Christian Neuhäuser | Portrait |

Amartya Sen

Ein Denker echter Freiheit

Leben

Amartya Sen wurde am 3. November 1933 im westindischen Shantiniketan geboren. Seine Familie lebte in Dhaka, der heutigen Hauptstadt von Bangladesch, das damals noch zu Britisch-Indien gehörte. Sens Mutter stammte aus einer traditionsreichen Familie von Sanskrit-Gelehrten, sein Vater war Professor für Chemie an der University of Dhaka. In seiner autobiografischen Notiz aus Anlass der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises im Jahr 1998 schreibt Sen rückblickend: „Ich wurde auf einem Universitätscampus geboren und scheine mein ganzes Leben auf dem einen oder anderen Campus verbracht zu haben.“[1] In seiner Jugend besuchte er allerdings für mehrere Jahre die berühmte Schule des Dichters Rabindranath Tagore in Shantiniketan. Hier liegen auch die Wurzeln seines kosmopolitischen Humanismus‘, denn Tagore verstand es, in seiner Schule „westliches“ und „östliches“ Denken auf integrative Weise miteinander zu verbinden.

Von 1951 bis 1953 absolvierte Sen ein Studium am Presidency College in Kalkutta, das er mit einem B.A. in Ökonomie und Mathematik abschloss. Während dieser Zeit begann er nach eigenen Angaben, sich intensiv mit politischen Fragen zu beschäftigen. 1953 ging er nach Cambridge ans Trinity College, um dort seine wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse zu vertiefen und anschließend zu promovieren. Noch vor dem Abschluss der Promotion änderte Sen allerdings seine Pläne und ging zurück nach Kalkutta. Dort wurde er bereits mit 23 Jahren Professor für Ökonomie. Sein junges Alter war eine kleine Sensation und brachte ihm den Spitznamen des „Babyprofessor“ ein. 1957 entscheid er sich, es noch einmal am Trinity College zu versuchen und nahm ein Forschungsstipendium an. Er nutzte die Gelegenheit, um sich während der Zeit in Cambridge intensiv mit Philosophie zu beschäftigen. Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Promotion 1959 und einem längeren Gastaufenthalt am MIT in Boston arbeitete er von 1963 bis 1971 als Professor für Ökonomie an der University of Dehli. 1971 verschlug es ihn wieder nach England, wo er zunächst eine Professur an der London School of Economics innehatte, bevor er 1977 nach Oxford wechselte, wo er bis 1987 lehrte. Viele seiner grundlegenden und wirkungsmächtigen Arbeiten, in denen er Ökonomik und Philosophie miteinander verbindet, entstanden in dieser Zeit, darunter unter anderem Collective Choice and Social Welfare, On Economic Inequality und Commodities and Capabilities.[2]

Zwischendurch folgten weitere Gastaufenthalte in den USA, unter anderem in Stanford, Berkeley und Harvard. Über sein Jahr in Harvard, wo er sich von 1968 bis 1969 aufhielt, schreibt er: „Die meiste Arbeit an Collective Choice and Social Welfare leistete ich in Dehli, aber seine finale Form erhielt das Buch nicht zuletzt durch einen Kurs über „Soziale Gerechtigkeit“, den ich gemeinsam mit Kenneth Arrow und John Rawls in Harvard gab. Beide haben mir auf wunderbare Weise mit ihren Einschätzungen und Hinweisen geholfen. Das gemeinsame Seminar war in der Tat ein ziemlicher Erfolg, sowohl was die Menge der behandelten wichtigen Themen betrifft als auch mit Blick auf den beachtenswerten Kreis der in Harvard und Umgebung ansässigen Ökonomen und Philosophen, die als „Hörer“ an dem Kurs teilnahmen. (Die Veranstaltung war auch außerhalb des Campus sehr bekannt: Auf einem Flug nach San Francisco fragte mich mein Sitznachbar, ob ich als Lehrer in Harvard von einem ‚offensichtlich interessanten‘ Seminar gehört hätte, das von ‚Kenneth Arrow, John Rawls und irgend so einem unbekannten Typen‘ abgehalten werde.)“

1987 verließ Sen Großbritannien und ging dauerhaft nach Harvard, wo er seitdem als Professor für Philosophie und Ökonomie lehrt. Von 1998 bis 2003 kehrte er noch einmal nach Oxford zurück, um dem Trinity College als Master vorzustehen. Als Wissenschaftler kann Sen also auf eine glänzende, an Höhepunkten und Ehrungen reiche Karriere zurückblicken. In seinem Privatleben hingegen blieb er nicht von persönlichen Schicksalsschlägen verschont. So erkrankte er bereits im Alter von 18 Jahren an Mundkrebs und sah sich mit der existenziellen Angst konfrontiert, vielleicht schon in jungen Jahren an der Krankheit sterben zu müssen. Er selbst schreibt dazu:

„[I]ch hatte Mundkrebs und er wurde mit einer starken Bestrahlung in einem einfachen Krankenhaus in Kalkutta behandelt. Das geschah nur sieben Jahre nach Hiroshima und Nagasaki und über die Langzeiteffekte von Strahlung wusste man noch nicht viel. Die Strahlendosis, die mir verabreicht wurde, heilte zwar den Krebs, tötete aber auch die Knochen in meinem harten Gaumen ab. 1971 sah es so aus, als kehrte entweder der Krebs zurück oder ich hätte einen schweren Fall von Knochennekrose.“

Es war zum Glück nicht der Krebs und die Knochennekrose konnte in einer aufwendigen Operation erfolgreich behandelt werden.

