Herbert Schwaab | Essay |

Alte und neue Wirklichkeiten der Serie

Von „Die Firma Hesselbach“ zu „Druck“

1996 rief der Fernsehwissenschaftler Robert J. Thompson das „zweite goldene Zeitalter des Fernsehens“ aus. Er bezog sich hierbei auf Fernsehserien, die sich vom regulären Fernsehen unter anderem dadurch unterschieden, dass sie ein Gedächtnis, ein großes Figurenarsenal und eine Tendenz zum Realismus hatten.[1] Thompson skizzierte mit seiner oftmals etwas wertenden Definition von Quality TV eine Form serieller Produktion, die derzeit die Fernsehlandschaft und vor allem Streaming-Anbieter wie Netflix oder Amazon Prime dominiert: Serien, die sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, die ein Interesse an der psychologischen Tiefe ihrer Figuren haben, die politisch brisante Themen ansprechen und die mit all dem eine begeisterte Zuschauerschaft finden. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit den finanziellen Nöten eines drogenkochenden und todkranken Chemielehrers in Breaking Bad (USA, 2008–2013), mit Korruption und organisierter Kriminalität in New Jersey sowie den Widersprüchen zwischen häuslicher und krimineller Aktivität in der Mafiaserie The Sopranos (USA, 1999–2007), mit dem Zerfall Neapels und den Verbrechen der Cosa Nostra in Gomorrha (Italien, 2014–2021) oder mit den politischen Tumulten und der Lebenslust der Weimarer Republik in Babylon Berlin (Deutschland, 2017–2021).

Ein Abbild der Wirklichkeit?

Die Popularität solcher realitätsnaher Serien wirft die Frage auf, ob Serien die Wirklichkeit (auf besondere Weise) abzubilden vermögen. Eine erste Antwort darauf lautet Ja: Je länger ein Format läuft, desto mehr Möglichkeiten hat es, die Wirklichkeit genau zu dokumentieren, desto intensiver kann es sich mit den Vorstellungen von Menschen und mit den Effekten gesellschaftlicher Veränderungen beschäftigen. Andererseits ist die Serie zirkulär, ihr Ziel ist Endlosigkeit und eine möglichst große Zahl an Episoden. Für die Fernsehindustrie bedeutet das Ende einer Fernsehserie immer einen Verlust, wie Jason Mittell es beschreibt, da es auch das Ende der Verwertbarkeit eines Themas anzeigt.[2] Deswegen dehnt und wiederholt die Serie ihren Inhalt, gleichmütig nur am Erhalt ihrer Existenz interessiert. Besonders deutlich zeigt sich dies in wenig geachteten Formen wie der melodramatischen Endlosserie, der Soap Opera, die als akkumulative Erzählung Probleme anhäuft und nie zu einem Ende kommen wird, oder in episodischen Krimiserien und Sitcoms, die oftmals lange laufen, aber wie die Simpsons in einer ewigen Gegenwart gefangen sind, keinen Fortschritt kennen, nur temporäre Irritation während einer Episode erleben und an deren Ende immer zu einem Status Quo zurückkehren.[3] Ob es nun als episodische Serie an einem Punkt verharrt oder als Soap Opera kein Ende nimmt, das Serienformat suggeriert stets, die Wirklichkeit sei gleichermaßen stabil, nicht veränderbar, biete ebenso keine Lösungen oder keinen Ausweg an. Unter anderem wegen dieser Verblendung hatte die Serie lange Zeit einen schlechten Ruf.

In meinem Beitrag werde ich die These formulieren, dass die ewige Wiederkehr des Immergleichen, die Redundanzen der Serie keine spezifische – nämlich kommerzielle und degenerierte – Form von Serialität darstellen, sondern dass darin das Wesen von Serialität besteht, das dementsprechend alle Serientypen teilen. Die Redundanzen der Serie haben eine Funktion: Sie beweisen die Alltagsnähe der Serie, ihre Affinität zu den Strukturen des Alltags, seiner Zeitlichkeit, seinen Rhythmen. Die Alltäglichkeit der Serie entspricht zudem der Unmittelbarkeit und der ‚liveness‘, dem starken Live-Charakter, des Fernsehens, das als Übertragungsmedium im Unterschied zum Kino einen stärkeren Gegenwartsbezug hat – eine Eigenschaft, die am Anfang jeder televisuellen Serialität steht. Misha Kavka bezeichnet das Fernsehen daher als eine Technologie der Intimität.[4]

