Heike Delitz | Literaturessay |

Amerindianische Anthropologie

Literaturessay zu „Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalen Anthropologie“ von Eduardo Viveiros de Castro

Eduardo Viveiros de Castro:
Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalen Anthropologie
übers. von Theresa Mentrup
Deutschland
Leipzig 2019: Merve Verlag
304 S., 25,00 EUR
ISBN 978-3-88396-384-6

„Es gilt, alle Konsequenzen aus der Idee zu ziehen, dass die Gesellschaften und Kulturen, die Gegenstand anthropologischer Forschung sind, auch die Gesellschafts- und Kulturtheorien [...] mithervorbringen, die auf Grundlage dieser Forschungen formuliert werden.“

Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken, S. 17

In der Anthropologie, der dem Gegenstand nach sicher engsten Nachbardisziplin der Soziologie, wird unter dem Titel des „ontological turn“ seit bereits zwei Jahrzehnten eine beachtenswerte – nicht unumstrittene – theoretische Innovation vorangetrieben. Die soziologische Theorie ist weit davon entfernt, das Potenzial dieses ontological turn wahrzunehmen: zu verankert sind evolutionistische Vorstellungen in einigen der prominentesten theoretischen Paradigmen der Disziplin; zu schnell bei der Hand sind Attribute wie ‚vormodern‘ oder gar ‚archaisch‘, wenn von außereuropäischen Gesellschaften die Rede ist; zu anthropozentrisch sind viele Begriffe, zu positivistisch viele Methodologien des Faches, zu begrenzt ist der Blick auf ‚moderne‘ Gesellschaften und Subjekte. Die soziologische Theorie hat es bislang nicht nur versäumt, mit Hilfe postkolonialer Kritiken, koloniale und epistemische Gewalt als Teil von Modernität zu reflektieren. Sie ist noch weiter entfernt von jener „Dekolonisierung des Denkens“ (S. 29), für die der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro in seinem Buch Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer poststrukturalen Anthropologie ein Rezept formuliert – gerichtet an die Adresse seiner eigenen Disziplin, aber, wie ich zeigen möchte, nicht minder relevant für die Soziologie.

Bereits im Jahr 2009 auf Französisch erschienen, einer deutschsprachigen Leserschaft jedoch erst 2019 durch Theresa Mentrops vom Merve Verlag publizierte Übersetzung erschlossen, haben wir es bei Kannibalische Metaphysiken bereits mit einem Klassiker, dem Manifest des ontological turn zu tun. Aufbauend auf seinen frühen Texten über den amerindianischen Perspektivismus,[1] macht Viveiros de Castro hier die epistemische Politik und die Theoriegrundlagen transparent, die seine Kritik an der Anthropologie motivieren. Sein Thema ist der Vergleich zwischen Ontologien, Anthropologien, Kultur- und Gesellschaftstheorien; sein Ziel, das eigene Denken zu dekolonisieren und zu dezentrieren. Die Titel der Buchkapitel – etwa „Kapitalismus und Schizophrenie“, „Perspektivismus“ und „Multikulturalismus“, „Antisoziologie der Mannigfaltigkeiten“ oder „Produktion ist nicht alles: Werden“ – verdeutlichen dabei bereits, an welche theoretischen Traditionen Viveiros de Castro anknüpft: Die Nähe zu Deleuze und Guattari, deren Anti-Ödipus er in einen Anti-Narziss fortschreibt, ist nicht zu verkennen; mindestens ebenso deutlich wird der Einfluss der strukturalen – kulturvergleichenden – Anthropologie.

Neue Anthropologie vs. post-strukturale Anthropologie (ontological turn)

Viveiros de Castros Kritik zielt im Wesentlichen auf das, was man eine postkoloniale Anthropologie nennen kann und was auch als Neue Anthropologie firmiert: jene Anthropologie, die seit den 1980er-Jahren – seit der „Writing-Culture“-Debatte[2] und der postkolonialen Wende – selbstkritisch den Blick von den außereuropäischen Gesellschaften abwendet, um zu einer Anthropologie der (globalen) Moderne zu werden. Lila Abu-Lughod forderte in diesem Zusammenhang, die Anthropologie müsse „gegen Kultur schreiben“: Der Begriff der Kultur(en) sei „the essential tool for making other”; seine Verwendung führe dazu, kulturelle Differenz „zu konstruieren, zu produzieren und aufrechtzuerhalten”.[3] Diese Anthropologie, die den Kulturvergleich und die Untersuchung von anderen Gesellschaften beziehungsweise Kulturen verabschiedet, weil sie jede Rede vom ‚Anderen‘ als eine „Fiktion der westlichen Imagination“ versteht, ignoriert, so Viveiros de Castro, nicht nur jene extramodernen Kollektive, die trotz aller Globalisierung weiter „darauf bestehen, zu existieren“.[4] Nicht nur hält sie diese Kollektive für unerheblich, für Vergangenheit; und nicht nur beraube sie dabei die indigenen Kollektive „jeder Mitsprache“ (S. 16). Vielmehr, und schlimmer noch, unterlaufe die Anthropologie damit ihr eigentliches Ziel und werde eurozentrisch:

„[D]ie Annahme, dass aller ‚europäische‘ Diskurs über die Völker nichteuropäischer Tradition allein dazu diene, unsere eigenen ,Repräsentationen des Anderen‘ zu klären, lässt [den] Postkolonialismus zur perversesten Manifestation des Ethnozentrismus verkommen.“ (S. 17)

Seit die Anthropologie also, mit Edward Saids Kritik am othering,[5] im ‚Anderen‘ immer nur sich selbst sehe, interessiere sie sich nur noch für die eigene Gesellschaft (S. 17) – sei narzisstisch. Eine anti-narzisstische Anthropologie dagegen suche im Anderen nicht sich selbst. Sie werfe  von den Anderen „ein Bild zurück, [in] dem wir uns nicht erkennen“ (ebd., mit Patrice Maniglier). Sie erlaube ein kognitives „Experiment“, das die „Struktur unserer begrifflichen Einbildungskraft“ als eine „Variation“, „Version“ oder „Transformation“ anderer Strukturen der Einbildungskraft, des Denkens kenntlich mache (ebd.). Kurz, es geht um die Symmetrisierung der außereuropäischen und europäischen beziehungsweise westlichen Denkweisen – der Begriffe, der Philosophien, der Anthropologien, der Sozial- und Gesellschaftstheorien.[6] Eine solche Anthropologie würde im Zuge dieser Symmetrisierung zugleich zeigen, dass „die interessantesten Begriffe, Probleme, Entitäten und Akteure“ der Disziplin nicht aus Europa stammen, sondern „in der Vorstellungskraft gerade jener Gesellschaften selbst wurzeln, die durch sie erklärt werden sollen“ (S. 15).

Es geht Viveiros de Castro also erstens – mit Claude Lévi-Strauss – darum, die westliche Denkweise und ihre ontologischen Grundlagen als eine Variante neben anderen Varianten, anderen Denkweisen und Ontologien zu verstehen, sie in den anthropologischen Vergleich einzubeziehen. Zweitens sollen – ebenfalls mit Lévi-Strauss – die untersuchten Kulturen als Subjekte des anthropologischen Wissens anerkannt werden. Und drittens schlägt Viveiros de Castros – auch darin Lévi-Strauss sowie Pierre Clastres folgend – Kontrastvergleiche vor, um zu einer Kultur- und Gesellschaftstheorie zu gelangen, die sich jeder evolutionistischen und eurozentrischen Perspektive enthält.

Als das Gegenteil der westlichen Ontologie rekonstruiert Viveiros de Castro namentlich das amerindianische Denken. „Interspezifischer Perspektivismus, ontologischer Multinaturalismus und kannibalische Alterität“ bilden hier eine „Alter-Anthropologie“ beziehungsweise die „invertierte Transformation der westlichen Anthropologie“ (S. 31). Das amerindianische Denken kennzeichnet erstens sein Perspektivismus, das heißt, in ihm sind auch Nichtmenschen (Tiere, Pflanzen, Geister, Tote) Subjekte, haben eine Perspektive:

„Während sie uns als Nicht-Menschen sehen, sehen sich die Tiere [...] als Menschen: Sie nehmen sich als anthropomorphe Wesen wahr (oder werden zu solchen), wenn sie sich in ihren eigenen Häusern oder Dörfern aufhalten, und sie erfahren ihre eigenen Gewohnheiten und Eigenschaften im Lichte einer Kultur: Sie sehen ihre Nahrung als menschliche Nahrung [...], ihre körperlichen Attribute [...] als Schmuck oder kulturelle Werkzeuge, ihr soziales System als eines, das auf die gleiche Weise organisiert ist wie menschliche Institutionen.“ (S. 43 f.)