Von 1958 bis 1976 war Sen mit der Schriftstellerin und Literaturprofessorin Nabaneeta Dev Sen verheiratet, von der er seit 1971 getrennt lebte. Die beiden gemeinsamen Töchter wuchsen bei der Mutter auf. 1978 heiratete er die Wirtschaftswissenschaftlerin Eva Colorni, mit der er seit 1973 zusammenlebte und mit der er ebenfalls zwei Kinder hat. Als Eva Colorni 1985 im Alter von nur 44 Jahren an Krebs starb, wurde Sen zum alleinerziehenden Vater. Die Entscheidung, Großbritannien zu verlassen und in die USA zu ziehen, resultierte nicht zuletzt aus dem Wunsch, für sich und seine Kinder ein neues Umfeld zu schaffen. Zu dem Zeitpunkt war Sen bereits so berühmt, dass er sich die Universität aussuchen konnte – und seinen Angaben zufolge haben er und die Kinder sich gemeinsam für Harvard entschieden. In seiner inzwischen mehr als sechzig Jahre währenden Karriere hat Sen ein gewaltiges wissenschaftliches Œuvre geschaffen. Sein Publikationsverzeichnis umfasst nicht weniger als 30 Bücher und mehr als 500 Aufsätze und Artikel.

Werk

Freiheit und Präferenzen

Sens zentrales Thema ist die Freiheit, mit der er sich zunächst im Rahmen der ökonomischen Theoriebildung auseinandergesetzt hat. Im Gegensatz zu etlichen anderen Ökonomen hat er dabei von Anfang an immer auch Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, der Gerechtigkeit und der sozialen Zugehörigkeit im Blick. Auch als Ökonom ist er ein progressiver Denker, dem es um Fortschritt und die Befreiung von Menschen aus wirtschaftlicher Abhängigkeit, ungerechten Strukturen und zwangsbesetzten Identitätszuschreibungen geht.[3] Dass er sein eigenes Freiheitsverständnis im Zuge seiner Kritik einiger ökonomischer Grundannahmen entfaltet hat, ist sicherlich ein wesentlicher Grund für die spezifische Perspektive, aus der er die Dinge in den Blick nimmt und maßgebliche Beiträge zur Entwicklungstheorie, zur Gerechtigkeitstheorie und zur Identitätstheorie geleistet hat. Aus diesem Grund möchte ich zunächst kurz auf drei zentrale Elemente von Sens Kritik an der Ökonomik eingehen, die für seinen eigenen Freiheitsbegriff grundlegend sind. Dazu gehören seine Kritik am ökonomischen Verständnis der Präferenzaggregation (1), seine Kritik am ökonomischen Utilitiarismus (2) und seine Kritik am ökonomischen Rationalitätsverständnis (3).

(1) Eine der wichtigsten Grundannahmen der klassischen ökonomischen Theoriebildung besteht in dem Gedanken, die Interessenbefriedigung der Menschen kollektiv zu maximieren. Wenn Helen gern laute Musik hört, ihr Nachbar Daniel es aber lieber ruhig mag, dann – so die Annahme – lässt sich das Problem am besten lösen, indem man feste Zeiten für Ruhe, für normale Lautstärken und für laute Musik vereinbart.[4] Damit werden die (in der Ökonomie als Präferenzen bezeichneten) Interessen beider berücksichtigt und somit im Aggregat maximiert. In seiner Kritik dieser auf den ersten Blick plausiblen Grundannahme hat Sen gezeigt, dass ein solches Verständnis von aggregierter Präferenzmaximierung keine gute Grundlage für die ökonomische Theoriebildung darstellt, weil sie – konsequent gehandhabt – zu absurden Ergebnissen führen kann.[5] Das von ihm zur Bestätigung seiner These entworfene Beispiel lautet ungefähr so: Bekka, ein Freigeist, würde gern einen erotischen Roman lesen, und zwar mit sehr großem Vergnügen. Ihr Mitbewohner, der prüde Niklas, findet das aber gar nicht gut. Daher wäre er bereit, den Roman selber mit Verdruss zu lesen, wenn Bekka ihn dafür nicht lesen dürfte. Bekka wiederum fände es auch sehr gut, wenn der prüde Niklas den Roman lesen müsste, ja, das fände sie sogar noch besser, als ihn selbst zu lesen. Am besten fände sie es aber, wenn sie beide den Roman lesen würden. Niklas hingegen fände es am besten, wenn niemand das Buch lesen würde.

In dieser Situation scheint das beste Ergebnis aus Sicht einer Präferenzaggregation darin zu bestehen, dass Niklas den Roman liest, während Bekka die Lektüre verboten wird. Gegen diese scheinbar zufriedenstellende Lösung macht Sen nun aber geltend, dass sich ein derartiges Verbot nicht mit liberalen Grundüberzeugungen vereinbaren lässt. Auch eine staatlich sanktionierte vertragliche Regelung zwischen Bekka und Niklas würde hier nicht weiterhelfen, da das Recht zur Lektüre von Büchern ein elementares Freiheitsrecht ist, das sich nicht aufgeben lässt. Die Idee unveräußerlicher Grundrechte steht im Widerspruch zur Logik der ökonomischen Aggregationstheorie, die alle Interessen respektive Präferenzen gleich behandelt und ihnen eben deshalb nicht gerecht zu werden vermag. Und genau darin, in dieser „Gleichgültigkeit“ liegt für Sen das Problem.[6]

(2) Diese Einsicht liegt auch Sens Kritik am ökonomischen Utilitarismus und dessen Nutzenkalkül zugrunde.[7] Seiner Ansicht nach zeichnet sich das Nutzenkalkül durch drei charakteristische Merkmale aus: Erstens wird bei der Bewertung von Zuständen ausschließlich Wohlfahrt berücksichtigt, die als Zufriedenheit, Glück, Freude oder ein ähnliches Gefühl verstanden werden kann. Zweitens wird der Gesamtnutzen als aggregierter Individualnutzen zur zentralen Messgröße erklärt. Und drittens liegt dem Kalkül eine konsequentialistische Perspektive zugrunde, weil es für die Bewertung nur realisierte gute oder schlechte Zustände berücksichtigt, Absichten und Handlungsweisen jedoch als irrelevant erachtet. Sens Kritik an dem Kalkül lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Er weist die ersten beiden Annahmen als verfehlt zurück und lässt die dritte nur in eingeschränkter und modifizierter Form gelten. Damit plädiert er letztlich für einen nichtutilitaristischen Konsequentialismus als Grundlage der ökonomischen Theorie und insbesondere der Entwicklungstheorie.

