Hubertus Buchstein | Rezension |

Anatomie des Unstaats

Alfons Söllner und Michael Wildt bringen eine Neuausgabe von Franz Neumanns „Behemoth" heraus

Franz L. Neumann:
Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944
Herausgegeben von Alfons Söllner und Michael Wildt
Deutschland
Hamburg 2018: Europäische Verlagsanstalt
XXXVI, 721 S., EUR 38,00
ISBN 978-3-86393-048-6

Franz Neumann veröffentlichte die erste Auflage seines Behemoth 1942 im New Yorker Exil. In seinem Vorwort teilt der 1900 in Kattowitz geborene und 1933 aus Deutschland zunächst nach England und dann weiter in die USA geflüchtete Autor mit, dass er das Manuskript im Juni 1941, also noch vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, abgeschlossen habe. Da er „nie an die Möglichkeit einer russisch-deutschen Kollaboration geglaubt“ (S. 17) habe, hätte dies Ereignis genauso wenig Änderungen des Buches verlangt, wie der Anfang des Jahres 1942 erfolgte Kriegseintritt der USA. Eine zweite, erweiterte Auflage erfuhr das Buch 1944 nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli. Neumann arbeitete zu diesem Zeitpunkt beim US-amerikanischen Office of Strategic Services (OSS), das im Zuge der alliierten Kriegsführung gegen die Achsenmächte aufgebaut worden war.

Als sein Buch erstmals erschien, war es die zu dieser Zeit umfangreichste Gesamtdarstellung des NS-Regimes. Darin schilderte Neumann seiner US-amerikanischen Leserschaft zunächst ausführlich den Zusammenbruch der Weimarer Republik. In drei großen Abschnitten von jeweils knapp 200 Seiten analysierte er anschließend die politische Struktur des Nationalsozialismus, die totalitäre Monopolwirtschaft im NS-Regime sowie die gesellschaftliche Struktur Nazi-Deutschlands. In der erweiterten Auflage von 1944 legte er dann einen besonderen Akzent auf die Veränderungen, die sich in diesen Bereichen nach der deutschen Niederlage in Stalingrad ergeben hatten.

Den Titel seines Buches hatte Neumann dem Buch Hiob entnommen, in dem von Behemoth als einem bösartigen, alles vernichtenden Ungeheuer berichtet wird. Mit dieser Namenswahl brachte Neumann eine der zentralen Thesen seines Buches auf den Punkt, wonach es sich beim NS-Regime nicht um einen übereifrigen Leviathan im Sinne von Thomas Hobbes handelt, also um einen starken Staat, sondern „um einen Unstaat, ein Chaos, einen Zustand der Gesetzlosigkeit, des Aufruhrs und der Anarchie“ (S. 16).

Schon unmittelbar nach seinem Erscheinen gehörte das umfangreiche Werk zur Standardliteratur nicht nur der US-amerikanischen NS-Forschung, sondern diente in den ersten Nachkriegsjahren auch als Nachschlagewerk, um MitarbeiterInnen der US-amerikanischen Besatzungsbehörden die Zuständigkeiten und Funktionsabläufe im besiegten NS-Regime verständlicher zu machen. Auch bei der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse und der Nachfolgeprozesse 1946–1949 folgten die US-amerikanischen Anklagevertreter Neumanns Analyse des NS-Regimes. Seine Polykratie-Theorie von den vier tragenden Säulen des NS-Systems – Partei, Monopolkapital, Bürokratie, Wehrmacht – gilt bis heute als systematisierende Vorlage für die Ordnung der Nürnberger Beweisdokumente. Neumann starb 1954 während eines seiner zahlreichen Besuche in Europa bei einem Autounfall. Sein Buch blieb in Deutschland eine Art Geheimtipp. Verschiedene nach seinem Tod unternommene Anläufe, dem deutschsprachigen Lesepublikum eine Übersetzung der Schrift zugänglich zu machen, verliefen im Sande.

Tatsächlich sollte es mehr als zwei Jahrzehnte dauern, bis unter der Herausgeberschaft von Gert Schäfer eine deutsche Übersetzung des Buches bei der Europäischen Verlagsanstalt (EVA) erscheinen konnte. Die Initiative dazu hatte Schäfer, der damals in Hannover Politikwissenschaft lehrte, bereits Anfang der 1970er-Jahre ergriffen. Mit Neumann als Autor hatte der Verlag zuvor schon einmal gute Erfahrungen im Zusammenhang mit den Lektüreinteressen der studentischen Protestbewegung gemacht. So hatte man 1967 Neumanns – posthum von Herbert Marcuse herausgegebene – Aufsatzsammlung Demokratischer und Autoritärer Staat veröffentlicht, die bis Mitte der 1970er-Jahre mehrere Neuauflagen erlebte. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 1977 erschien dann die erste deutsche Ausgabe des Behemoth. Drei Jahre zuvor war – beim gleichen Verlag – bereits eine Übersetzung von Ernst Fraenkels Doppelstaat herausgekommen. Damit lagen nun, mehr als dreißig Jahre nach Kriegsende, die beiden wichtigsten Analysen des NS-Regimes aus der Feder deutscher Emigranten endlich auch dem deutschsprachigen Lesepublikum vor.