Spezifika von Sitcom und Soap Opera

Sitcom und Soap Opera sind ein Ausdruck dieser Technologie der Nähe. Die Sitcom kommt uns in den frühen Formaten buchstäblich nahe und entdeckt eine medial völlig neue Welt, eine sichtbar kleinere Welt als die im Kino. The Honeymooners, einer der Prototypen der US-Sitcom in den frühen 1950er-Jahren, kennzeichnet eine bemerkenswerte Leere und Enge der Räume. Die ganzen Habseligkeiten eines Paares haben dort Platz in den drei Schubladen einer Kommode, die Enge kontrastiert auf groteske Weise mit dem fülligen Leib des Komikers Jackie Gleason, der den in diesem Leben eingesperrten Busfahrer und Ehemann spielt.[5] Ähnlich karg sind die Räume in Coronation Street, eine der ersten dem sozialen Realismus verpflichteten britischen Soap, die seit 1960 und bis heute produziert wird. Sie widmet sich den beengten und in vielerlei Hinsicht beklemmenden Lebensrealitäten verschiedener Repräsentant:innen der Arbeiterklasse einer nordenglischen Großstadt.[6] Die genannten Formate machen deutlich, dass uns im Fernsehen – anders als im Kino – keine Welt begegnet, die ‚bigger than life‘ ist, sondern unsere eigene uninteressante und kleine Welt. Erst das Medium Fernsehen macht diese Welt interessant. Formate wie die Sitcom eröffnen damit eine neue Perspektive auf banale Aspekte unseres Alltags, wie etwa in einer Episode von I Love Lucy (USA, 1951–1957) von 1952, in der es darum geht, dass Lucy den Schnurbart ihres Ehemannes nicht ertragen kann, oder in einer Folge der Sitcom King of Queens (USA, 1998–2007) fünfzig Jahre später, die die wichtige ethische Frage diskutiert, ob es in Ordnung ist, Dinge zu behalten, die beim Bezahlen an der Kasse versehentlich nicht registriert wurden. Der Fokus auf Alltag und Familie offenbart sich auch in seriellen Formaten, die in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren im deutschen Fernsehen liefen, obwohl Serien hierzulande bis in die 1970er-Jahre hinein eine relativ kleine Rolle spielten.[7] Es sind harmlose, leidlich komische Serien mit unspektakulären Ereignissen. So schildert Die Firma Hesselbach (1960/1961) die Vorgänge und Probleme beim Führen eines Familienbetriebs, während eine Episode von Die Schölermanns (1954–1960) eine Urlaubsreise in die deutsche Provinz darstellt, die von einer Autopanne gestört wird.

Der wichtigste Indikator für Alltäglichkeit ist das Merkmal der Zeit: Sie vergeht in der Soap oftmals sogar noch langsamer als in der Wirklichkeit.

Das US-Format der Soap Opera, das es seit den 1940er-Jahren im US-Fernsehen gibt und einige über Dekaden laufende Serie hervorgebracht hat, ist mit Blick auf seine Alltäglichkeit in vielerlei Hinsicht interessant. In der Soap sollen Figuren gerade so attraktiv sein, dass ihr Aussehen nicht vom Geschehen ablenkt.[8] Sie konzentriert sich auf Familien und soziale Gemeinschaften in den Vorstädten und Kleinstädten der USA und wird wegen ihrer Cliffhanger-Struktur mit vielen kleinen Höhepunkten als überdramatisch und unrealistisch bezeichnet, obwohl sie sich – zumindest in der britischen Soap – erstaunlich oft mit der Realität und mit sozialen Problemen wie Ehebruch und Abtreibung beschäftigt.[9] Der wichtigste Indikator für Alltäglichkeit ist das Merkmal der Zeit: Sie vergeht in der Soap oftmals sogar noch langsamer als in der Wirklichkeit.[10]

