Francesca Barp, Hannah Schmidt-Ott | Veranstaltungsbericht |

„An asset and a burden“

Bericht zur Konferenz „Futuring Critical Theory“ vom 13. bis 15. September 2023 in Frankfurt am Main

Ein Jahr lang hatte der – inzwischen schon nicht mehr ganz so neue – Direktor STEPHAN LESSENICH (Frankfurt am Main) mit seinen Kolleg:innen die künftigen Forschungslinien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung diskutiert. 1923 war das Institut, finanziert vor allem vom marxistischen Mäzen Felix Weil, gegründet, 1924 dann eröffnet worden. Ein Höhepunkt der Veranstaltungen zum 100. Geburtstag war die internationale Tagung „Futuring Critical Theory“, die das neue Programm zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit präsentierte.

Ein Forschungsprogramm für die nächsten Dekaden sollte es werden, das dem alarmierenden Zustand von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft und den sich im Klimawandel, im Neokolonialismus wie im Neofaschismus manifestierenden Krisen gerecht wird, führte Lessenich in seinen Begrüßungsworten aus. Mit der, zugegebenermaßen nicht allzu präzisen, forschungsleitenden Frage „What the hell is going on here?” schien er gar nicht so weit von dem Zugriff auf Gesellschaft entfernt, der die erste Generation der Frankfurter Schule auszeichnete. Ein Erbe, fuhr der Professor für Gesellschaftstheorie fort, sei aber nun einmal stets beides: ein Vorteil und eine Last. Von Vorteil sei, dass das Institut für seine emanzipatorische Gesellschaftskritik an eine reiche Tradition kritisch-theoretischer Vorarbeiten anknüpfen könne, als Nachteil empfand Lessenich jedoch, dass diese frühen Kritiken oft als überhistorisch gültig aufgefasst würden und dass dabei nur wenige, zentrale Personen eine Rolle spielten. Die vielen Mitarbeitenden und die Infrastruktur, ohne die es diese Vorarbeiten nicht gegeben hätte, würden oft übersehen.

Daher stand das Tagungsprogramm unter dem Motto „Kritik und Erneuerung“: „The aim of the conference is to determine where Critical Theory stands and to reorient it in the light of the existential challenges of our times.“ In Anbetracht der mannigfaltigen Krisen, die unsere Gegenwart auszeichnen, und vor dem Hintergrund neuer theoretischer Entwicklungen, wie etwa dem Postkolonialismus, dem Queerfeminismus und dem Neuen Materialismus, müsse die Kritische Theorie einer Revision unterzogen werden.

Im Unklaren blieb, an wen genau sich diese Aufrufe richteten. Für wen die Konferenz eigentlich ausgerichtet war, wurde nicht recht deutlich. Fachpublikum? Öffentlichkeit? Studierende? Letztere schienen zumindest den größten Teil der Besucher:innen auszumachen. Der erfreulich niedrige Altersdurchschnitt des Publikums konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in vielen der Veranstaltungsräume Stühle leer blieben – offenbar hatte man mit mehr Besucher:innen gerechnet, als letztlich kamen. Und auch Aufbruchsstimmung wollte nicht recht aufkommen; von der reklamierten Erneuerung war zwar viel zu hören, aber wenig zu spüren. Ein wenig unglücklich war auch die Raumaufteilung am Austragungsort der Konferenz, dem sogenannten „Casino“ auf dem Frankfurter Campus. Lud die große Eingangshalle mangels Sitzgelegenheiten nicht zum Verweilen ein, bot ein – irritierenderweise vollständig verglaster – abgetrennter Raum Stühle, Kaffee und Snacks – für die Vortragenden. Es schien fast so, als ginge man gar nicht davon aus, dass unter den Zuhörenden Gesprächsbedarf bestünde und die Zukunft der Kritischen Theorie auch jenseits der Podien verhandelt würde.