Zweitens basiert das amerindianische Denken auf einer multinaturalistischen Ontologie, die von einer Kultur und vielen Naturen ausgeht. Während sich also die europäische, moderne, „multikulturalistische“ Ontologie

„auf die wechselseitige Implikation von Einheit der Natur und Mannigfaltigkeit der Kulturen stütz[t] – wobei erstere durch die objektive Universalität der Körper und der Substanz garantiert und letztere durch die subjektive Partikularität der Geister und der Signifikate erzeugt wird –, ginge […] die amerindianische Auffassung von einer Einheit des Geistes und einer Vielheit der Körper aus. Die ‚Kultur‘ oder das Subjekt wären hier die Form des Universalen, die ‚Natur‘ oder das Objekt die Form des Partikularen.“ (S. 41 f.)

Drittens beruht die amerindianische Sozialtheorie auf dem titelgebenden Konzept der Kannibalität beziehungsweise der kannibalischen Alterität. Subjektive Identität entsteht hier über die Einverleibung der Perspektiven der Anderen, der Feinde, in jener rituellen Art der Kriegsführung, die das europäische Denken durch die mit ihr verbundene Praxis der Anthrophopagie zutiefst verstört hat. Die Anthrophopagie ist indes zumeist eine semiologische Praxis („Semiophagie“, S. 175); so etwa in den Kriegsgesängen der Araweté,[7] in denen die kannibalische Handlung ‚lediglich‘ sprachlich ausgeführt wird. In den Gesängen spricht der „Krieger durch ein komplexes deiktisches und anaphorisches Spiel vom Standpunkt seines toten Feindes über sich selbst“ und gewinnt dadurch Identität: „‚Durch‘ seinen Feind“, durch die Augen seines Opfers sieht sich der Mörder erst als singuläres Subjekt (S. 175). Das heißt, „dass die ‚Interiorität‘ des gesellschaftlichen Körpers vollständig durch die Vereinnahmung symbolischer Ressourcen von außerhalb – Namen und Seelen, Personen und Trophäen, Wörter und Erinnerungen – konstituiert wird“ (S. 175 f.).

Die kontrastiv-vergleichende Methode macht darüber hinaus die Gegensätzlichkeit der kosmologischen Erzählungen sichtbar – der Vorstellungen von Anfang und Ende der Welt. Invers zur evolutionsbiologischen Vorstellung kommen in der amerindianischen Überlieferung „die Menschen als Erste, und der Rest der Schöpfung geht aus ihnen hervor“;[8] entsprechend invers sind auch die Vorstellungen des Weltendes: „In den Mythologien der amerikanischen Indios sind die periodischen Apokalypsen die Regel“.[9]

Indem Viveiros de Castro derart die amerindianische Ontologie der westlichen entgegensetzt, wird die Kontingenz der Letzteren erkennbar, sie wird zu einer Version neben anderen Versionen von Ontologie. Dasselbe gilt für die westliche Kultur- und Gesellschaftstheorie, Epistemologie und Kosmologie; und auch für die Anthropologie – für den Blick auf andere Gesellschaften und Kulturen. Zur Aufgabe von Anthropologie nach dem ontological turn wird der Vergleich von Anthropologien, Ontologien, Epistemologien – nicht um die Denkweise anderer Kulturen zu ‚erklären‘ oder zu interpretieren, sondern um zwischen den europäischen und außereuropäischen Wissensformen „zu übersetzen“ (S. 92): zwischen zwei Wissensformen, die einander ebenbürtig sind und die als „in strenger ontologischer Kontinuität“ (S. 89) stehend gedacht werden.

