen, sie strebe eine Revitalisierung viktorianischer Werte an und habe mit dem Falkland-Krieg 1982 imperiale Großmachtfantasien revitalisiert. Becker hält solche Anwürfe für irreführend, da sie an der Sache vorbeigreifen und verharmlosen, was realpolitisch auf der Tagesordnung stand: Nicht um eine nostalgische Rückkehr in vergangene Zeiten ging es, auch wenn etwa Ereignisse aus der Vergangenheit und nostalgische Erinnerungen mitunter aktiv beschworen wurden, wie im Fall von Reagan, sondern um eine Neuausrichtung der Politik im Hier und Jetzt, die in der ganzen Bandbreite angesteuerter Deregulierungen und Privatisierungen öffentlicher Dienste desaströse Folgen für weite Teile der nordamerikanischen und britischen Bevölkerung nach sich zog.

Im weiteren Verlauf seiner Analyse zeichnet Becker nach, wie sich Nostalgie – als politischer Kampfbegriff und polemogene Fremdzuschreibung – in ihrem Bedeutungsumfang über die Zeit ausgeweitet hat. Fielen anfänglich nur politische Persönlichkeiten unter das abwertende Eigenschaftswort, wurden schließlich ganze Bevölkerungsteile als „nostalgisch“ denunziert. Ob Trump-Wähler:innen, Brexit-Befürworter:innen oder Ostdeutsche, sie alle fanden sich unter pauschalen Nostalgieverdacht gestellt: Trump-Wähler:innen sehnten sich nach einem weißen, christlichen Amerika zurück, Brexit-Befürworter:innen nach Großbritanniens Vergangenheit als imperialer Kolonialmacht und Ostdeutsche nach einer Rückkehr zum autoritären politischen System der DDR. Mühelos kann Becker ausleuchten, wie Nostalgie als Anschuldigung funktioniert und als politischer Kampfbegriff zur Diskreditierung und Unkenntlichmachung bestimmter Positionen und Gruppen im Diskurs eingesetzt wird. Die Meinungen und Einstellungen der als nostalgisch etikettierten Personen erscheinen so als rückwärtsgewandt, als nicht fortschrittlich, wodurch entsprechende Vergangenheitskonzeptionen zugleich als fragwürdig, unproduktiv, wenn nicht gar als gefährlich angesehen werden.

Was den Verweis auf Nostalgie als Universalschlüssel zur Erklärung für den erstarkenden und länderübergreifenden Rechtspopulismus angeht, meldet Becker auf der Spur seiner vergleichend historisierenden Argumentation erhebliche Skepsis an. Seiner Meinung nach verdeckt der Rekurs auf Nostalgie mehr als er tatsächlich enthüllt, verhindert also eher eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen des Rechtspopulismus. So weist Becker darauf hin, dass Forscher:innen wie Journalist:innen selten den Umstand berücksichtigten, dass in der Vergangenheit manches unter Umständen wirklich besser war – etwa die Höhe von Löhnen, die Mieten oder die Arbeitsplatzsicherheit, weshalb bestimmte Beschwerden durchaus ihre Berechtigung hätten (S. 112). Gerade an diesem Punkt zeigt sich, dass der Nostalgie-Vorwurf oftmals an eine privilegierte Sprecherposition geknüpft ist, die ihre Verortung nicht mitreflektiert. Zudem sei der Nostalgie-Begriff, so Becker, angesichts seiner Herkunft aus dem medizinischen Diskurs geradezu prädestiniert dazu, eine Person, ein Objekt oder eine Weltsicht zu pathologisieren.

Ein wissenschaftlich (un-)brauchbarer Begriff?