Lücken und wie man sie schließt

In der ersten Keynote mit dem Titel „How vulnerable is Critical Theory? On the Experience of Vulnerability“ präsentierte Estelle Ferrarese (Strasbourg) ihren Versuch, Verletzlichkeit als politische Dimension zu konzeptualisieren. Vulnerabilität, so die Prämisse, ist weder eine ethische oder moralische Kategorie noch die Eigenschaft einer Person, sondern vielmehr ein Verhältnis zwischen Menschen. Nur wenn jemand in der Lage ist, Macht auszuüben und jemand ihm oder ihr ausgesetzt ist, existiert Verletzlichkeit. So verstanden, könne der Tod – als äußerste Konsequenz von Verletzlichkeit – politisch verhandelt und Politiken des Sterbenlassens und Tötens aus der ethischen in die politische Sphäre geholt werden. Ferrareses Vortrag war beispielhaft für die diversen Keynotes, die die Konferenz strukturierten: renommierte Wissenschaftler:innen aus dem Ausland stellten ihre jeweiligen Projekte vor, bei denen sie auf Zugänge zurückgriffen, die mehr oder weniger (in der Tendenz allerdings mehr) von der Kritischen Theorie inspiriert waren, diese jedoch in entscheidenden Punkten uminterpretierten, revidierten oder weiterentwickelten.

Doch mit theoretischer Öffnung war es nicht getan: Die Selbsthistorisierung des Frankfurter Instituts, die am ersten Konferenzabend unter dem Titel „100 Years of Critical Theory – 100 Years of Solitude?“ in der Verantwortung von Rahel Jaeggi (Berlin) und dem Historiker Martin Jay (Berkeley) lag, wurde zur gemütlichen Abendveranstaltung. Im Plauderton ging es um die fachliche Diversität der Angehörigen der ersten Institutsgeneration, um die Freundschaften unter ihnen und um Abendessen im Hause Jaeggi, deren Gäste zumeist auch auf den einschlägigen Konferenzen anzutreffen seien. Ganz nebenbei lieferte Jaeggi allerdings einen Arbeitsbegriff für die „Kritische Theorie“ (mit großem „K“, wie sie, den direkten Anschluss an die Gesellschaftskritik der frühen Frankfurter Schule markierend, betonte). Kritische Theorie zeichne sich demnach aus durch immanente Kritik, Negation, einen breiten Begriff von Emanzipation, der mehr einschließe als die Abschaffung von Herrschaft, das Streben nach einer qualitativ anderen Weise zu leben und die Suche nach Begründungen für das Irrationale wie für historische und aktuelle Krisen. Die Annahme, dass die Irrationalität der Verhältnisse ein zentrales Merkmal von Gesellschaft sei, unterscheide die Kritische Theorie von anderen Formen der Gesellschaftskritik. Nichtsdestotrotz erklärten Jaeggi und Jay den Grabenkampf zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus für beendet: Anti-rassistische Ansätze und feministische Theoriebildung zeigten, so Jaeggi, dass der Poststrukturalismus nicht, wie vor einigen Jahrzehnten noch beschworen, unweigerlich in die Amoralität führe. Tatsächlich sind es gerade Begriffe, die wesentlich mit der poststrukturalistischen Theorie assoziiert sind – von Dekolonisierung bis Deprovinzialisierung –, mithilfe derer das Institut den drängendsten Problemen und Paradoxien gegenwärtiger gesellschaftlicher Ordnung beikommen will. Deprovinzialisierung bedeutet für Jaeggi auch, Abstand von der Idee zu nehmen, dass Frankfurt das Epizentrum der Theorieentwicklung sein müsse. Stattdessen gelte es, die Strahlkraft der Ortes zu nutzen, um kritische Denker:innen aus aller Welt zusammenzubringen.

