Philipp Müller | Rezension |

Alles nur geträumt

Wolf Lepenies über Unterströmungen europäischer Geschichte und deutsch-französische Rivalitäten

Wolf Lepenies:
Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa
Deutschland
München 2016: Carl Hanser Verlag
348 Seiten, EUR 24,90
ISBN 978-3-446-25212-7

Der französische Philosoph Alexandre Kojève verkörpert einen besonderen Fall der von Wolf Lepenies charakterisierten Figur des europäischen Intellektuellen: Demnach ist jene Klasse der Intelligenz, die seit dem 18. Jahrhundert in Europa entstand, als Passagier im Zug der Zeit zu charakterisieren – als wissenshungriger Reisender, den immer wieder die Lust überfällt, auch einmal den Lokführer zu spielen. Unzufrieden mit der Route des Zuges entwirft der europäische Intellektuelle die Vorstellung eines anderen, Glück verheißenden Ziels – und leidet daran, diese Alternative nur in der Phantasie befahren, nicht aber eigenmächtig ansteuern zu können.[1]

Kojève, der am Anfang von Lepenies’ neuer Studie zu französischen Träumen eines anderen Europa steht, versuchte auf eindrückliche Weise, dieser Ohnmacht des Intellektuellen zu entkommen: Er beließ es nicht dabei, Seminare zur Einführung in Hegels ‚Phänomenologie des Geistes’ im Paris der 1930er-Jahre abzuhalten und dabei vor Hörern wie Maurice Merleau-Ponty, Jacques Lacan, Georges Bataille, Raymond Aaron eine eigene Geschichtsphilosophie zu entwickeln. Vielmehr wurde Kojève nach dem Zweiten Weltkrieg im französischen Wirtschaftsministerium hoher Beamter einer Stelle zur Förderung des nationalen Außenhandels. Er hoffte, mit seinen Ideen die Regierung und ihre Politik unmittelbar zu beeinflussen. Nur der praktische Erfolg der eigenen philosophischen Pädagogik, so Kojève, sei ein objektives Kriterium für die Wahrheit ihrer philosophischen Doktrin.[2]

Aus dieser Motivation heraus verfasste Kojève 1945 eine zu seinen Lebzeiten nur verwaltungsintern verbreitete Skizze zur französischen Nachkriegspolitik, in der er für ein alternatives Reich neben dem angelsächsischen und dem sowjetischen Imperium warb: für die Gründung einer Union der lateinischen Länder des Mittelmeers. Als unweigerliche Mitglieder des Lateinischen Reichs waren vor allem Spanien und Italien vorgesehen, die mit Frankreich sowohl durch die katholische Konfession als auch die romanische Sprache in einer gemeinsamen Zivilisationstradition standen. Sie sollten – ergänzt durch Kolonien in Nordafrika – aus der Mittelmeerregion einen einheitlichen Wirtschaftsraum machen und so die eigenen politischen und kulturellen Besonderheiten wahren. Eine wichtige Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg des Lateinischen Empire sah das Strategiepapier in der Versorgung mit deutscher Kohle. Hierzu sollte Frankreich die Schwäche seines Nachbarstaats in der Nachkriegssituation nutzen und die eigenen Interessen ihm gegenüber dauerhaft durchsetzen.

Kojèves Memorandum weist zentrale Merkmale einer Vielzahl französischer Projekte zur Gründung eines südeuropäischen Machtbereichs am Mittelmeer auf, die Lepenies in seinem Buch vom 19. bis ins 21. Jahrhundert hinein textnah verfolgt. So entwarf der Saint-Simonist und spätere Wirtschaftsberater Napoleons III. Michel Chevalier in den frühen 1830er-Jahren Pläne für eine „Mittelmeer-Konföderation“, die mittels eines Netzwerks aus Wasserstraßen und Schienen zunächst eine wirtschaftliche und dann später auch politische Gemeinschaft herbeiführen sollte. Und noch Nicolas Sarkozys Redenschreiber Henri Guiano hat diesem während des Wahlkampfs in Frankreich 2007 den Plan zur Gründung einer Mittelmeerunion eingegeben, um mithilfe eines vereinten „Europas des Südens“ das Übergewicht des „Europas des Nordens“ in der EU zurückzudrängen.