An verschiedenen Stellen seiner Untersuchung gelangt Becker zur selben Schlussfolgerung hinsichtlich der Frage, ob „Nostalgie“ überhaupt als wissenschaftlich-analytische Kategorie tauge. Sei es im Feld der Populärkultur – etwa in der Film-, Mode- oder Musikkritik –, sei es auf den Schauplätzen politischer Diskurse, stets ging mit der Bezichtigung, nostalgisch zu sein, der Vorwurf einher, rückwärtsgewandt zu sein und die Augen vor den Herausforderungen der Gegenwart zu verschließen, sich von Gefühlen statt von der Vernunft leiten zu lassen. Wer Erzeugnisse aus der Vergangenheit schlichtweg imitieren und wiederbeleben wolle, sei weder originell noch in kreativer Form auf der Höhe der Zeit. Gegen solche Verdikte führt Becker ins Feld, dass nostalgische Vergangenheitsbezüge in Wahrheit utopische Potenziale freisetzen, Vergemeinschaftung ermöglichen und innovativ sein können, wie er etwa anhand der Entstehung des Punk-Rocks in den USA der frühen 1970er-Jahre verdeutlicht. Gleichwohl sollte, Becker zufolge, der Begriff „Nostalgie“ sowohl wegen seiner belasteten Begriffsgeschichte und seiner Politisierung innerhalb ideologischer Kontroversen als auch wegen seines inhärent diffamierenden Charakters nicht zu einem explanatorischen Grundbegriff politischer Analyse gemacht werden. Seine gut begründeten Vorbehalte gegenüber dem Nostalgie-Begriff als analytischem Instrument sozialhistorischer Forschung hindern Becker jedoch keineswegs daran, für eine weitere Erforschung des Phänomens zu plädieren und insbesondere dafür, den Begriff in kritisch reflektierter Weise zu verwenden. Es sind sechs Vorschläge, mit denen er abschließend bemüht ist, einer zukünftigen Forschung zu Nostalgie eine wissenschaftlich solidere Basis zu verschaffen: Erstens mahnt Becker an, den Nostalgie-Begriff bedachtsamer, also im Effekt sparsamer zu gebrauchen, als es in der bisherigen Forschung üblich ist. Zweitens fordert er besonderes Augenmerk für den semantischen Umstand, dass die pejorativen Konnotationen, die historisch mit dem Begriff der Nostalgie assoziiert sind, ihrerseits auf ein bestimmtes, keineswegs selbstverständliches Verständnis von Zeitlichkeit in der Moderne verweisen. Drittens postuliert Becker eine Arbeitsdefinition von Nostalgie, die den Begriff gegen seine ideologischen Latenzen abschirmt. Viertens besteht er – ganz im Sinne einer qualitativ-rekonstruierenden Sozialforschung – darauf, dass eine solche Definition den Akteuren, Konflikten, Diskursen und Kontexten Rechnung tragen müsse, die den jeweiligen Sinngehalt von Nostalgie determinieren. Daraus folgt fünftens, dass begrifflich genauer differenziert und angesichts der Vielzahl und Komplexität von Vergangenheitsbezügen auch über alternative Begrifflichkeiten und Neubeschreibungen nachgedacht werden müsse. Schließlich warnt Becker vor allzu generalisierenden, letztlich essentialistischen Verwendungsweisen des Nostalgie-Begriffs – zumal vor einer eurozentristischen Übertragung des Konzepts auf nicht-westliche Gesellschaften und andere Epochen in der Globalgeschichte (S. 240).

Auf dem Weg zu einer Globalgeschichte

Mit Yesterday hat Becker einen ebenso grundlegenden wie eigenständigen Beitrag zur Erforschung des vieldiskutierten Phänomens der Nostalgie vorgelegt. Anhand einer beeindruckenden Fülle empirischen Materials wird sichtbar, dass Nostalgie weit mehr ist als eine nur individuelle und subjektive Einstellung von Menschen, die in privaten Erinnerungen schwelgen. Vielmehr identifiziert Becker Nostalgie als ein Phänomen der Sozialgeschichte, das seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Diskursen westlicher Gesellschaften zunehmend an Relevanz gewonnen hat. Als politischer Kampfbegriff konnte sich Nostalgie in dem Maße etablieren, wie Weltsichten, Praktiken, kulturelle Erzeugnisse sowie Personen mit ihren Vergangenheitsbezügen als emotional und irrational gebrandmarkt und damit diskreditiert werden sollten. Gegen diesen Typ öffentlicher Rhetorik führt Becker einen nuancierteren Blick ins Feld, der für die faktische Bedeutungsvielfalt, die verschiedenen Kontexte, Facetten, Codes und Modalitäten von Nostalgie im historischen Zeitverlauf sensibilisiert. Von daher verkompliziert Yesterday unser Verständnis von Nostalgie im besten Sinne, zeichnet das detaillierte Bild eines schillernden Affekts, der je nach Verortung und Umwelt unterschiedliche Sinngehalte aufrufen und Bedeutungen annehmen kann.