Trotz der Bemühungen um Aktualisierung der Kritischen Theorie im Lichte jüngerer Entwicklungen, traf die Nachfrage BRUNA DELLA TORRES (São Paulo), warum die Frauen in der Kritischen Theorie eigentlich nicht zu Sprache kämen, ins Schwarze – auch wenn die stellvertretende Direktorin des Instituts Sarah Speck sich beeilte, auf ein just anlaufendes Forschungsprojekt zu verweisen, das sich den viel zu oft übersehenen Arbeiten von Frauen wie Regina Becker-Schmidt oder Elisabeth Lenk widmen würde.

Dem Auftrag, Lücken in der Kritischen Theorie aufzuzeigen und Vorschläge zu machen, wie diese geschlossen werden könnten, nahmen sich auch manche der Panels an. So hatten sich Daniel James (Dresden), Kristina Lepold (Berlin) und Bastian Ronge (Wuppertal) zum Ziel gesetzt, den racial blindspot der Kritischen Theorie auszuleuchten. Dass die Kritische Theorie hinsichtlich race eine Lücke aufweist, versuchte Lepold anhand einer Wortanalyse in einschlägigen Handbüchern nachzuweisen. Das wurde in der Diskussion kritisiert, da es sich nur um von europäischen Verlagen publizierte Handbücher handelte, die zudem die Arbeiten Herbert Marcuses aussparten. Eine bedauerliche Verengung, die, so der Tonus der Wortmeldungen, die außereuropäische Kritische Theorie als unbedeutsam abtäte.

Ronge erinnerte daran, dass Adorno und Horkheimer Antisemitismus nicht in erster Linie soziologisch, sondern im Kern psychoanalytisch begründet hatten: in dem das, was das Subjekt nicht spüren und nicht sein dürfe, ins Außen projiziert werde, werde sein Weltbezug paranoid. Die Paranoia breche sich im antisemitischen Wahn und der Vorstellung einer mächtigen jüdischen Verschwörung Bahn. Anders verhalte es sich beim Rassismus, bei dem die Überlegenheit weißer Menschen behauptet und daraus ein Machtanspruch abgeleitet werde. Wie man im Hinblick auf ein besseres Verständnis von Rassismus von der Psychoanalyse profitieren könnte, wurde allerdings nur andiskutiert.

„Modern society is capitalist at its core“

Für eine Revision liebgewonnener Prämissen plädierte GURMINDER K. BHAMBRA (Brighton) in ihrem Vortrag „Critical Theory in a Reparative Frame“. Sie forderte eine Neubestimmung ökonomischer Kategorien im Lichte kolonialer Dynamiken, mithin eine „Politische Ökonomie des Kolonialismus“. Ihr Entwurf derselben blieb skizzenhaft, hatte aber programmatischen Charakter und wurde mit Verve und Klarheit vorgetragen, was das Zuhören zum Vergnügen machte.

Eine Analyse, die sich auf die Produktion und Aneignung von Mehrwert konzentriere, übersehe die koloniale Ausbeutung, die dieses Verhältnis historisch erst ermöglicht habe, argumentierte die Professorin für Post- und Dekoloniale Studien. Stattdessen würde die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise auf die ursprüngliche Akkumulation reduziert, würden alle Formen der Unterdrückung unter dem Begriff des Proletariats subsumiert. Der Kapitalismus habe jedoch kein abstraktes proletarisches Subjekt produziert, sondern eine Arbeitsteilung und Hierarchien etabliert, die sich an rassistischen Unterscheidungen festmachten. In der Konsequenz forderte sie, dass Attribute, die dem Kapitalismus zugeschrieben würden, dementsprechend kolonial herzuleiten seien. Denn was mit Privatbesitz oder Landnahme als kapitalistische Dynamik beschrieben werde, sei eigentlich eine kolonialistische Dynamik.