Der Grund für die Zurückweisung der zweiten Annahme liegt in der mangelnden Differenzierung zwischen beliebigen Wünschen, rationalen Interessen und unaufgebbaren Rechten. Trägt man dem besonderen Stellenwert, den Grundrechte und insbesondere Grundfreiheiten für das menschliche Handeln haben, in angemessener Weise Rechnung, kann die bloße Maximierung aggregierter Präferenzen kein legitimes Ziel ökonomischen Handelns sein. Sens Modifikation der dritten Annahme besteht in der Mitberücksichtigung von Handlungsabsichten und Handlungsweisen bei normativen Bewertungen. Ihm zufolge macht es für die normative Bewertung eines Ergebnisses durchaus einen Unterschied, wie dieses zustande gekommen ist, ob ich also beispielsweise meinen neuen Job in einem fairen Bewerbungsverfahren bekommen habe oder durch persönliche Kontakte. Demnach können unterschiedliche Absichten und Handlungsweisen zu unterschiedlichen Zuständen führen: Im ersten Fall hätte ich meinen Job dann nämlich verdient und im zweiten nicht.[8]

Besonders brisant ist jedoch Sens Zurückweisung der ersten Annahme, weil er damit die zentralen normativen Grundlagen der ökonomischen Theorie angreift. Sen hat diese Kritik in seinem wohl berühmtesten Aufsatz mit dem sprechenden Titel „Rationale Dummköpfe“ formuliert.[9] Dort argumentiert er für ein anderes Verständnis von Rationalität, das sich nicht in der Maximierung der eigenen Interessen erschöpft, seien sie nun egoistisch oder altruistisch. Dem verkürzten Rationalitätsverständnis der utilitaristischen Ökonomie, das sich an der Realisierung von Zuständen orientiert, setzt Sen ein Konzept entgegen, das der Befolgung von Regeln (und den damit verbundenen Konsequenzen) einen größeren Stellenwert einräumt. Demnach kann es sehr wohl vernünftig sein, sich an bestimmte Regeln zu halten, selbst wenn deren Befolgung meinen eigenen gegenwärtigen Interessen widerspricht. So kann man beispielsweise Religiosität für ein großes Übel halten und ein aufrichtiges Interesse an ihrer Abschaffung oder Überwindung haben. Dennoch kann man zugleich das in der Religionsfreiheit garantierte Recht der freien Religionsausübung für ein so wichtiges Recht halten, dass man sich diesem Recht stärker verpflichtet fühlt als dem persönlichen Wunsch nach dem Ende der Religionen. Sen argumentiert also dafür, nicht nur individuelle Präferenzen, sondern auch wechselseitige Verpflichtungen als Grundlage für rationale ökonomische Entscheidungen zu berücksichtigen. Zu einer derart differenzierten Sichtweise ist die am Modell des rationalen Nutzenmaximierers orientierte klassische ökonomische Theorie nicht in der Lage. Vor allem aus diesem Grund arbeitete Sen etwa seit Anfang der 1980er-Jahre verstärkt an der Formulierung theoretischer Alternativen.

Freiheit und Fähigkeiten

Das wichtigste Ergebnis seiner entsprechenden Bemühungen ist der sogenannte Capability Approach, den Sen als (verbesserte) theoretische Grundlage insbesondere der Entwicklungsökonomie konzipiert hat.[10] Die im deutschen Sprachraum übliche Bezeichnung als Fähigkeiten- oder Befähigungsansatz ist insofern missverständlich, weil die individuellen Fähigkeiten eines Menschen und deren Entwicklung zwar eine wichtige, aber keineswegs die einzige Rolle spielen und nur einen Teil der Theorie ausmachen. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Sens Ansatz ist seine Unterscheidung zwischen Handeln und Wohlergehen als den beiden wichtigsten Kriterien zur Beurteilung menschlicher Freiheit. Zudem unterscheidet Sen auf beiden Ebenen noch einmal zwischen dem erreichten Ziel und den bestehenden Freiheiten einer Person. Auf der Ebene des Handelns ergibt sich daraus die Unterscheidung zwischen den Handlungsfreiheiten, über die eine Person verfügt, und dem Handlungserfolg, den ihre Handlungen zeitigen. Auf der Ebene des Wohlergehens wiederum führt das zu der Unterscheidung zwischen den Fähigkeiten, die eine Person besitzt, und ihren Funktionsweisen. In beiden Fällen lautet Sens zentrale Einsicht, dass man von dem auf der Ebene des Wohlergehens verwirklichten Handlungserfolg und den erreichten Funktionsweisen nicht auf die tatsächlich vorhandenen Freiheiten und Fähigkeiten auf der Ebene des Handelns schließen kann.[11] Mit anderen Worten und etwas einfacher ausgedrückt: Der aktuelle Zustand einer Person, das heißt die Summe ihrer verwirklichten Seins- und Handlungsweisen, ist kein zuverlässiger Indikator für ihre objektive Lage, also die Summe der ihr zu Gebote stehenden alternativen Seins- und Handlungsmöglichkeiten.[12]

Sen illustriert diese Unterscheidung gern anhand des Beispiels von zwei hungernden Menschen. Beide nehmen zu wenig Kalorien zu sich, haben also dieselbe Funktionsweise beziehungsweise befinden sich in dem gleichen Zustand. Das Wissen um diesen Zustand sagt aber noch nichts aus über die objektive Lage der jeweiligen Person. Diese kann durchaus unterschiedlich sein. So kann die erste Person durchaus wohlhabend sein und aktuell lediglich fasten, während die zweite Person absolut arm ist und dauerhaft unter unfreiwilligem Hunger leidet. Die erste Person verfügt somit über die Fähigkeit, ihrem aktuell empfundenen Hunger jederzeit ein Ende zu setzen und mehr Kalorien zu sich zu nehmen, während die zweite Person diese Fähigkeit nicht besitzt.[13]