Elemente der Soap Opera gehören durch eine Reihe von Transfers mittlerweile zum Mainstream televisueller Realität. Erstens übernahmen sogenannte Prime-Time-Soaps und Serien wie Dallas (USA, 1978–1991) oder Dynasty (USA, 1981–1988, dt. Titel: Denver Clan) seit den späten 1970er-Jahren Elemente der Soap Opera – die vielen Figuren, parallel laufende Handlungsbögen und eine Cliffhanger-Struktur der vielen Höhepunkte und Unterbrechungen –, verbreiterten zur Hauptsendezeit das Publikum dieser seriellen Form und machten sie schließlich zu einem globalen Erfolg. Der zweite Transfer betrifft das Genre des Quality TV, in das die Soap Opera seit den frühen 1980er-Jahren diffundierte. Die Serie Hill Street Blues (USA, 1981–1987) adaptierte die fortlaufende Erzählung der Soap Opera und kombinierte sie mit dem episodischen Muster der Krimiserie.[11] Sie ist ein frühes Beispiel für einen Genrehybrid, wie er typisch für Quality TV oder heutige Serienerfolge von Streaming-Anbietern ist. Das beste Beispiel dafür ist Twin Peaks (USA, 1990/1991), eine wilde, postmoderne Mischung von Mystery, Horror, Sitcom und art house cinema. Für Identifikation und Bindung der Zuschauenden sorgt das melodramatische Element dieser „dark soap opera“ mit ihren vielen Figuren, Handlungsbögen und Dramen.[12] Spätere Serienerfolge wie Lost in den 2000er-Jahren sind noch komplexere Genrehybride, sie intensivieren und potenzieren das Melodrama, indem sie Mystery-Elemente integrieren – etwa dunkle Geheimnisse, die mittels Rückblenden erschlossen werden, und parallele Realitäten, die erstaunlich oft denen von Soap Operas ähneln.

Im Kern sind viele Serien, wie Linda Williams betont, von den Wiederholungen, den Gefühlen sowie dem Rhythmus und Drama von Soap Operas geprägt, auch wenn sie häufig so tun, als ob sie etwas Besseres als klassisches serielles Fernsehen wären.[13] Denn Fernsehserien sind seit im Zeitalter des Quality TV mit Distinktionsgewinnen verbunden, insofern sie auf den richtigen Sendern oder bei den richtigen Streaming-Anbietern laufen. Schon Jane Feuer machte in den 1980er-Jahren deutlich, dass Quality TV nicht die Qualität des Fernsehens meint, sondern die ‚Qualität‘ seiner Zuschauenden, das heißt die Zusammensetzung des Publikums, das mit einer Serie erreicht werden soll, um Werbung zu verkaufen: Man will nicht mehr ein möglichst breites Publikum erreichen, sondern ein städtisches, modernes, liberales und konsumfreudiges, das mit zielgenauer Werbung adressiert werden kann.[14] Quality TV und Plattformen wie Netflix bescheren ihren Zuschauer:innen Distinktionsgewinne und kulturelles Kapital, die Serien vermitteln das Gefühl, schlauer und anders als das normale Fernsehpublikum zu sein. Netflix gelingt es zudem, durch die Datafication des Publikums den Eindruck zu erwecken, ein genau auf dessen besondere Wünsche zugeschnittenes, individuelles Programm anzubieten.[15] Während herkömmliche Fernsehsender noch immer eine größere Reichweite besitzen, orientiert sich Netflix an einem diversen Nischenpublikum,[16] weswegen die Plattform auch als Massennischenfernsehen bezeichnet werden kann.[17]