Nun habe das Ende des Kolonialismus allerdings nicht das Ende des Privatbesitzes nach sich gezogen. Für Bhambra kann daraus nur folgen, dass der Blick erweitert werden, Genese und die Gegenwart der kapitalistischen Produktionsweise gleichermaßen in die Analyse einbezogen werden müssten. Die kritische Theorie jedenfalls könne sich nicht auf einem ohnehin enttäuschten Fortschrittsversprechen und dem Ruf nach Klassenkampf ausruhen, es brauche einen reparative frame, der der Bedeutung des Kolonialismus Rechnung trage.

MARTIN SAAR (Frankfurt) stimmte Bhambra dahingehend zu, dass die an Marx orientierte Analyse vorkapitalistischer Verhältnisse versäumt habe, sich mit der kolonialen Vorgeschichte des Kapitalismus auseinanderzusetzen, obwohl diese den Boden für jedwede kapitalistische Aktivität bereitete. Allerdings meldete er Zweifel an, ob man die Vollzugsdynamiken des Kapitalismus, so sie denn einmal etabliert seien, allein auf Grundlage des Kolonialismus verstehen könne. Schließlich folge aus dem Desiderat gerade nicht, dass die Logik des Kapitalismus eine grundsätzlich andere sei: Interessen seien das treibende Moment kapitalistischer Dynamik, woher das Geld, um das gerungen werde, ursprünglich käme, spiele dabei nur in moralischer Hinsicht eine Rolle. Für Bhambra jedoch war der Bedeutung des Kolonialismus nicht Genüge getan, indem man ihn als historisch wirksame Kraft anerkennt.

Rahel Jaeggi besann sich auf den ersten Band des Marx‘schen Kapitals und warf ein, dass der Kapitalismus eben nicht nur ungerecht und nicht nur Diebstahl sei. Wie wolle Bhambra der analytischen Vernachlässigung der sehr spezifischen Eigenschaften des Kapitalismus vorbeugen? Und sei die Forderung nach Reparation und Umverteilung, setzte Jaeggi fort, nicht ohnehin eine liberale Idee, die keinen Raum für alternative Weltgestaltung jenseits der Beseitigung alles Schlechten offenlasse? Priorisiere Bhambra nicht die Moral gegenüber der Analyse?

Bhambra reagierte schlagfertig: Was, wenn der Kapitalismus eben doch wesenhaft ungerecht sei und auf Raub basiere? Aktuelle Theorien des Kapitalismus zeichneten sich gerade dadurch aus, dass sie es vermieden sich mit den Ungerechtigkeiten, die der Kapitalismus produziere, auseinander zu setzen und das sei nicht zuletzt deshalb der Fall, weil wir selbst – als die Profiteure dieses Systems – kein Interesse daran hätten, Rechenschaft über diese Ungerechtigkeiten abzulegen. Insofern warf die Diskussion ein Schlaglicht auf einige der diversen Schwierigkeiten, die der Schulterschluss zwischen Kritischer Theorie und Postkolonialismus notwendigerweise mit sich bringt: Von anderen theoretischen Zugängen zu profitieren, erfordert, will man nicht im Eklektizismus enden, eine Diskussion über normative und theoretische Prämissen, über die Einigkeit herzustellen nicht selbstverständlich ist.