Im Zuge seiner Arbeiten zum Verhältnis von Hunger und absoluter Armut konnte Sen mit diesem Ansatz nachweisen, dass die Not vieler Menschen bei Hungersnöten mitunter gar nicht aus einem Mangel an Lebensmitteln resultiert, sondern aus dem Umstand, dass sehr arme Menschen bei Hungersnöten und anderen Katastrophen keinen Zugang zu Hilfsgütern haben, weil ungerechte Marktstrukturen und überforderte oder korrupte staatliche Einrichtungen das nicht zulassen.[14]

Ausgehend von diesen Überlegungen – und ohne an dieser Stelle auf alle Feinheiten des Ansatzes einzugehen – lassen sich mit Blick auf die ökonomische und sozialwissenschaftliche Theoriebildung drei zentrale Einsichten des Fähigkeitenansatzes identifizieren. Die erste besteht in dem Nachweis, dass es nicht ausreicht, nur auf die erreichten Zustände oder Funktionsweisen einer Person zu schauen, um zu erfahren, wie gut (oder schlecht) ihre Lebenslage ist. So ist etwa die bloße Tatsache, dass eine Person sich in ihrer Lebensführung streng an den Vorschriften einer Religion orientiert, noch kein hinreichender Beleg für ihre Religiosität. Denn ohne weiterreichende Informationen lässt sich nicht sagen, ob ihr Handeln selbstbestimmt ist und die betreffende Person ihre Religion auch jederzeit ablegen könnte, oder ob sie beispielsweise vom Staat oder ihrer Familie gezwungen wird, die Vorschriften der Religion zu befolgen und ihre Rituale zu praktizieren. Wahre Freiheit, so argumentiert Sen daher in seinem Fähigkeitenansatz, schließt die freiwillig ungenutzten Wahlmöglichkeiten mit ein. Die vorhandenen, aber aus freien Stücken nicht genutzten Wahlmöglichkeiten einer Person lassen sich aber nicht ermitteln, wenn man nur auf das schaut, was Menschen tatsächlich tun oder sind. Man muss vielmehr auch berücksichtigen, welche Fähigkeiten sie haben, bestimmte Dinge zu tun oder zu sein. Nur so findet man heraus, wie frei sie wirklich sind.[15]

Die zweite weitreichende Einsicht besteht darin, dass auch die Güterausstattung einer Person kein zuverlässiger Indikator für das Ausmaß ihrer Fähigkeiten und den Umfang der ihr erreichbaren Funktionsweisen darstellt. Mobilität ist beispielsweise eine wichtige Fähigkeit. Ein Fahrrad ist ein Gut, das zumindest eine gewisse Mobilität ermöglicht. Aber ob eine Person diese Möglichkeit auch wirklich nutzen kann, hängt Sen zufolge von sogenannten Umwandlungsfaktoren ab. Er unterscheidet dabei persönliche, soziale und umweltbezogene Umwandlungsfaktoren.[16] In dem hier gewählten Beispiel hängt die tatsächliche Mobilität der Person zunächst einmal davon ab, ob sie überhaupt Fahrrad fahren kann. Das ist ein persönlicher Umwandlungsfaktor. Das Ausmaß der Mobilität hängt des Weiteren von sozialen Umwandlungsfaktoren ab. Dazu zählen etwa die Infrastrukturen oder die Sitten und Normen einer Gesellschaft. Fehlt es an befahrbaren Wegen und Straßen oder gilt Radfahren für bestimmte Personengruppen als unschicklich, bleiben die Möglichkeiten, die das Fahrrad prinzipiell eröffnet, ungenutzt. Und schließlich spielen umweltbezogene Umwandlungsfaktoren wie die Beschaffenheit des Geländes und die klimatischen Bedingungen einer Region eine Rolle. Wo es zu heiß oder zu bergig ist, bietet ein Fahrrad ebenfalls keine oder nur eingeschränkte Mobilität.

Die nicht nur für Entwicklungsökonomen und -politiker relevante Botschaft, die Sen mit Hilfe des Konzepts der Umwandlungsfaktoren vermitteln will, ist klar: Die Versorgung von Personen mit Gütern allein hilft nicht weiter, wenn man nicht auch ihre Fähigkeiten zur Nutzung dieser Güter im Blick hat. Nur wenn man auf die Fähigkeiten schaut, erfährt man, wie gut Personen ihre Güter nutzen können, um bestimmte Funktionsweisen zu erreichen, also beispielsweise mobil und gut genährt, oder aber politisch aktiv und sozial integriert zu sein. Und nur im Lichte solch umfassender Informationen lässt sich dann schließlich auch sagen, wie gut oder schlecht es um ihre tatsächliche Freiheit bestellt ist. Weil der Fähigkeitenansatz dafür konzipiert ist, sehr viele Informationen zu berücksichtigen und die spezifische Lage individueller Menschen in den Blick zu nehmen, stößt er insbesondere in den angewandten Sozialwissenschaften auf großes Interesse. Sen selbst hat beispielsweise in seinem vielbeachteten Buch Ökonomie für den Menschen gezeigt, dass sich die oftmals besonders prekäre Lage von Frauen merklich bessert, wenn sie freien Zugang zu Bildungseinrichtungen und zu Arbeitsmärkten haben.[17] Gleichzeitig ruft die vom Fähigkeitenansatz geforderte Informationsdichte aber auch immer wieder Kritik hervor.[18] So monieren Kritiker beispielsweise, dass das Komplexitätsniveau die beschränkten Regelungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Politik überfordere: In bestimmten Fragen der Entwicklungspolitik oder auch im Bereich der sozialen Arbeit könne die Anwendung des Fähigkeitenansatzes ja durchaus sinnvoll sein und brauchbare Resultate zeitigen. Wenn es aber um die Wirtschaftspolitik hochindustrialisierter Länder gehe, dann, so die Kritiker, sei ein primär an Gütern orientierter Ansatz weiterhin die bessere, weil überschaubarere Alternative.