Die von Lepenies zusammengetragenen Zeugnisse machen damit auf eine alternative Deutung der europäischen Geschichte aufmerksam, die von der öffentlich dominierenden, modernisierungstheoretisch inspirierten Lesart abweicht. In der verbreiteten Lesart wird die Einheitlichkeit des europäischen Südens aus seiner politischen und wirtschaftlichen Rückständigkeit abgeleitet. Der Gegensatz zu einem aufgeklärten, demokratischen, wirtschaftlich erfolgreichen Norden dient darin der Konstruktion eines geschichtlich-geographischen Raums „Südeuropa“, der – verhaftet in Katholizismus, politischem Klientilismus und Müßiggang – den Schritt in die Moderne nicht vollständig bewerkstelligt habe.[3] Diese Perspektive ist immer wieder auch in der auf eine solche Weise charakterisierten Region selbst akzeptiert worden. In Frankreich haben politische und administrative Eliten im Sinne einer solchen europäischen Modernisierungsgeschichte wiederholt die Notwendigkeit betont, sich aus der „südeuropäischen“ Verwandtschaft zu lösen. Bereits während und nach dem Ersten Weltkrieg wurde dies an der Binnendifferenzierung zwischen einem „fortschrittlichen“ französischen Norden und einem „zurückgebliebenen“ Midi sichtbar. Nach 1945 forderte man eine nachhaltige Änderung der angeblich innovationsscheuen französischen Mentalität, um durch neue Technologien wie Atomkraft und Hochgeschwindigkeitszüge Anschluss an die USA und Westdeutschland zu finden.[4] Lepenies erinnert demgegenüber nachdrücklich daran, dass sich die südeuropäischen Verbindungen auch als Anteil Frankreichs an der Wiege einer lateinischen Zivilisation darstellen ließen, die es gegen einen barbarischen Norden zu verteidigen gelte. Nur eines seiner vielen verwickelten Beispiele des 20. Jahrhunderts hierfür bieten die Hoffnungen der Rechtsextremen Charles Maurras und Henri Massis auf eine lateinische Union der Länder Südeuropas, die ein autoritär gestiftetes, romanisches Bollwerk gegen die germanische Bedrohung des Totalitarismus bilden sollte.

Neben einer modernen Umkehrung der bekannten Abwertung Südeuropas macht Lepenies’ Zusammenstellung damit auch darauf aufmerksam, dass die von ihm behandelten Vorstellungen französischer Intellektueller zwar auf den Mittelmeerraum gerichtet sein mochten, die damit erdachte Region ihren Sinn jedoch nur dadurch erhielt, dass andere europäische und darüber hinausreichende Raumkonstrukte implizit oder explizit mit einbezogen wurden. Ein lateinisches Mittelmeer erhielt erst in Relation zu einem barbarischen oder kapitalistischen Norden oder zwischen einem liberalistischen Westen und kommunistischen Osten seine Bedeutung. Der Bau solch relationaler Identitätsangebote ist an sich zwar nichts Besonderes, birgt in diesem Fall jedoch eine gewisse Sprengkraft, die Lepenies nur anklingen lässt. Sowohl Maurras als auch Kojève und Guiano hatten in ihren Projekten die Stärkung Frankreichs im Blick, ersannen zu diesem Zweck jedoch ein Mittel, das den Raum des Nationalstaats überschritt. Damit folgten sie in Teilen der kolonialgeschichtlichen Tradition Frankreichs, in der es ebenfalls heterogene Elemente von Metropole und Peripherie in die Raumvorstellung eines Kolonialreichs zu integrieren galt. Die damit produzierten Widersprüche hat ein bekannter Band von Frederick Cooper und Ann Laura Stoler auf die Formel „Tensions of Empire“ gebracht.[5] Im Sinne dieser Formel rekurrierten die Entwürfe eines Lateinischen Reichs einerseits auf die Vorstellung eines durch die besonderen klimatischen und räumlichen Bedingungen der Mittelmeerregion hervorgebrachten Menschenschlags (Lepenies nennt dies den Montesquieu-Effekt). Andererseits vermieden sie in auffallender Weise den Rekurs auf das Konzept einer lateinischen Rasse und stellten vielmehr spezifische Werte und ihre geschichtliche Verankerung in den Vordergrund. Wie sich diese und vergleichbare Spannungen auswirkten, wenn man sie nicht mehr allein im kolonialen Bezugsraum, sondern im Anschluss an Lepenies als konkurrierende Konzepte Europas betrachtet, sollte weitere Forschungsarbeit provozieren.