Die Gesellschaft auf der Couch

Sehr positiv stach der Vortrag von HENRIKE KOHPEISS (Berlin) im Panel zur Globalisierung der Kritischen Theorie heraus. Moderator FELIX TRAUTMANN (Frankfurt) erklärte in seiner Einführung Dezentrierung und Dekonstruktion zu den vorrangigen Zielen einer kritischen Theorie, die den Blick über den westlichen Tellerrand hinaus werfen wolle. Kohpeiß‘ Vortrag mit dem Titel „Dynamics of Unfeeling – Colonial Affects and the Climate Crisis“ gehörte zu den wenigen Präsentationen, die sich nicht darauf beschränkten, Desiderate zu benennen und Fragen zu formulieren, sondern die konkrete Vorschläge für Begriffe machten, mit deren Hilfe gegenwärtige Tendenzen gefasst werden könnten. Unsere Unfähigkeit, angemessen auf die Klimakatastrophe, die sich vor unseren Augen abspiele, zu reagieren, hänge, so Kohpeiß, eng mit unserem „imperial mode of living“ zusammen, der uns materiell und ideell von Prekarität und ihrer Möglichkeit abschirme und dazu führe, dass nichts gegen die nahende Katastrophe unternommen werde. Dass dieses selbst wiederum krisenhafte Verhältnis von Gefühlen und Realität kritisch thematisiert werden müsse, war die These des Vortrags. Im Anschluss an ein Zitat der US-amerikanischen Psychoanalytikerin und Autorin Jamieson Webster, der zufolge das Ziel von Psychoanalyse darin liege „to accept living in constant crisis“, plädierte Kohpeiß dafür, psychoanalytische Kategorien – konkret: die unterschiedlichen psychischen Abwehrmechanismen – heranzuziehen, um das Verhältnis von nicht vorhandenen Emotionen und krisenhaften Zuständen zu erhellen.

Als die Mechanismen, mittels derer wir uns von der Realität der Klimakrise abschotten, identifizierte Kohpeiß die „Verdrängung“ von Trieben oder Dingen, die nicht gefühlt werden könnten und dann in neurotischer Form wieder auftauchten, die „Verleugnung“ als Verweigerung, die Realität zu akzeptieren, „Verneinung“ als verschobene Wahrnehmung der Wirklichkeit – etwa wenn Gefühle beschrieben werden, ohne dass der oder die beschreibende anerkennt, das er oder sie selbst sie fühlt – und „Verwerfung“, die an einem einzelnen Aspekt ansetzt, aber dazu führt, dass – wie in der Psychose – eine Desintegration der gesamten Realität stattfindet. Das Ziel müsse sein, die Struktur der psychischen Abwehrmechanismen, die unsere Realisation der Klimakrise verhindern, zunächst zu enträtseln und dann aufzuheben.

Trautmanns Frage nach dem zugrundeliegenden Begriff von Kritik, konterte Kohpeiß elegant: Ein anwendbares Modell habe sie nicht im Angebot, Kritik sei ihrem Verständnis nach allerdings nicht ohne ein tieferes Verständnis der Krise – auch der des liberalen bürgerlichen Subjekts – zu haben. Da die kritische Theoretikerin nicht allwissend sei und ebenjene Krisen stets analytisch durchdringen könne, bleibe vielleicht nur die konstante Disruption von Überzeugungen. Die Akzeptanz der Tatsache, dass man in der ständigen Krise lebe, werde so zum Kritik-Modell.

Auf die Frage, wie man der Passivierung durch die von Kohpeiß benannten Mechanismen entgegen wirken könne, ob man gar die ganze Gesellschaft in Therapie schicken müsse, präzisierte Kohpeiß ihr Anliegen anhand eines aktuellen Beispiels: sie interessiere etwa, woher die Wut gegen die Aktivist:innen der Letzten Generation komme. Von Passivität könne im Umgang mit ihnen kaum die Rede sein, es werde also gehandelt – nur gehe man gegen die Aktivist:innen statt gegen den Klimawandel vor. Eine kollektive Verständigung über diese Prozesse sei notwendig und habe sich an der Frage zu orientieren, wie die Verhältnisse durch Gefühle stabilisiert würden.