Freiheit und Gerechtigkeit

Auf der Grundlage seiner Überlegungen zur Entwicklungsökonomie und des Fähigkeitenansatzes hat sich Amartya Sen zunehmend mit Fragen der Gerechtigkeit beschäftigt. Kritisch auseinandergesetzt hat er sich dabei vor allem mit John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit, der wohl wichtigsten Gerechtigkeitstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts.[19] Im Zentrum von Rawls‘ Theorie steht die Idee eines fiktiven Urzustands, in dem die zukünftigen Mitglieder die normative und institutionelle Grundstruktur der von ihnen zu errichtenden Gesellschaft festlegen. Der besondere Clou der von Rawls entworfenen vertragstheoretischen Begründung einer gerechten Gesellschaft besteht in der einschränkenden Bedingung, dass die angehenden Bürgerinnen und Bürger ihre Entscheidung hinter einem sogenannten „Schleier des Nichtwissens“, das heißt in Unkenntnis ihrer künftigen persönlichen Eigenschaften und ihrer sozialen Lage treffen müssen. Damit, so Rawls‘ These, nötige der Schleier des Nichtwissens alle Beteiligten dazu, von ihren jeweils besonderen Interessen und Begabungen abzusehen – und sorge so für eine unparteiische Entscheidung. Weil sie hinter dem Schleier nicht wüssten, ob sie etwa reich oder arm, gesund oder krank, religiös oder agnostisch, alt oder jung, männlich oder weiblich sein werden, müsse allen gleichermaßen an der Errichtung einer wirklich gerechten Gesellschaft gelegen sein[20]

Sen übt an Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie scharfe Kritik. Er teilt zwar dessen Grundvorstellung einer gerechten Gesellschaft, in der alle Menschen gleichermaßen berücksichtigt und fair behandelt werden. Aus diesem Grund ist er auch einverstanden mit dem von Rawls postulierten Vorrang der politischen Grundfreiheiten, die einen höheren Stellenwert haben als die Herstellung von Chancengleichheit und ökonomischer Gleichheit. Allerdings bezweifelt Sen, dass sich die erforderlichen Grenzziehungen und Abstufungen in der Praxis hinreichend präzise bestimmen lassen. Als Illustration für seine grundsätzlichen Überlegungen dient ihm einmal mehr ein ebenso einfaches wie anschauliches Beispiel: Drei Kinder spielen mit einer Flöte. Das erste Kind hat die Flöte gebaut; das zweite Kind kann auf der Flöte besonders gut spielen; und das dritte Kind ist arm und besitzt sonst kein Spielzeug. Alle drei Kinder würden die Flöte gern behalten. Wie sieht nun eine gerechte Regelung aus? Sen argumentiert, dass alle drei Kinder legitime Ansprüche auf die Flöte haben und dass es kein Prinzip gibt, mit dessen Hilfe sich eine eindeutige Antwort formulieren und der Konflikt auflösen ließe. Wie schwierig ist es für das erste Kind, eine neue Flöte zu bauen? Wie gut vermag das zweite Kind auf anderen Flöten zu spielen? Oder bestünde die Möglichkeit, dem dritten Kind eine andere Flöte zu geben? Sen zufolge vermag nur ein genauer Blick auf die spezifischen Kontextbedingungen die Frage zu beantworten, was zu tun in dieser Situation das Richtige ist.[21]

Das Beispiel illustriert Sens Kritik an der sehr grundlegenden Vorgehensweise von Rawls, dessen Ansatz ihm einfach zu abstrakt und weltfremd erscheint. Dem stellt er seine eigene Gerechtigkeitstheorie entgegen, an der vor allem drei Merkmale besonders hervorstechen: Sie ist nichtideal (1), offen unparteilich (2) und dezidiert global orientiert (3).

(1) Sen zufolge unterscheidet sich eine nichtideale Gerechtigkeitstheorie dadurch von einer idealen Gerechtigkeitstheorie, dass sie gar nicht erst versucht, eine vollkommen gerechte Gesellschaft zu entwerfen, und sich stattdessen auf die normative Beurteilung und Kritik tatsächlich bestehender Gesellschaften und real existierender Ungerechtigkeiten konzentriert. Im Zentrum des Interesses steht dabei nicht die Suche nach universal gültigen Prinzipien, sondern das Bemühen um praktische Alternativen und institutionelle Verbesserungen, die dazu beitragen, die jeweils identifizierten Ungerechtigkeiten einer Gesellschaft zu beseitigen oder zumindest abzumildern. Abstrakte Theorien idealer Gerechtigkeit, die allgemeine Grundsätze formulieren, die unter allen Umständen gültig sein sollen, helfen Sen zufolge nicht weiter, wenn es um die Frage geht, was genau unter diesen oder jenen konkreten Bedingungen zu tun ist.[22] Demgegenüber kann seine eigene nichtideale Gerechtigkeitstheorie beispielsweise als theoretische Grundlage für Maßnahmen zur Beseitigung von Armut oder zur Abschaffung von Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem dienen. Daher wird ihr in den Sozialwissenschaften auch häufig eine größere Anschlussfähigkeit bescheinigt als der Theorie von Rawls.[23]