Wie Lepenies im Interview mit “Soziopolis“ hervorhebt, versteht er die von ihm behandelten Vorstellungen keineswegs als Ausdruck einer besonderen kulturell geprägten Lebenseinstellung, sondern als Versuche einer bestimmten Gruppe von Akteuren, sich durch den Rückgriff auf das Konstrukt der „Latinität“ politischen Einfluss zu verschaffen. Der Schwerpunkt auf Fantasien von Intellektuellen erklärt in Teilen, warum ein breiter, gut erforschter Kreis von Konstruktionen des Mittelmeerraums in dem Buch keine Rolle spielt: Seit Napoleons Zug nach Ägypten 1798 erforschten Naturwissenschaftler verschiedener Disziplinen die Ähnlichkeiten der Regionen um das Mittelmeer in Abgrenzung zum afrikanischen und asiatischen Kontinent. Bis in die 1950er-Jahre finanzierte Frankreich großzügig Institute der „Mittelmeerforschung“.[6] Die hierbei erstellten Repräsentationen einer einheitlichen Region waren keineswegs frei von Ideologie und ließen sich zur Rechtfertigung von Machtansprüchen in Nordafrika nutzen; sie entstanden jedoch aus einem kommunikativen Regelwerk, das für die von Lepenies favorisierten Mittelmeer-Advokaten nicht galt. Für Lepenies entstand der moderne Intellektuelle in einem Prozess der „Entmoralisierung der Wissenschaften“, an dessen Ende Wissenschaftler auf die Einmischung in politische und religiöse Auseinandersetzungen verzichteten, während sich die Entwürfe alternativer Welten von Intellektuellen gerade offen auf diese Konflikte bezogen.[7] Dass ihre Vorschläge dabei einem Reich der Vorstellung entstammten, hat Intellektuelle nicht daran gehindert, sie mit Verve zu vertreten, um auf ihre gesellschaftliche Gegenwart Einfluss zu nehmen.

Dies gilt nicht zuletzt auch für die Vorschläge von Alexandre Kojève. Er glaubte an die Chance eines lateinischen Europa aufgrund seiner geschichtsphilosophischen Prämissen. Demnach stand ein Ende der Geschichte unmittelbar bevor. Während die Zeit der Geschichte für Kojève durch ein beständiges Streben des Menschen nach Anerkennung angetrieben war, ermöglichte das anschließende geschichtslose Stadium neue Formen menschlicher Muße. Für den Aufbruch in diese Welt verschaffte ihre lateinische Tradition den Südeuropäern aus Kojèves Sicht einen klaren Startvorteil.

  1. Vgl. Wolf Lepenies, Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt am Main / New York 1992, S. 14.
  2. Vgl. Alexandre Kojève, L’action politique des philosophes (1950), hier nach Leo Strauss, On Tyranny. Corrected and expanded edition, Including the Strauss-Kojève Correspondance, hg. v. Victor Gourevitch / Michael S. Roth, New York 2013, S. 129.
  3. Vgl. Martin Baumeister / Roberto Sala, "A Long Road South. Southern Europe as a Discursive Construction and Historical Region after 1945”, in: dies. (Hg.), Southern Europe? Italy, Spain, Portugal and Greece from the 1950’s until the Present Day, Frankfurt am Main 2013, S. 19–50.
  4. Vgl. u. a. Gabrielle Hecht, The Radiance of France. Nuclear Power and National Identity after World War II, Cambridge/London 1998.
  5. Vgl. Frederick Cooper / Ann Laura Stoler, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley u. a. 1997, S. 1–56, hier besonders S. 22–23.
  6. Vgl. zusammenfassend Manuel Borutta / Fabian Lemmes, Die Wiederkehr des Mittelmeerraumes. Stand und Perspektiven der neuhistorischen Mediterranistik, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 389–419, hier S. 398 f.
  7. Vgl. Lepenies, Aufstieg und Fall der Intellektuellen, S. 30.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Politik Kultur Geschichte Europa

Philipp Müller

Dr. phil. Phillip Müller ist Wissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seine Interessenschwerpunkte sind die Geschichte der Politischen Ökonomie in Europa, die Geschichte politischer und ökonomischer Ideen sowie die Geschichtstheorie und die Geschichte der Geschichtswissenschaft.

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