Eine Fortschreibung des Strukturalismus – eine Hommage an Claude Lévi-Strauss

Der Einfluss von Claude Lévi-Strauss auf Viveiros de Castros Anthropologie ist unverkennbar. Dieses Erbe teilt er mit Philippe Descola, mit dem er sich durchaus auch uneinig ist, etwa in der Auffassung des ‚Animismus‘ und mit Blick auf Descolas Matrix von genau vier Ontologien (S. 83 f.). Viveiros de Castro knüpft an Lévi-Strauss‘ kulturvergleichende, auf ein umfassendes Gesellschaftswissen zielende Anthropologie an, die alles daran setzt, „so wenig ethnozentrisch wie möglich“ zu sein,[10] indem sie das eigene Denken und das der indigenen Kollektive, die eigene Gesellschaft und die der ‚Anderen‘ nicht in eine evolutionistische Zeitfolge bringt, sondern synchron vergleicht. Das indigene und europäische Wissen steht in einer „Beziehung strukturaler Transformation“ (S. 20), schreibt Viveiros de Castro in Anlehnung an Lévi-Strauss. Tatsächlich ist der Begriff der Transformation ein zentraler Begriff der strukturalen Analyse;[11] und er meint gerade keine zeitliche Veränderung. Er bezeichnet die interkulturelle Transferierbarkeit oder Übersetzbarkeit kultureller Elemente, etwa die Translation von Mythemen in den Mythen. Bereits 1962 in Das Wilde Denken[12] hatte Lévi-Strauss den Begriff der „Transformation“ in diesem Sinn eingeführt: Die strukturale Analyse sucht die von ihr untersuchten Gesellschaften und Klassifikationssysteme nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen. Sie ordnet alle Kulturen einschließlich der eigenen auf derselben Zeitebene an und versteht sie als Transformationen oder Versionen voneinander.

Auch indem Viveiros das amerindianische Denken als das Gegenteil der westlichen Ontologie, Sozialtheorie, Epistemologie kenntlich macht (und daher nur diese zwei Ontologien vergleicht), folgt er Lévi-Strauss – ebenso wie (nicht unkritisch) Pierre Clastres sowie Gilles Deleuze und Félix Guattari. „Extramoderne“ Gesellschaften gehen der strukturalen Anthropologie zufolge der ‚modernen‘ Gesellschaft nicht voraus – sie sind nicht ‚vorgeschichtlich‘ oder ‚vorschriftlich‘, nicht ‚ohne‘ Markt und Staat. Um diesem Eurozentrismus, dieser Teleologie zu entgehen, kann man mit Lévi-Strauss von Gesellschaften-gegen-die-Geschichte sprechen,[13] um das Verhältnis indigener Gesellschaften zu ihrer historischen Veränderung zu beschreiben; oder mit Clastres von Gesellschaften-gegen-den-Staat, um das Politische extramoderner Kollektive auf weniger eurozentrische Weise zu erfassen.[14] Auch Deleuze und Guattari haben in Tausend Plateaus zwei gegensätzliche Formen von Vergesellschaftung kontrastiert: die nomadischen Gesellschaften mit ihrem glatten Raum und diejenigen, die den Raum kerben. Sie haben sich dabei zugleich vor einer allzu schematischen Binarisierung gehütet, indem sie die glatten und gekerbten Räume, die De-Territorialisierungen und Re-Territorialisierungen, in derselben empirischen Gesellschaft verorteten.[15] Die „umgekehrt symmetrisch[en]“[16] Gesellschaftsformen sind natürlich Idealtypen; und in dieser idealtypischen Beschreibung kommt alles darauf an, sie nicht als solche vorzustellen, die auseinander hervorgehen. Derart invers sind – so zeigt nun die post-strukturale Anthropologie nach dem ontological turn – auch die Wissensformen: die Ontologien und damit die Epistemologien, Anthropologien, Kultur- und Gesellschaftstheorien.

Schließlich folgt Viveiros de Castro dem Wegbereiter der strukturalen Anthropologie wie erwähnt, wenn er andere Kulturen nicht nur als der westlichen Kultur ebenbürtig versteht, sondern auch zum Subjekt unseres Wissens erklärt. Anknüpfungspunkt ist hier das ‚späte‘ Werk, die Mythologica (1964), in deren erstem Band Lévi-Strauss die von ihm untersuchten Kulturen als Urheber seiner anthropologischen Analyse, seines eigenen Textes anerkannt hatte:

„Wie die Mythen selber auf Codes zweiter Ordnung beruhen [...], würde dieses Buch also den Entwurf eines Codes dritter Ordnung darstellen, der dazu bestimmt ist, die wechselseitige Übersetzbarkeit mehrerer Mythen zu sichern. Aus diesem Grunde hätte man nicht unrecht, wenn man es für einen Mythos hielte: gewissermaßen den Mythos der Mythologie.“[17]

Die strukturale Anthropologie wird durch Viveiros de Castro – durch seine Lektüre von Deleuze und Guattari, von Clastres, von Marylin Strathern und Roy Wagner – zugleich auch verwandelt: Sie wird post-struktural, indem sie nun über Lévi-Strauss hinaus die eigene Ontologie zum Objekt der Anthropologie macht, statt auf ihrer Grundlage die Analyse zu vollziehen. Dieses Vorhaben hatte Lévi-Strauss in Das wilde Denken und Mythologica nur angedeutet, und für Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft von 1949 kann man ihm tatsächlich noch das Gegenteil vorwerfen, da hier der moderne europäische Gegensatz zwischen der universellen Natur und den je spezifischen Regeln der Kultur den Ausgangspunkt darstellt, um Gesellschaften in ihrer Organisation als Verwandtschaftssysteme zu vergleichen.