Diskussionswürdig dürfte Beckers Zurückweisung des Nostalgie-Begriffs als wissenschaftlich-analytische Kategorie sein. Sie läuft Gefahr, die generelle Diskreditierung von Emotionen und Affekten, wie sie in der westlichen Kulturgeschichte spätestens seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts prominent war, fortzuschreiben, also der fragwürdigen These beizupflichten, Gefühle und Gestimmtheiten seien schlechterdings irrational, das Andere von Vernunft. Folgte man Beckers Argumentation, könnte beispielsweise Wut kein affektiver Zustand sein, der analysetauglich wäre, da eine solchermaßen emotionale Stellungnahme sofort als irrational und „weiblich“ abgewertet, ja als atavistisch, nämlich mit dem Seelenleben „rückständiger Völker” assoziiert, zurückgewiesen würde. Wenn und weil, wie Becker seinerseits verdeutlicht, mit Affekten regiert wird, wäre eine genauere Klärung dessen wünschenswert, wie sie sich überhaupt politisieren lassen.

In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, ob ein Forschungsfeld zukünftiger Nostalgia Studies – zu dessen Grundlegung Becker beitragen will – über den rein historisierenden Zugang hinaus nicht doch systematischer Klärungen bedürfte, also ausgearbeiteter grundbegrifflicher Setzungen, die das Objekt solcher Untersuchungen präziser konturieren und das Feld trennscharf von verwandten oder familienähnlichen Phänomenen abgrenzen.

Ganz ohne Frage besteht das Verdienst von Yesterday darin, unser Alltagsverständnis von Nostalgie gründlich zu irritieren und damit zur deutlich nuancierteren Auslegung einer vielfach beschworenen, mithin auch politisch umkämpften Emotion zu gelangen. Seit einigen Jahren taucht der Nostalgie-Begriff vermehrt auch in Studien über nicht-westliche Gesellschaften auf, die versuchen, bestimmte Facetten asiatischer, lateinamerikanischer oder afrikanischer Gesellschaften zu charakterisieren. In solchen Arbeiten ist etwa von „colonial nostalgia“,[4] „authoritarian nostalgia“[5] oder „native nostalgia“[6] die Rede. Im Anschluss an Beckers genuin zeitgeschichtlichen Ansatz wäre es sicherlich aufschlussreich, eine Globalgeschichte des Nostalgie-Phänomens nachzuzeichnen und zu ermitteln, wie sich der Nostalgie-Begriff über nationale und europäische Grenzen hinweg verbreitet hat. Wie und mit welchen Effekten „Nostalgie“ in Darstellungen nicht-westlicher Gesellschaften eingegangen ist, würde uns nicht nur über solche Transfers belehren, sondern nochmals zeigen, welcher Stellenwert diesem Affekt in den Selbstbeschreibungen der westlichen Moderne zukommt.

  1. Vgl. Olivia Angé / David Berliner (Hg.), Anthropology and Nostalgia, New York 2016, S. 3.
  2. Vgl. Aliana Man Wai Leong / Shih-Shuoh Yeh / Yuh Chen Hsiao / Tzung-Cheng T.Z. Huan, Nostalgia as travel motivation and its impact on tourists loyalty, in: Journal of Business Research 68 (2015), 1, S. 81–86; Tobias Becker, The Meanings of Nostalgia. Genealogy and Critique, in: History and Theory 57 (2018), 2, S. 234–250.
  3. Charles S. Maier, The End of Longing? Notes toward a History of Postwar German National Longing, in: John S. Brady / Beverly Crawford / Sarah Elise Williarty, The Postwar Transformation of Germany. Democracy, Prosperity and Nationhood, Ann Arbor, MI 1999, S. 273.
  4. William Cunningham Bissell, Engaging Colonial Nostalgia, in: Cultural Anthropology 20 (2005), 2, S. 215–248.
  5. Yu-tzung Chang / Yunhan Zhu / Chong-min Pak, Authoritarian Nostalgia in Asia, in: Journal of Democracy 18 (2007), 3, S. 66–80.
  6. Jacob Dlamini, Native Nostalgia, Auckland Park, South Africa 2010.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Affekte / Emotionen Erinnerung Geschichte Gesellschaft Kultur Politik

Bastien Dratwa

Bastien Dratwa ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Mitglied der Forschungsgruppe „Makrogewalt“. In seinem Dissertationsprojekt befasst er sich mit kollektiver Gewalt gegen Migranten im Post-Apartheid Südafrika. Neben Postkolonialer Theorie und der Gewaltsoziologie interessieren ihn die soziologische Untersuchung von Emotionen sowie narrative Ansätze in der Kriminologie.

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