Erzählweise und Reichweite der Serie

Netflix und andere Plattformen scheinen auf den ersten Blick an der Wirklichkeit interessierte und formal innovative Serien zu produzieren, auf den zweiten Blick handelt es sich jedoch um serielle Standardware. Ein Format wie Making of a Murderer (USA, 2015) ist ein typisches True-Crime-Format von Netflix für ein großstädtisches, liberales Publikum. Es untersucht in einer serialisierten Dokumentation einen vermutlichen oder vermeintlichen Justizirrtum, aufgrund dessen ein Mann zwanzig Jahre unschuldig eingesperrt worden war, bevor ihn dieselben polizeilichen Ermittler für einen zweiten Mord ins Gefängnis brachten. Die Serie prangert die Ungerechtigkeit des Justizsystems an, sie ist emotional bewegend und brachte viele Zuschauer:innen dazu, sich etwa durch das Unterschreiben von Petitionen für den Protagonisten zu engagieren. Allerdings greift die auf den ersten Blick aktivistische True-Crime-Serie deutlich zu kurz: Sie fokussiert sich einzig auf die Schuld oder Unschuld einer individuellen Figur, ohne nach den tieferliegenden strukturellen Ungerechtigkeiten des US-amerikanischen Justizsystems zu fragen.[18] Die Serie lebt von ihren melodramatischen Momenten und ihrem Doku-Soap-Charakter, Cliffhanger halten das Publikum von Folge zu Folge bei der Stange, immer wieder wird zunächst vorenthaltenes Wissen in emotionalisierten Momenten ausgespielt, um die Serialisierung eines Mordfalls spannend zu gestalten.[19] Das Ergebnis ist eine emotional ergreifende Serie, der es zwar in Ansätzen gut gelingt, die sozialen Geografien eines abgehängten Amerikas zu untersuchen, die aber in der Analyse des eigentlichen Falls dann doch an der Oberfläche bleibt und im Umgang mit Fakten immer wieder manipulativ erscheint. Es wirkt bisweilen, als würde die Analyse der Wirklichkeit nur vorgespielt. Hinsichtlich der Mobilisierung der Zuschauenden und deren häufig symbolischer Partizipation ist zudem zu bedenken, dass das Publikum von Serien heute doch sehr klein bleibt. Im Jahr 2023 gab es im US-Fernsehen keine einzige Serie, die die Zahl von 10 Millionen Zuschauer:innen erreichte.[20]

Ein historisches Gegenbeispiel macht deutlich, wie sich die Zuschauerschaft verändert hat. Die erste Episode der Serie Holocaust hatte 1978 bei ihrer Ausstrahlung 65 Millionen Zuschauende in den USA.[21] Die scheinbar simpel gestrickte, sich an der Soap Opera orientierende und somit melodramatische Serie stand häufig in der Kritik aufgrund ihrer Trivialisierung der Nazi-Verbrechen.[22] Es waren aber gerade ihre einfachen televisuellen Eigenschaften, mittels derer sie nicht nur das US-amerikanische, sondern auch das deutsche Publikum erreichte und die Empathie für die Schicksale der jüdischen Opfer und Erschrecken über die Verbrechen vieler Deutscher evozierten. Gerade weil in den Fluss einer seriellen Erzählung und ihrer Soap-Opera-typischen Struktur (kleine Einheiten) auch drastische Schilderungen, zum Beispiel der ‚Euthanasie‘ von Menschen mit Behinderung durch Autoabgase, eingebunden wurden, konnte das Publikum auf den Schrecken vorbereitet und dennoch von ihm berührt werden. Dazu kommt noch etwas, das heute keine Serie mehr schaffen kann: In einer Sendelandschaft, die in den USA wie in der Bundesrepublik damals von sehr wenigen Sendern geprägt war, hatte die Serie auch in Deutschland unglaubliche Einschaltquoten und bis zu 20 Millionen Zuschauer:innen.[23] Ein heterogenes Publikum für einen verunsichernden und destabilisierenden Inhalt zu interessieren, ist eine Leistung, die die erfolgreichen Serien des linearen Fernsehens noch erbringen konnten – und Holocaust hat dies erreicht, weil es eine ‚einfache‘ Serie war.