Die Debatte um den ontological turn der Anthropologie

So scharf der Ton von Viveiros de Castro gegenüber der Neuen Anthropologie, so heftig ist deren Erwiderung. Aus der Perspektive jener, die eine Anthropologie der Moderne verfechten, die also „Ethnografien des Partikularen“ (Abu-Lughod), Verflechtungsanalysen und interaktionistische Ansätze bevorzugen, nimmt die post-strukturale Anthropologie erneut eine romantische Perspektive ein und trennt den ‚Westen vom Rest‘. Vorgeworfen wird ihr ein othering. Zugleich wird moniert, dass eine auf ‚Kosmologien‘ konzentrierte Anthropologie das Eigentliche – nämlich die weltweiten neokolonialen Machtverhältnisse – ausblende. Viele AnthropologInnen stören sich schließlich auch an der Nähe der post-strukturalen Anthropologie (speziell von Viveiros de Castro) zur Philosophie, vor allem zu Deleuze, und am damit einhergehenden ‚unzugänglichen‘ Schreibstil. Besonders zugespitzt formulieren Bessire und Bond diese drei Kritikpunkte: Indem Viveiros de Castro und Descola den „Dualismus von Natur und Kultur so weit wie möglich vermeiden wollen, reifizieren sie die moderne Binarität schlechthin – die der Inkommensurabilität der modernen mit den nichtmodernen Welten”. Gewarnt wird zudem vor dem „return of the primitive”; die post-strukturale Anthropologie habe „kolonialistische” und „eschatologische” Motive.[18] Viveiros de Castros „moderne[r] Mythos”, so lautet die altbekannte Kritik, reproduziere lediglich dessen eigenes Denken, das er auf die ‚Anderen‘ projiziere.[19] Zudem komme es auf eine „Problem-orientierte“ Ethnografie an, die sich den „wirklichen Leuten“ und ihrer Geschichte widme.[20]

Vieles an dieser Kritik ist vorschnell. Zum einen ignoriert sie die Argumente, die Viveiros de Castro gegen die Neue Anthropologie in Stellung bringt; zum anderen folgt sie jenen hartnäckigen Stereotypen, die gegen Lévi-Strauss schon oft vorgebracht wurden, ohne dadurch treffender zu werden: Der Strukturalismus sei ahistorisch, intellektualistisch, formalistisch. Dabei war Lévi-Strauss der erste, der eurozentrische Perspektiven, wie sie etwa der marxistischen Ethnologie entsprangen, ‚im Namen‘ der Geschichte kritisiert hat. Gerade die strukturale Anthropologie mit ihrem Kontrastvergleich von Kulturen schafft, so könnte man mit Descola argumentieren,[21] erst die Voraussetzungen, um die Folgen kolonialistischer und neokolonialistischer Herrschaft sichtbar zu machen, die Folgen der Verflechtungen differenter Welten, die die Neue Anthropologie zum Gegenstand macht. Um diese Veränderungen zu erkennen, braucht es das Wissen darüber, welches Wissen und welche Gesellschaften der Kolonialisierung unterworfen wurden – und der Globalisierung unterworfen sind. Es geht der Anthropologie nach dem ontological turn zudem sehr wohl um die asymmetrische Verflechtung des Globus, um epistemische Gewalt: Dagegen, im Namen der Anderen, bringt sie die Vielfalt der Modi kollektiver Existenz und des Wissens zur Geltung. Es handelt sich mitnichten um eine Analyse ‚primitiver‘ Mentalitäten, um den „return of the native“ (S. 100) – gezeigt wird gerade die philosophische Wucht des amerindianischen Denkens. Der strukturale Vergleich zielt so gesehen auf einen ‚wirklichen‘, nicht-kolonialistischen Humanismus:[22] darauf, jede Vorstellung von ‚Primitivität‘ aufzulösen. Genau so war Lévi-Strauss’ Titel Das wilde Denken gedacht: Er war absichtlich provokativ, da das Buch gerade die enorme Komplexität der indigenen Denksysteme aufzeigte.