Propaganda im Wohnzimmer

Die Soziologin Bruna Della Torre sprach über „The New Organization: Digital Culture Industry, Social Networks and Right Wing Propaganda“. Sie plädierte nicht für eine Weiterentwicklung, sondern für die Wiederbelebung eines Begriffs aus der frühen Kritischen Theorie und argumentierte, dass der Kulturindustrie-Begriff aktuelle politische Entwicklungen zu erhellen vermöge. So verglich sie etwa die Effekte des Volksempfängers mit denen von Social Media: Ersterer habe die Propaganda von den Straßen in die Wohnzimmer gebracht und die Identifikation mit den Stars der Populärkultur ebenso ermöglicht wie mit den faschistischen Führern. Das könnten die Sozialen Medien ebenfalls leisten, aber der Plattformkapitalismus habe die Bedingungen für politische Einflussnahme noch verbessert: Mittels bestimmter Netzwerke wie etwa Facebook habe er Räume für neofaschistische Organisation geschaffen, die – anders als physische Orte – über keinerlei Zugangsbeschränkungen verfügten. Die politischen Nachrichten, die früher auf Plakaten in der Stadt zu lesen waren, würden heute über Memes transportiert, was die Sozialen Medien gleichzeitig zur politischen Bühne und zur primären Organisationsform mache. So mobilisiere die Kulturindustrie eine Politikform, die statt auf Dialog und Reflexion auf Emotionalität setze: Mittels Algorithmen würden In- und Outgroups hergestellt und mehr Engagement produziert als durch Parteiprogramme. Doch die staatlichen Autoritäten, monierte Della Torre, seien am Online-Geschehen einigermaßen desinteressiert.

Martin Jay gab zu bedenken, dass die heutige Situation mit der Manipulation passiver Massen nicht hinreichend beschrieben sei, sondern die Vernetzung in den Sozialen Medien eben auch eine Demokratisierung „von unten“ ermögliche. Insofern sei der Ruf nach ihrer stärkeren Regulierung durch Regierungen ein zweischneidiges Schwert, da man riskiere dem Staat zu viel Macht zuzusprechen und demokratische Bewegungen zu schwächen.

„As the Critical Theorist Greta Thunberg said: We live in a Crisis of Crises”

Die unter dem Titel „Futuring Critical Theory – Critical Social Research in Prospect“ laufende Gesprächsrunde des zweiten Abends versammelte neben Stephan Lessenich Athena Athanasiou (Athen), Robin Celikates (Berlin) und POULOMI SAHA (Berkeley), die reihum darlegten, was die ihres Erachtens die für die Kritische Theorie drängendsten Fragen seien. Lessenich beharrte darauf, dass der Kapitalismus – verstanden als soziale Praxis und ein koloniales Projekt – im Zentrum der Analyse zu stehen habe. Da er subjektivierende Kraft und moralisch ordnende Instanz sei, führe kein Weg daran vorbei, seine Reproduktion über die Mikroebene – also das konkrete menschliche Handeln – zu begreifen. Im Gegensatz dazu machte Athansiou die Theoretiker:innen selbst zum zentralen Subjekt einer kritischen Theorie, die sich vor allem öffnen müsse – für andere Narrative, Geografien und ein neues Vokabular. Nur Theoriebildung, die in marginalisierten Kontexten stattfinde, könne den durch Ausbeutung, Verlust, Sehnsucht und Trauer geprägten Erfahrungswelten der Betroffenen Rechnung tragen. Auch Celikates begann seinen Input mit der allfälligen Krisendiagnose, die er unter Bezug auf das launig gerahmte Thunberg-Zitat als „multiple Krise“ definierte. Diese sei natürlich systemischer Natur, weshalb es nicht überraschte, dass eine kritische Theorie für ihn sowohl Krisen- als auch Praxistheorie sein soll, für die soziale Bewegungen Subjekt und Movens zugleich sind. Sie seien es, die Krisen, die unter der Oberfläche schwelen, sicht- und hörbar machen. Indem sie die Unerträglichkeit der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse aufzeigten, ermöglichten sie auf theoretischer Ebene ihre Analyse und ihre Bearbeitung auf politischer Ebene.