Potenziale der Serie

Was können Serien heute ohne Aussicht auf ein solch großes Publikum noch leisten? Die Verwandtschaft dieser und vieler anderer Serien mit der Soap Opera weist darauf hin, was die Serien anbieten: Sie ermöglichen weniger eine genaue Analyse der Gründe und Motive, die zu Handlungen und Taten führen, als vielmehr eine emotionale Verarbeitung von Problemen, die mit der historischen Wirklichkeit korrelieren. So beschreibt Deidre Pribram Breaking Bad als eine Serie, der es nicht um Einsicht in die psychologischen Motive der Hauptfiguren geht, sondern um wiederkehrende, emotional ausdrucksstarke Momente, die um die Grundkonflikte und ständigen Provokationen der Beziehung von Walter White und seiner Frau kreisen.[24] Gerade wenn sie die Analyse von Ereignissen an Emotion und Affekt koppeln und damit das Fernsehserien inhärente Melodrama neu interpretieren, erscheinen Serien relevant. Einige der in den letzten Jahren von Plattformen produzierten oder bereitgestellten Serien orientieren sich nicht ausschließlich am psychologischen Realismus, sondern vermitteln durch innovative Erzählformen und Ästhetiken auch die mit Ereignissen verbundenen Gefühlslagen.

Neben der großen Anzahl an serieller Standardware schaffen es Streaming-Dienste immer wieder, sowohl formal interessante als auch politische relevante und subversive Serien hervorzubringen. Die Netflix-Serie When They See Us (USA, 2019) ist zum Beispiel eine äußerst ergreifende fiktionale Auseinandersetzung mit einem Fall, bei dem schwarze Jugendliche, die man im New York der 1980er-Jahre durch politische Intrigen unschuldig einer Vergewaltigung bezichtigt, für über ein Jahrzehnt ins Gefängnis kommen. Die Mini-Serie von Ava DuVernay verzichtet auf gängige Formen des Spannungsaufbaus und einer melodramatisierten Darstellung, stattdessen bietet sie mit jeder Episode eine neue Perspektive auf die Figuren, ebenso wie einen durch die formale Gestaltung erzeugten anderen Tonfall und eine andere Emotionalität. Die Serien der deutschen Autorin und Produzentin Annette Hess schaffen es immer wieder, formale Experimente mit der Auseinandersetzung mit Geschichte zu verknüpfen. So orientiert sich die Serie Weissensee (Deutschland, 2010–2018) an Serien wie Dallas, um mit den redundanten Mustern der Prime-Time-Soap die politischen Verhältnisse der DDR bewusst auf ein Familiendrama zu reduzieren, das trotz seiner stereotypen Figuren zu vermitteln versteht, wie sich Konformität und Widerstand in der DDR angefühlt haben mögen. Ihre auf Disney+ veröffentlichte Serie Deutsches Haus (Deutschland, 2023) setzt sich mit den Frankfurter Prozessen gegen Nazi-Täter in den 1960er-Jahren auseinander. Hier wird die Familiengeschichte einer jungen Übersetzerin, die den Prozess begleitet und die Aussagen polnischer Opfer und Zeugen übersetzt, mit der Aufarbeitung der Schuld verwoben, dabei setzt die Serie keinen eindeutigen Fokus, versucht nicht, ihre Figuren vollends zu erklären. Deutsches Haus vermeidet die naive Psychologisierung, der viele ‚komplexe‘ US-Serien unterliegen, die Serie hat enigmatische, sprunghafte und damit umso sinnlichere Figuren. Die Netflix-Serie Dahmer-Monster von Ryan Murphy setzt sich mit dem Serienmörder Jeffrey Dahmer auseinander (USA, 2022) und wechselt ebenso wie Deutsches Haus immer wieder die Tonlage und den Fokus, erzeugt mit überaus packenden, spannenden Szenen Mitgefühl für die Opfer, übernimmt für eine ganze Episode die Perspektive eines der Opfer, versucht aber auch, Empathie für Dahmer zu schaffen, dessen unglückliche und einsame Kindheit ein Motiv für seine Verbrechen gewesen sein mag. Der Showrunner Ryan Murphy ist einer der wenigen Serienmacher, die konsequent ein eigenes ästhetisches Serienuniversum konstruieren, mit großem Stilbewusstsein und vielen Übertreibungen und Campiness, die in queerer Kultur verortet ist. Dabei spielt er mit Genres wie Horror, Mystery und True Crime. Die Staffel Cult (2017) der Anthologieserie American Horror Story widmet sich den USA nach der Wahl von Trump zum Präsidenten. Der wahre Horror populistischer Diktatur lässt sich nicht analysieren und erklären, aber gut mit den hermetischen, immer wieder Staffel für Staffel neu erfundenen Horrorwelten dieser Serie aufrufen.