In diesem Sinn also geht es Viveiros de Castro – gerade angesichts der Globalisierung – um eine „Philosophie“ [und Soziologie, möchte ich ergänzen], die „andere Völker mit einschließt“, es geht um die „Möglichkeit einer philosophischen [und soziologischen] Aktivität“, die eine fruchtbare Beziehung mit der sogenannten „‚Nicht-Philosophie‘ [und ‚Nicht-Soziologie‘] anderer Völker“ aufbaut (S. 242). Dabei besteht er auch darauf, weiter von kollektiver Existenz, von Kulturen, von „peoples“ (S. 242) zu sprechen und die strukturale Perspektive auch deshalb aufrechtzuerhalten, weil sie eine Soziologie des konstituierten Subjekts[23] ermöglicht, anstatt den Akteur ‚fundamentalistisch‘ oder ‚essentialistisch‘ vorauszusetzen. Kurz, gegen die Kritik ließe sich mindestens von einer notwendigen Ergänzung, wenn nicht gar von einer erst wirklich konsequenten Fortführung der postkolonialen Anthropologie sprechen.

Potenziale für die soziologische Theorie

An die Adresse der anthropologischen Theorie schreibt Viveiros de Castro, deren „Illusion par excellence bestünde gerade darin, sich vorzustellen, dass unter dem Äquivoken etwas Univokes läge“ (S. 100), dass stets dieselben gesellschaftlichen Mechanismen, dieselbe innere und äußere Natur kulturellen Interpretationen unterlägen. Dasselbe ist für die soziologische Theorie festzuhalten: Es geht nicht darum, erneut eine universelle Theorie zu entwerfen. Ebenso wenig soll die Theoriebildung vor die exklusive Wahl „zwischen unserer und ihrer“ (S. 100) Denkweise  gestellt werden – es ist nicht das Ziel der post-strukturalen Anthropologie, dass die AnthropologInnen nicht-europäisch denken lernen, denn den indigenen Standpunkt einzunehmen, ist ihnen unmöglich. Die Dekolonisierung des Denkens, die Viveiros de Castro im Sinn hat, vollzieht sich vielmehr in der Anreicherung der (europäischen) Disziplinen des Denkens, in deren „Transversalisierung“ (S. 100).

An dieser Stelle hat Viveiros de Castro nun vor allem die Philosophie vor Augen. Sie möchte er durch die ‚Philosophie der Anderen‘ irritieren und ergänzen. Dasselbe ließe sich aber für die soziologische Theorie sagen: Die Anthropologie formuliert die Kultur- und Gesellschaftstheorie der Anderen und ermöglicht somit eine „Transversalisierung“ der Soziologie. Auch wenn Viveiros de Castro die „Dekolonisierung des Denkens“ (S. 100) also in erster Linie der Philosophie anempfiehlt und er die Soziologie einmal als „Verwaltungswissenschaft“ (S. 19) bezeichnet, so lässt sich doch an all jenen Stellen, an denen er vorschlägt, die Philosophie durch die Anthropologie zu komplettieren, „Soziologie“ einsetzen. Und tatsächlich bezieht sich Viveiros de Castro auch auf sie, wenn er mit Deleuze und Lévi-Strauss die Anthropologie als „Antisoziologie“ versteht – in dem Sinne, dass die Anthropologie nicht länger der „mindere, exotische und harmlose Zweig der Soziologie“ bleiben dürfe, sondern umgekehrt die Soziologie sich nun als „Modalität“ (S. 122) der Anthropologie verstehen müsse. Beide zusammen bildeten erst die Disziplin, die zu Aussagen über ‚das Soziale‘, über ‚Gesellschaft‘ fähig wäre. In dieser Disziplin gehörten die – von der Anthropologie übersetzten – indigenen Konzepte des Sozialen „zur gleichen Ordnung“ (S. 241) wie die europäischer AutorInnen. Man würde „also sagen, dass der melanesische Begriff der Person als ‚Dividuum‘“ (S. 241 f.) ebenso grundlegend ist wie Simmels Begriff der Individualität; dass das Politische des ‚südamerikanischen Häuptlingstums‘ ebenso wichtig ist wie Webers Herrschaftstypologie; dass die Auffassungen von der Person bei den Araweté oder den Achuar dem Begriff der ‚exzentrischen Positionalität‘ Plessners ebenbürtig sind; oder „dass der amazonische Perspektivismus ein[e] genauso“ bedeutende Konzeption des Sozialen ist (S. 242) wie der Konstruktivismus von Berger und Luckmann oder der Poststrukturalismus. Worum es also geht, ist eine vollständigere sozialwissenschaftliche Theorie, die die „indigenen Ideen als [soziologische] Begriffe“ (S. 234) miteinschließt. Die Dekolonisierung des soziologischen Denkens läge dann in der systematischen Annäherung an die Anthropologie sowie in der „Affirmation der prinzipiellen Äquivalenz der Diskurse“ der westlichen Anthropologie beziehungsweise Soziologie einerseits und des indigenen Wissens andererseits: „Die anthropologischen Begriffe […] sind weder wahrhaftige Abbilder der Kultur des Indigenen […] noch illusorische Projektionen der Kultur des Anthropologen“ (S. 238 f.).