Saha provozierte gekonnt, in dem sie in ihrem Input eine Lanze für Astrologie und Mystizismus brach. Und als ob das noch nicht reichen würde, projizierte sie das Geburtshoroskop Adornos an die Wand, der in seiner Studie „The Stars Down to Earth“ Zeitungshoroskope einer materialistischen Kritik unterzogen hatte. Da rumorte es im Saal ein wenig. Saha war sich der geballten Aufmerksamkeit gewiss, als sie dem „popular mysticsm“, der seinen Ausdruck etwa in der milliardenschweren Astrologie-Industrie findet, emanzipatorische Potenziale attestierte. Der „popular mysticism“ schrecke erstens nicht davor zurück, die gegenwärtige Krise als solche zu benennen, und zweitens beruhe sein ganzes Konzept auf einer Idee von Interdependenz. Die Einsicht in die eigene Abhängigkeit – wenn auch nicht unbedingt von den Sternen – könnte für die kritische Theorie zum Ausgangspunkt einer Neubestimmung werden. Die anfängliche Irritation des Publikums wich vorsichtiger Zustimmung.

Doch Saha war noch nicht fertig und legte nach: Die Kritiker:innen müssten in die nichtakademische Öffentlichkeit hineinwirken und dafür den Elfenbeinturm verlassen (Applaus). Aber wie könne man sich positionieren und das Publikum für sich einnehmen? Als die Co-Direktorin des Programms für Kritische Theorie in Berkeley die US-amerikanische Teen Vogue zum aktuell wichtigsten Publikationsorgan kritischer Theorie und einem hervorragenden Beispiel für gelungene Kritik am Spätkapitalismus erklärte, war kein Applaus mehr zu hören, vielmehr ein verunsichertes Lachen. Meinte Saha das ernst? Doch Celikates sekundierte und hob hervor: Wenn die kritische Theorie ihrer eigenen Irrelevanz vorbeugen wolle, müsse sie sicherstellen, keine Themen und neuen Wissensformen zu blockieren. Dem stimmte auch Athanasiou zu. Auf die Frage von Henrike Kohpeiß, ob die Kulturkritik nicht auf der Strecke bleibe, wenn Kritik zu Popkultur werde, konterte Saha unumwunden: Adorno habe eben schlicht vergessen, dass Popkultur auch Spaß machen könne.

Tödliche Politiken

In seiner Keynote, die zugleich die letzte Veranstaltung der Konferenz war, sprach DIDIER FASSIN (Paris) über „The Force of Order: How to Change What Can Be Changed“. Fassin zeigte sich verwundert, dass die Mitglieder des Frankfurter Instituts zwar von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen wurden, die Exil-Erfahrung aber kaum Eingang in ihre Gesellschaftskritik gefunden habe. Selbst die Minima Moralia setze sich – obwohl der Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ anderes vermuten lassen könnte – nicht mit den Erfahrungen von kultureller und persönlicher Fremdheit auseinander, die mit der Emigration einhergehen.

Darüber, ob Fassin mit dieser umfassenden Diagnose richtig liegt, lässt sich streiten. Dass Flucht, wie er fortfuhr, ein Charakteristikum des 21. Jahrhunderts ist, das eine kritische Sozialtheorie auf der Höhe der Zeit das Thema nicht ignorieren kann, ist hingegen weniger kontrovers. Mit den Erklärungen der Politischen Ökonomie – wonach sich die Reaktion auf Migration daran bemesse, ob die Einwandernden ökonomisch verwertbar seien – wollte Fassin sich jedenfalls nicht zufriedengeben. Dafür seien die Pushbacks an den europäischen Außengrenzen schlicht zu brutal. Und insbesondere die Zusammenarbeit der EU mit Ländern außerhalb Europas zum Zweck der Migrationsbegrenzung – etwa die Investitionen in die Küstenwache wie im Fall Libyens – habe gefährliche Folgen: So bringe etwa die Praxis der Küstenwache, die Boote, in denen Migrant:innen aufgegriffen werden, zu zerstören, die sogenannten Schlepper dazu, günstigere Materialien für den Bau ihrer Boote zu verwenden. Die riskanten Überfahrten würden dadurch noch gefährlicher.