(2) Ein zweites charakteristisches Merkmal von Sens Gerechtigkeitstheorie besteht in ihrem Verständnis von Unparteilichkeit. Der von Rawls konstruierte Schleier des Nichtwissens zeichnet sich – ähnlich wie Immanuel Kants kategorischer Imperativ – durch ein sehr formales Verständnis von Unparteilichkeit aus: Hinter dem Schleier des Nichtwissens sollen die Akteure von ihrer individuellen Persönlichkeit und ihrer konkreten sozialen Lage vollständig abstrahieren und sich als reine Personen verstehen. So soll sichergestellt werden, dass die Akteure wirklich vollständig unparteilich entscheiden. Doch für Sen handelt es sich dabei letztlich um ein reines und zudem wenig hilfreiches Gedankenexperiment.[24] Menschen können im Alltag nun einmal nicht vollständig von ihrer tatsächlichen Lebenslage abstrahieren. Entsprechend komplexe Abstraktionsleistungen sind eher die Domäne der akademischen Philosophie. Dem hält Sen sein sehr viel pragmatischeres Verständnis von Unparteilichkeit entgegen, das sich an Überlegungen des schottischen Aufklärers und Ökonomen Adam Smith orientiert. Smith hatte in seiner Theorie der ethischen Gefühle dafür argumentiert, bei der moralischen Urteilsbildung die Positionen und Ansichten möglichst vieler verschiedener realer Akteure zu berücksichtigen. Dazu ist es erforderlich, sich auf ganz unterschiedliche Menschen einzulassen und sich empathisch in deren jeweilige Lage hineinzuversetzen. Auf diese Weise, so Smith, entwickle man im Laufe der Zeit eine weltzugewandte, offene Form der Unparteilichkeit.[25] Für Sen ergibt sich als Konsequenz aus dieser Herangehensweise ein enger Zusammenhang von Gerechtigkeit und Demokratie. Demnach können nur umfassende demokratische Prozesse, die allen Positionen die Möglichkeit geben, Gehör zu finden, offene Unparteilichkeit ermöglichen.

(3) Offen ist diese Unparteilichkeit schließlich auch aufgrund ihrer globalen Ausrichtung, die zugleich das dritte wesentliche Merkmal von Sens Theorie markiert. Rawls hat seine Theorie ursprünglich für einzelne Gesellschaften entwickelt und erst in einem zweiten Schritt auch auf die Ebene der internationalen Beziehungen übertragen.[26] Sen kritisiert das als geschlossene Form der Unparteilichkeit, die den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung ebenso wenig gerecht werde wie der historischen Tatsache, dass Menschen immer schon über Ländergrenzen hinweg miteinander im Kontakt stehen. Teil des damit verbundenen Austauschs seien stets auch Ideen der Gerechtigkeit, beispielsweise im Diskurs über Menschenrechte.[27] Aus diesem Grund ist es Sen zufolge nicht ausreichend, wenn eine Gerechtigkeitstheorie nur ihrem Anspruch oder ihrer Ausrichtung nach global ist. Vielmehr muss sie auch in ihrer Theoriebildung selbst global sein, also Ideen und Tradition der ganzen Welt berücksichtigen. Sen führt das in seiner Gerechtigkeitstheorie vor, indem er unter anderem Elemente der indischen Ideengeschichte systematisch in seine Theoriebildung integriert, etwa die indische Unterscheidung von Niti (als Regelformalismus) und Nyaya (als kontextsensitive Umsetzung von Gerechtigkeit), mit deren Hilfe er viele seiner Argumente illustriert.[28]

Neben der Gerechtigkeitstheorie von Rawls ist diejenige von Sen wohl die wichtigste der Gegenwart. In welchem Verhältnis die beiden tatsächlich zueinander stehen und wie sie sich zu alternativen Ansätzen wie dem demokratietheoretisch orientierten Republikanismus und der Diskurtheorie verhalten, ist Gegenstand anhaltender Forschung.

Freiheit und Identitäten

Die globale Perspektive kommt schließlich auch in seinen Überlegungen zu den schwierigen Themen Multikulturalismus und Identitätspolitik zum Tragen. Sen wendet sich gleichermaßen gegen ein zu enges wie auch gegen ein zu weites und damit beliebiges Verständnis von Identität. Stattdessen macht er sich für einen Multikulturalismus stark, der mit seinem Konzept offener Unparteilichkeit vereinbar ist und den Fähigkeitenansatz für eine inklusive Auffassung von Integration nutzt. Jeder illiberalen, auf den Ausschluss oder die Unterdrückung von bestimmten Gruppen zielenden Form von Identitätspolitik erteilt er eine kategorische Absage.[29]

Ihren Ausgang nehmen Sens Überlegungen von der Einsicht, dass jeder Mensch nie über nur eine, sondern immer über eine Vielzahl von Identitäten verfügt. Sich selbst beschreibt Sen beispielsweise als „Asiat, Bürger Indiens, Bengale mit bengalesischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonom, Dilettant auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritist, entschiedener Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feminist, Heterosexueller, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Mensch mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmane und Ungläubiger, was das Leben nach dem Tode (und, falls es jemanden interessiert, auch ein ‚Leben vor der Geburt‘) angeht.“[30]

Manche dieser Identitäten sind freiwillig erworben, andere nicht. Für Sen ist es jedoch ein wesentliches Merkmal menschlicher Freiheit, dass Personen sich zu ihren jeweiligen Identitäten verhalten und darüber entscheiden können, welche Bedeutung sie ihnen beimessen und wie sie sie interpretieren. Dieses pluralistische und freiheitliche Identitätsverständnis setzt er zwei Extrempositionen entgegen. Auf der einen Seite wendet er sich gegen Konzepte, die einem Menschen lediglich eine Identität zuschreiben, auf die sie ihn dann vollständig reduzieren. Er oder sie ist dann nur noch (oder zumindest in erster Linie) Hindu oder Christin, US-Amerikaner oder Inderin, Mann oder Frau. Ein solches hermetisches Identitätsverständnis ist wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt. Aus der einmal zugeschriebenen Identität ergibt sich alles Weitere. Sen sieht darin eine illegitime Verkürzung, die der individuellen Vielschichtigkeit eines jeden Menschen nicht gerecht wird.[31] Ebenso entschieden opponiert Sen gegen Ansätze, die von allen politischen, sozialen kulturellen oder religiösen Identitäten abstrahieren und im Menschen nach dem Vorbild der klassischen Ökonomie nur einen rationalen Nutzenmaximierer sehen. Auch diese Sicht wird Sen zufolge dem Selbstverständnis und der sozialen Situiertheit der Menschen nicht gerecht, da diese stets mehr verfolgten als lediglich ihre materiellen Interessen.