Ebenso wie für die Anthropologie scheint diese Operation für die soziologische Theorie unerlässlich angesichts ihrer universellen Ansprüche, ‚Grundbegriffe‘ und ‚allgemeine‘ Theorien des Sozialen zu formulieren. Zudem ist es, nun mit Hilfe der postkolonialen Theorie, an der Zeit, die epistemische Gewalt zu reflektieren, die der Soziologie etwa dort inhärent ist, wo sie die eigenen Methoden und Methodologien als universell gültige versteht. Ähnlich wichtig wäre es, wie eingangs erwähnt, endlich evolutionistische Annahmen zu hinterfragen, nach denen indigene Kollektive der soziologischen Imagination zuweilen noch immer als vormoderne, gar „archaische“ gelten.[24] Eine Soziologie, die von einer kulturvergleichenden Anthropologie informiert wäre, würde sich mit anderen Worten nicht mit der Kritik methodologischer Nationalismen und der Untersuchung globaler Verflechtungen begnügen (zumal beschwert mit dem normativen Konzept des Kosmopolitismus[25]). Sie würde eine ‚Theorie der Weltgesellschaft‘ auch nicht allein mit den Bordmitteln der westlichen Soziologie zu formulieren suchen. Sie könnte sich stattdessen auf die Reflexionen zum Vergleich und zur Übersetzung stützen, die die strukturale Anthropologie hervorgebracht hat und weiter formuliert.[26] Das Resultat wäre eine Soziologie-Anthropologie oder soziologisch-anthropologische Theorie, die die Möglichkeit eröffnet, eine allgemeinere, weniger eurozentrische Wissenschaft des Sozialen zu entwerfen. Eine solche Theorie ginge zugleich weit über die bisherige soziologische Rezeption von Viveiros de Castros und Descolas Schriften hinaus, die sich diese bis dato vor allem auf die Relation von Natur und Kultur im Kontext der ökologischen Frage, des Anthropozäns konzentriert.[27]