Die Zumutungen, Irritationen, Unsicherheiten und Verletzungen unserer Zeit finden im Gefühlsmodus der Serie und der Soap ihre Verarbeitung – durch Wiederholung, Insistieren und narrativen wie visuellen Exzess.

Der schiere Überfluss an Serien und ihre Popularität lässt sich also nicht nur als ein künstlerischer Wettkampf um distinktionsgierige Zuschauende begreifen, sondern auch als Symptome einer Zeit voller Zumutungen, Irritationen, Unsicherheiten und Verletzungen, die im Gefühlsmodus der Serie und der Soap Verarbeitung durch Wiederholung, Insistieren und narrativen wie visuellen Exzess finden. Ein weiterer angesprochener Aspekt von Serien und von Fernsehen als eine Technologie der Intimität findet Berücksichtigung in einer neuen Serienästhetik und Adressierungsstrategie. So setzen sich Sitcoms immer noch mit Alltag und Verhalten von Menschen auseinander, allerdings nicht mehr als Live-Sitcom vor Studiopublikum. Seit den 2000er-Jahren sorgen mockumentarische Sitcoms mit Formaten wie The Office (GB, 2001–2004) oder Modern Family (USA, 2009–2020) pseudodokumentarisch für eine unmittelbare Darstellung der Wirklichkeit. Sie tun so, als würden sie die Wirklichkeit dokumentarisch überwachen und bilden dabei die Realität der vielen Facetten menschlichen Verhaltens ab: The Office beispielsweise leistet eine Auseinandersetzung mit neoliberalen Vorstellungen von Identität und Selbstdarstellung in Arbeitsprozessen. Diese Serien schaffen authentische und intensive Momente voller Fremdscham, ultimative Formen televisueller Intimität, weswegen Brett Mills im Zusammenhang mit diesem Genre von einer Komödienform spricht, die auf Peinlichkeit und Scham ausgerichtet ist:[25] Die mockumentarische Sitcom bereitet den Zuschauenden mit ihren Cringe-Elementen eine neue Form unmittelbaren Vergnügens.

Es gibt allerdings auch behutsamere Übersetzungen televisueller Intimität, die durch das Zusammenspiel von Fernsehen, Internet und Social Media erzeugt werden. Druck (Deutschland, 2018–2022), für die Jugendplattform Funk des öffentlich-rechtlichen Fernsehens produziert, definiert die Serie auf tatsächlich neue Weise. Sie lässt sich sowohl in einzelne Momente unterteilt, als auch in Episoden zusammengefasst schauen, ist mit Social Media Auftritten bei Instagram korreliert und synchronisiert sich mit dem Alltag des Publikums durch Chats mit den Figuren auf WhatsApp. Die Serie nähert sich vorsichtig der Lebenswelt junger Schüler:innen und ihren Problemen mit Liebe, Sexualität, Schule, Erfolgsdruck und neuen Medien. Es ist eine Serie, die nicht nur so tut, als würde sie die Wirklichkeit abbilden. Sie zeigt Menschen, die essen, trödeln, lernen, reden und einfach nur Zeit verbringen und erreicht damit eine neue Dimension von Alltäglichkeit und Beiläufigkeit – beides Momente, die der Serie in ihrem Fokus auf das Gewöhnliche immer eingeschrieben waren, die sich aber immer stärker verflüchtigt haben. Druck zeigt keine Wirklichkeit großer Dramen und kein von televisuellen Rhythmen getaktetes Leben, die Produktion steht vielmehr für die ebenso alte wie neue Wirklichkeit der Serie. Sie ist eines der wenigen Formate, das im Internet nicht nur Erfolg hat, sondern diesem auch Bedeutung gibt und damit die Serialität des Fernsehens weiterentwickelt.