Die politische Relevanz der Thematik wird ersichtlich, wenn man bedenkt, welche Auswirkungen ein angemessenes Verständnis der Vielfältigkeit persönlicher Identitäten auf die Diskussionen um Multikulturalismus und den sogenannten Kampf der Kulturen hat.[32] Multikulturalismus erschöpft sich für Sen gerade nicht in der Existenz unterschiedlicher, aber in sich homogener kultureller Parallelgesellschaften, die unabhängig nebeneinander existieren und sich zunehmend voneinander abschotten. Solche Modelle sind seiner Ansicht nach zum Scheitern verurteilt, weil sie den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden und die Menschen voneinander entfremden. Statt Gemeinsamkeiten zu stärken, werden diese möglichst unsichtbar gemacht – was wechselseitige Toleranz und Solidarität erschwert. Ein echter Multikulturalismus, der seinen Namen verdient, beruht für Sen hingegen auf wechselseitigem Interesse, gegenseitigem Lernen und einer Mischung aus geteilten und nicht geteilten Identitäten. Seiner Ansicht nach ist solch ein Multikulturalismus immer möglich, weil jeder Mensch viele Identitäten besitzt, von denen er zumindest einige mit anderen teilt. Daher gibt es bei jedem anderen Menschen auch Anknüpfungspunkte für geteilte Identitäten und wohlwollende Verständigung.

Aus diesem Grund muss es Sen zufolge auch keinen Kampf der Kulturen geben. Kulturen sind aufgrund der vielseitigen persönlichen Identitäten ihrer Trägerinnen und Träger intern nie homogen und nach außen immer durchlässig. Wie zwischen einzelnen Personen gibt es auch zwischen unterschiedlichen Kulturräumen zahlreiche Anknüpfungspunkte, die Verständigung und Kooperation ermöglichen – sofern denn ein politisches Interesse daran besteht. Wo dieses fehlt, ist das ohnehin stets prekäre friedliche Miteinander bedroht. Bei allem Grund zur Sorge legt Sen aber Wert auf die Feststellung, dass ein Kampf der Kulturen immer ein politisches Projekt von Fundamentalisten ist, die ihre Kultur radikal homogenisieren und nach außen hin möglichst abschotten wollen.[33] Das steht für ihn in einem eklatanten Widerspruch zur Freiheit der Menschen, die Vielseitigkeit ihrer Identitäten zu kultivieren und auszuleben. Diese Freiheit bildet Sen zufolge die Grundlage für ein pluralistisches Verständnis von Integration. Menschen müssen ihre eigene Vielseitigkeit erkennen und anderen Menschen deren Vielseitigkeit lassen. Integration bedeutet dann, Gemeinsamkeiten zu betonen und Unterschiede anzuerkennen, aber stets offen dafür zu sein, voneinander zu lernen und Identitätsfacetten wechselseitig anzupassen.

Zu Fragen der Identitätspolitik hat sich Sen bislang nicht direkt geäußert, aber aus den hier vorgestellten Elementen seines politischen und ökonomischen Denkens – dem Fähigkeitenansatz, der Gerechtigkeitstheorie und den Überlegungen zur Vielfalt der Identität – lässt sich seine Position hinreichend deutlich konturieren. Identitätsgruppen verfolgen manchmal gerechte Ziele und manchmal nicht. Wenn sie sich dafür einsetzen, etwaige Diskriminierungen aufgrund der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung oder des Geschlechts zu beseitigen, dann verfolgen sie gerechte Ziele. Wenn sie sich jedoch auf die eine oder andere Weise gegen Gleichberechtigung stark machen und eigene Überlegenheitsansprüche propagieren, dann sind ihre Ziele ungerecht.[34] Gleichwohl sind auch identitätspolitische Gruppen, die sich gegen Benachteiligung und Diskriminierung engagieren, stets mit drei Herausforderungen konfrontiert: Erstens müssen sie offen bleiben und dürfen sich nicht um ihre Identität herum nach außen abschließen, sonst verlieren sie die zentrale Gerechtigkeitsperspektive der offenen Unparteilichkeit. Zweitens sind unterschiedliche Identitätsgruppen unterschiedlich befähigt, ihre legitimen Interessen durchzusetzen und daher zur Verwirklichung ihrer Ziele mehr oder weniger auf die Hilfe anderer angewiesen. Daher muss sich jede identitätspolitische Gruppe, sofern ihre Ansprüche als legitim gelten sollen, drittens in einen weiteren Gerechtigkeitskontext einordnen und darf nicht ausschließlich ihre eigenen Ziele verfolgen. Sens Position läuft also letztlich auf den Versuch hinaus, Identitätspolitik in einer Politik wechselseitiger Freiheit und Gerechtigkeit aufzuheben.

Schluss

Sen ist ein Denker von erstaunlicher Produktivität und Vielseitigkeit. Er hat nicht nur maßgebliche Beiträge zur ökonomischen Theorie, Entwicklungstheorie, Gerechtigkeitstheorie und Identitätstheorie geleistet, sondern auch darüber hinaus als Anreger und Vordenker gewirkt. Von der strikten disziplinären Trennung zwischen sozialwissenschaftlicher und philosophischer Forschung hat er sich stets unbeeindruckt gezeigt. In seinem Werk sind begriffliche und empirische Analysen sowie deskriptive und normative Perspektiven eng miteinander verbunden. Genau das macht die große Innovationskraft und dauerhafte Wirkung seiner Arbeiten aus.