De facto habe die Externalisierung von Grenzkontrollen, mit der die EU vorgibt, Migrant:innen davon abzuhalten, sich auf den gefährlichen Weg gen Europa zu machen, die Flucht um ein vielfaches tödlicher gemacht, wie Fassin an erschreckenden Beispielen aus seiner laufenden Forschung zu den Folgen von entsprechenden Abkommen illustrierte. KLAUS GÜNTHER (Frankfurt am Main) stellte in seinem Kommentar die Frage nach den Fluchtursachen in den Raum: Zwar seien die europäische Flüchtlingspolitik und die Verlagerung der Verantwortung ins Ausland in höchstem Maße kritikwürdig und Fluchtursachen ins Zentrum zu stellen, berge stets die Gefahr, rechtspopulistische Narrative zu befördern, die Europa von seiner Verantwortung für die Fluchtbewegungen und ihre tödlichen Folgen freisprechen wollten. Doch müsse man, so der Professor für Rechtstheorie, den globalen Kapitalismus klar als Verursacher benennen, womit er das im Vortragstitel gesetzte Ziel „to change what can be changed“ ziemlich hoch ansetzte.

Ende oder Anfang?

Die dreitägige Konferenz versammelte einige interessante Vorträge und das Programm überzeugte durch die unzweifelhafte Relevanz der verhandelten Themen: Die Diskussion von handfesten Krisen wie der Dauerkrise des Kapitalismus, dem Umgang mit Migration und Migrant:innen, der Ausbeutung von Arbeit oder der drohenden Klimakatastrophe war allgegenwärtig, unterschiedliche theoretische Perspektiven vom New Materialism über dekoloniale Perspektiven bis zur kritischen Sozialphilosophie kamen zu Wort und diskutiert wurde, wenn auch zumeist auf der Bühne, fleißig.

Doch auch und gerade vor dem Hintergrund des Besucher:innenansturms auf die einige Monate zuvor abgehaltene Zweite Marxistische Arbeitswoche (hier geht’s zum Bericht) und des großen öffentlichen Interesses an ihr, sticht die verhältnismäßig geringe Resonanz auf die Jubiläumskonferenz des Instituts ins Auge. Offenbar wirkt der Nimbus der Kritischen Theorie im Anschluss an die Vertreter der frühen Frankfurter Schule weiter, er strahlt jedoch nicht auf die akademisierte kritische Theorie nach Honneth ab. Ob der Teil des Frankfurter Erbes, der die anhaltende Faszination für das Werk und die Personen Horkheimer, Adorno und Konsorten einschließt, „asset“ oder „burden“ ist, wurde auf der Konferenz nicht entschieden.

Dass die Bilder von der Zukunft der kritischen Theorie, wie sie in Frankfurt betrieben werden soll, vage blieben, mag man dem Konferenzformat zurechnen. Es bleibt also abzuwarten, ob es dem Institut gelingt, überzeugende theoretische Angebote zu machen, mit denen die krisenhafte Gegenwart gleichermaßen erhellt und kritisiert werden kann – und die es vermögen, die Nicht-Notwendigkeit des Status quo plausibel zu machen.[1]

  1. Das Institut für Sozialforschung hat ein Zitat Max Horkheimers aus seinem programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ prominent auf der Institutswebsite platziert: „Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.“

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Lebensformen Moderne / Postmoderne Ökologie / Nachhaltigkeit Philosophie Politische Ökonomie Universität Wissenschaft

Francesca Barp

Francesca Barp ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie forscht aus rechtssoziologischer Perspektive zu migrantischer Selbstorganisation, Rechtsmobilisierung und Zugängen zu Recht und Care sowie zu diskriminierungssensibler Bildung und radikaler Demokratietheorie.

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Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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