  1. Robert J. Thompson, Television’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER, Syracuse, NY 1996, S.13 f.
  2. Jason Mittell, Complex TV. The Poetics of Contemporary Television Storytelling, New York 2015, S. 321.
  3. John Ellis, Fernsehen als kulturelle Form, in: Ralf Adelmann / Jan O. Hesse / Judith Keilbach / Markus Stauff / Matthias Thiele (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie, Geschichte, Analyse, Konstanz 2001, S. 44–73, hier S. 56.
  4. Misha Kavka, Reality Television, Affect and Intimacy. Reality Matters, London 2008, S. 5.
  5. Virginia Wright Wexman, Returning from the Moon. Jackie Gleason and the Carnivalesque, in: Joanne Morreale (Hg.), Critiquing the Sitcom. A Reader, Syracuse, NY 2003, S. 56–68, hier S. 63.
  6. Ros Jennings, Coronation Street, in: Glen Creeber (Hg.), Fifty Key Television Programmes, London 2004, S. 55–59, hier S. 56.
  7. Knut Hickethier, Geschichte des deutschen Fernsehens, unter Mitarb. von Peter Hoff, Stuttgart/Weimar 1998, S. 158.
  8. Tania Modleski, Die Rhythmen der Rezeption. Daytime-Fernsehen und Hausarbeit, in: Adelmann et al. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 376–387, hier S. 377.
  9. Tania Modleski, The Search for Tomorrow in Today’s Soap Operas, in: Kaitlynn Mendes (Hg.), Gender and the Media. Critical Concepts in Media and Cultural Studies, Bd. 2: Representing Gender, New York / London 2017, S. 61–79, hier S. 62.
  10. Modleski, Die Rhythmen der Rezeption, S. 377.
  11. Thompson, Television’s Second Golden Age, S. 35.
  12. David Lavery, Twin Peaks, in: Creeber (Hg.), Fifty Key Television Programmes, S. 222–226, hier S. 223 f.
  13. Linda Williams, World and Time. Serial Television Melodrama in America, in: Christine Gledhill / Linda Williams (Hg.), Melodrama Unbound. Across History, Media, and National Cultures, New York 2018, S. 169–183, hier S. 176.
  14. Vgl. Jane Feuer, MTM Enterprises. An Overview, in: dies. / Paul Kerr / Tise Vahimagi (Hg.), MTM. ‚Quality Television‘, London 1984, S. 1–31.
  15. Sarah Arnold, Netflix and the Myth of Choice/Participation/Autonomy, in: Kevin McDonald / Daniel Smith-Rowsey (Hg.), The Netflix Effect. Technology and Entertainment in the 21st Century, New York 2016, S. 49–62, hier S. 53.
  16. Mareike Jenner, Is this TVIV? On Netflix, TVIII and Binge-Watching, in: New Media & Society 18 (2016), 2, S. 257–273, hier S. 262.
  17. Terry Nguyen, Mass Niche. Streaming's Prestige Funk, in: Dirt, 9.6.2023; online unter: https://dirt.fyi/article/2023/06/mass-niche [25.2.2024].
  18. Vgl. Daniel LaChance / Paul Kaplan, Criminal Justice in the Middlebrow Imagination. The Punitive Dimensions of Making a Murderer, in: Crime Media Culture 16 (2020), 1, S. 81–96.
  19. Tanya Horeck, Justice on Demand. True Crime in the Digital Streaming Era, Detroit, MI 2019, S. 128.
  20. Nguyen, Mass Niche.
  21. O.A., 65 Million TV Viewers Saw First of ‘Holocaust’, in: The New York Times, 19.4.1978; online unter: https://www.nytimes.com/1978/04/19/archives/65-million-tv-viewers-saw-first-of-holocaust.html [25.2.2024].
  22. Frank Bösch, Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß, in: Thomas Klein / Christian Hißnauer (Hg.), Klassiker der Fernsehserie, Stuttgart 2012, S. 114–118, hier S. 116.
  23. Ebd., S. 118.
  24. E. Deidre Pribram, Melodrama and the Aesthetics of Emotion, in: Gledhill/Williams (Hg.), Melodrama Unbound, S. 237–251, hier S. 249.
  25. Brett Mills, Comedy Verité. Contemporary Sitcom Form, in: Screen 45 (2004), 1, S. 63–78, hier S. 72.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Kommunikation Kultur Medien Pop

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Herbert Schwaab

Dr. Herbert Schwaab lehrt als Medienwissenschaftler an der Universität Regensburg. Er forscht und publiziert unter anderem zu Fernsehserien, zu Autismuskultur, Anime und zur Medialität des Fahrrads.

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