  1. Alle Zitate stammen aus Amartya Sen, Biographical, (meine Übersetzung, Ch. N.).
  2. Amartya Sen, Collective Choice and Social Welfare, San Francisco, CA 1970; ders., On Economic Inequality, Oxford 1973; ders., Commodities and Capabilities, Amsterdam u.a. 1985.
  3. Vgl. Wulf Gaertner, Amartya Sen (*1933), in: Heinz D. Kurz (Hg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. 2: Von Vilfredo Pareto bis Amartya Sen, München 2009, S. 354–372.
  4. Vgl. Sen, Collective Choice and Social Welfare; Amartya Sen, Social Choice Theory: A Re-examination, in: Econometrica 45 (1977), 1, S. 53–89.
  5. Amartya Sen, The Impossibility of a Paretian Liberal, in: Journal of Political Economy 78 (1970), 1, S. 152–157. Für einen Überblick siehe Amartya Sen, Rationality and Freedom, Cambridge, MA 2002.
  6. Vgl. Sen, Rationality and Freedom.
  7. Amartya Sen, Behaviour and the Concept of Preference, in: Economica 40 (1973), S. 241–259; Amartya Sen, Ethics and Economics, Malden, M A 1987. Eine gute Übersicht bietet Shataksee Dhonge / Prasanta K. Pattanaik, Preference, Choice, and Rationality: Amartya Sen’s Critique of the Theory of Rational Choice, in: Christopher W. Morris (Hg.), Amartya Sen: Contemporary Philosophy in Focus, Cambridge 2010, S. 13–39.
  8. Sen entwickelt die betreffenden Argumente insbesondere in Amartya Sen, Rights and Agency, in: Philosophy and Public Affairs 11 (1982), 1, S. 3–39.
  9. Amartya Sen, Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie, übers. von Valerie Gföhler, Ditzingen 2020.
  10. Zentrale Aufsätze zur Entwicklung des Fähigkeitenansatzes sind Amartya Sen, Gleichheit? Welche Gleichheit?, übers. u. hrsg. von Ute Kruse-Ebeling, Ditzingen 2019; Amartya Sen, Well-being, Agency, Freedom: The Dewey Lectures 1984, in: Journal of Philosophy 82 (1985), 4, S. 169–221; Amartya Sen, The Standard of Living, in: Geoffrey Hawthorn (Hg.), The Standard of Living. Tanner Lectures in Human Values, Cambridge 1987, S. 1–38. Den besten Zugang eröffnet aber wohl nach wie vor das sehr eingängig geschriebene Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, übers. von Christiana Goldmann, München 2002.
  11. Die mit Abstand beste Darstellung und Diskussion des Fähigkeitenansatzes bietet Ingrid Robeyns, Wellbeing, Freedom and Social Justice: The Capability Approach Re-Examined, Cambridge 2017.
  12. Sowohl in Sens späteren Arbeiten als auch in den Theorien anderer Autor*innen, die mit der einen oder anderen Variante des Fähigkeitenansatzes arbeiten, ist die Unterscheidung zwischen der Handlungsfreiheit einer Person und ihren individuellen Fähigkeiten verloren gegangen – mit der Folge, dass Fähigkeiten nicht mehr nur auf das eigene Wohlergehen bezogen werden, sondern auf alle Handlungsfreiheiten.
  13. Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen.
  14. Vgl. Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford 1981; Amartya Sen / Jean Drèze, Hunger and Public Action, Oxford 1989.
  15. Vgl. Amartya Sen, Justice: Means versus Freedom, in: Philosophy and Public Affairs 19 (1990), 2, S. 111–121.
  16. Vgl. Amartya Sen, Inequality Re-examined, Cambridge, MA 1992, S. 19–38.
  17. Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen, Kap. 8.
  18. Für eine Sammlung von Aufsätzen zu dieser Frage siehe Harry Brighthouse / Ingrid Robeyns, Measuring Justice: Primary Goods and Capabilities, Cambridge 2010.
  19. Vgl. Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, übers. von Christa Krüger, München 2010.
  20. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von Hermann Vetter, Frankfurt am Main 1979. Die letzte autoritative Version ist John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2002.
  21. Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010, S. 43f.
  22. Besonders eindrücklich entwickelt Sen dieses Argument in Amartya Sen, What do We Want From a Theory of Justice?, in: Journal of Philosophy 103 (2006), 5, S. 215–238.
  23. Vgl. Laura Valentini, Ideal vs. Non‐ideal Theory: A Conceptual Map, in: Philosophy Compass 7 (2012), 9, S. 654–664.
  24. Für eine erhellende Diskussion verschiedener Unparteilichkeitstests siehe Robin Celikates / Stefan Gosepath, Grundkurs Philosophie: Politische Philosophie, Ditzingen 2013.
  25. Vgl. Amartya Sen, Open and Closed Impartiality, in: Journal of Philosophy 99 (2002), 9, S. 445–469; ders., Uses and Abuses of Adam Smith, in: History of Political Economy 43 (2011), 2, S. 257–271.
  26. Vgl. John Rawls, Recht der Völker, übers. von Wilfried Hinsch, Berlin 2002.
  27. Siehe dazu Amartya Sen, Elemente einer Theorie der Menschenrechte, übers. von Ute Kruse-Ebeling, Ditzingen 2020.
  28. Vgl. Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, Kap. 3.
  29. Für eine systematische Darstellung siehe Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, übers. von Friedrich Griese, München 2007. Viele Beobachtungen und Einsichten finden sich auch in dem stärker essayistischen Amartya Sen, The Argumentative Indian, London 2005.
  30. Sen, Die Identitätsfalle, S. 33.
  31. Siehe dazu wiederum Sen, The Argumentative Indian.
  32. Sen wendet sich hier kritisch gegen Samuel Huntington, Kampf der Kulturen, Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, übers. von Holger Fliessbach, München 2002.
  33. Vgl. Sen, Die Identitätsfalle, Kap. 5.
  34. Eine aufschlussreiche Diskussion dieser Fragen bietet Kwame Anthony Appiah, Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit, übers. von Michael Bischoff, Berlin 2019.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Wirtschaft Geschichte der Sozialwissenschaften Internationale Politik Lebensformen Normen / Regeln / Konventionen

Christian Neuhäuser

Christian Neuhäuser ist Professor für praktische Philosophie an der TU Dortmund. Er arbeitet zu Theorien der Selbstachtung und Verantwortung sowie zu Fragen der ökonomischen und internationalen Gerechtigkeit. Aktuelle wissenschaftliche Buchpublikationen: Reichtum als moralisches Problem (Suhrkamp 2018), Wie reich darf man sein? (Reclam 2019) und als Herausgeber zusammen mit Christian Seidel: Kritik des Moralismus (Suhrkamp 2020).

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