  1. Siehe u.a. Eduardo Viveiros de Castro, From the Enemy's Point of View. Humanity and Divinity in an Amazonian Society, Chicago, IL 1996.
  2. James Clifford / George E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley, CA 1986.
  3. Lila Abu-Lughod, „Writing Against Culture“, in: Richard G. Fox (Hg.), Recapturing Anthropology. Working in the Present, Santa Fe, NM 1991, S. 137–162, hier S. 143. Dt. Übersetzung hier und im Folgenden von mir, HD. Vgl. zu dieser Position auch Carola Lentz, „Der Kampf um die Kultur. Zur Ent- und Re-Soziologisierung eines ethnologischen Konzepts“, in: Soziale Welt 60 (2009), 3, S. 305–324.
  4. Viveiros de Castro, „On the Modes of Existence of the Extramoderns“, in: Bruno Latour / Christophe Leclercq (Hg.), Reset Modernity!, Cambridge, MA / London 2016, S. 491–495, hier S. 491.
  5. Abu-Lughod, „Writing Against Culture“, S. 143.
  6. Vgl. ebenso Philippe Descola, „Transformations Transformed“, in: HAU: Journal of Ethnographic Theory 6 (2016), 3, S. 33–44; ders., „Anthropological Comparatisms. Generalisation, Symmetrisation, Bifurcation“, in: Renaud Gagné / Simon Goldhill / Geoffrey Lloyd (Hg.), Regimes of Comparatism. Frameworks of Comparison in History, Religion and Anthropology, London 2019, S. 402–417.
  7. Viveiros de Castro, From the Enemy's Point of View.
  8. Deborah Danowski / Eduardo Viveiros de Castro, In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende, übers. von Ulrich van Loyen und Clemens van Loyen, Berlin 2019, S. 86.
  9. Ebd., S. 97.
  10. Philippe Descola / Marc Kirsch, „Claude Lévi-Strauss vu par Philippe Descola“, in: La lettre du Collège de France, Hors série 2 (2008): Claude Lévi-Strauss, centième anniversaire, S. 28–33, hier S. 33.
  11. Jean Pouillon, „Structure. Un essai de definition“, in: Ders., Fetiches sans fetichisme, Paris 1975, S. 11–28; Patrice Maniglier, „L'humanisme interminable de Claude Lévi-Strauss“, in: Les temps modernes 609 (2000), S. 216–241; Ders., „Des us et des signes. Lévi-Strauss: philosophie pratique“, in: Revue de Métaphysique et de Morale 22 (2005), 1, S. 89–108.
  12. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 97 u.ö.
  13. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 268 f.
  14. Pierre Clastres, Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1976.
  15. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1993, S. 117 ff.
  16. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 97.
  17. Claude Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte. Mythologica I, Frankfurt am Main 1971, S. 17.
  18. Lucas Bessire / David Bond, „Ontological Anthropology and the Deferral of Critique“, in: American Ethnologist 41 (2014), 3, S. 440–456, hier S. 441 f., 448.
  19. Ebd., S. 449.
  20. Ebd., S. 448.
  21. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, übers. von Eva Moldenhauer, Berlin 2011, S. 529 f.
  22. Patrice Maniglier, „L'humanisme interminable“.
  23. Etienne Balibar, „Structuralism. A Destitution of the Subject?“, in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 14 (2003), 1, S. 1–21.
  24. So selbst noch Stephan Moebius / Andreas Reckwitz, „Poststrukturalismus und Sozialwissenschaften: Eine Standortbestimmung“, in: Dies. (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 2008, S. 7–23, hier S. 12.
  25. Ulrich Beck / Edgar Grande, „Jenseits des methodologischen Nationalismus. Außereuropäische und europäische Variationen der Zweiten Moderne“, in: Soziale Welt 61 (2010), 3/4, S. 187–216.
  26. Pierre Charbonnier / Gildas Salmon / Peter Skafish (Hg.), Comparative Metaphysics. Ontology After Anthropology, London / New York 2017.
  27. Zur Diskussion des Anthropozän in der deutschsprachigen Soziologie siehe u.a. die Beiträge in: Henning Laux / Anna Henkel (Hg.), Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän, Bielefeld 2018. Zu Descola liegen seitens der deutschsprachigen soziologischen Theorie dabei bisher deutlich mehr Anschlüsse vor (vgl. u.a. Tanja Bogusz, „Dekolonisierung des Denkens. Was wir von Descola lernen“, in: Mittelweg 36 22 (2013), 5, S. 46–62; oder die Beiträge in SONA - Netzwerk Soziologie der Nachhaltigkeit (Hg.), Soziologie der Nachhaltigkeit, Bielefeld 2021). Viveiros de Castro ist präsent beim SFB Normative Orders (z.B. www.normativeorders.net/de/aktuelles/forschung-aktuell/6119-einheit-in-der-differenz-der-anthropologe-eduardo-viveiros-de-castro-ueber-die-kategorie-des-menschen); bei Jens Greve, „Sinnkriterien und Handeln. Zur sozialtheoretischen Zentralität menschlicher Handlungsfähigkeit“, in: Stephan Lessenich (Hg.), Routinen der Krise - Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014; und Thomas Lemke, „Vom Konvivialistischen Manifest zu manifesten Formen des Zusammenlebens“, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jakob Borchers.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Epistemologien Gesellschaftstheorie Globalisierung / Weltgesellschaft Kolonialismus / Postkolonialismus

Heike Delitz

Heike Delitz ist Professorin für Kollektiv- und Kulturwissenschaften an der Universität Regensburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziologische Theorie und Kultursoziologie sowie Vergleichende Soziologie. Zuletzt erschienen: Gesellschaftstheorien, Wiesbaden 2020; Kollektive Identitäten, Bielefeld 2018; mit Robert Seyfert, als Hg.: Helmuth Plessner: Political Anthropology (englische Übersetzung von „Macht und menschliche Natur“, übers. von Nils F. Schott), Evanston 2018.

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