In kurzer Zeit avancierte Neumanns Buch nun auch in der Bundesrepublik zu einem viel gelesenen und häufig zitierten Klassiker der NS-Forschung. Im Frühjahr 1984 wurde das umfängliche Werk als Taschenbuch in die legendäre ‚Schwarze Reihe‘ des Fischer-Verlages aufgenommen, wo es zwanzig Jahre später, im Jahr 2004, auch seinen letzten unveränderten Nachdruck erfuhr. Zwischenzeitlich war das Buch vergriffen, nur ab und zu wurden einzelne Exemplare auf Online-Foren von Antiquariaten zu Liebhaberpreisen angeboten. Jüngst hat sich nun abermals die EVA einer Neuausgabe des Buches angenommen, diesmal allerdings in einer gegenüber der Auflage von 1977 veränderten Variante.

Als Herausgeber der Neuedition konnten mit dem Politikwissenschaftler Alfons Söllner und dem Historiker Michael Wildt zwei ausgewiesene Fachmänner gewonnen werden. Die von ihnen und dem Verlag getroffene Entscheidung, den Satzspiegel der Ausgabe von 1977 unverändert zu lassen, ist nicht nur aus drucktechnischen und kaufmännischen Erwägungen heraus nachvollziehbar, sie hat auch inhaltlich ihre volle Berechtigung. Denn das damalige Übersetzerduo Hedda Wagner und Gert Schäfer hat sehr gründlich gearbeitet und eine vorzügliche, bis heute gültige Übertragung vorgelegt. Beiden war es gelungen, Neumanns bewusst nüchternen Stil wie auch seinen gelegentlich aufscheinenden Sarkasmus in die deutsche Version einfließen zu lassen. Und wenn man den von Neumann in nur drei Jahren eiligst heruntergeschriebenen amerikanischen Originaltext genauer mit der deutschsprachigen Fassung vergleicht, dann wirken Wagners und Schäfers Übertragung der korrekten Bezeichnungen der reichsdeutschen Institutionen, ihre terminologische Konsistenz sowie vor allem die Lesbarkeit ihrer Übersetzung insgesamt sogar noch gelungener als das amerikanische Original, dem man anmerkt, an welchen Stellen Otto Kirchheimer, Arkadij Gurland und Ossip K. Flechtheim ihrem Kollegen Neumann mit Textteilen Zuarbeit geleistet haben.

Gut beraten war der Verlag auch, bei der Neuausgabe von 2018 auf Gert Schäfers altes Nachwort zur Bedeutung von Neumanns Behemoth im Kontext der Faschismusdiskussion der 1970er-Jahre zu verzichten. Schäfer hatte darin auf mehr als hundert Seiten akribisch dargelegt, wie sich Neumanns Buch in den damaligen Kontext vor allem marxistisch inspirierter Faschismustheorien einordnen lässt und inwiefern es sich sämtlichen anderen seinerzeit vorhandenen Analysen des NS-Regimes gegenüber als überlegen erweist. Man muss den von Schäfer seinerzeit vorgenommenen Bewertungen nicht in allen Punkten folgen, um sein umfangreiches Nachwort mit den vielen Zitationen und weiterführenden Literaturhinweisen nach wie vor als sehr informativ und instruktiv wahrzunehmen. Aber mit seiner kapitalismustheoretischen Stoßrichtung ist es heute selbst schon zu einem Teil der Wissenschaftsgeschichte geworden. Für die neue Ausgabe haben die beiden Herausgeber daher einen anderen Weg der editorischen Kommentierung von Neumanns Werk gewählt, das sie durch ein neues Vorwort und ein neues Nachwort gleichsam eingerahmt haben. Beide Texte setzen dabei auf eine konsequent historisierende Kommentierung des mittlerweile fast 75 Jahre alten Buches von Neumann.

Das neue Vorwort stammt von Alfons Söllner. Darin schildert er Neumanns Weg von dessen Zeit als Arbeitsrechtler in der Weimarer Republik über die verschiedenen Stationen des Exils bis hin zur späteren Tätigkeit als Professor für Politikwissenschaft an der New Yorker Columbia University. Söllner entfaltet weite Teile der biografischen und theoretischen Entwicklung Neumanns anhand der Figur des political scholar, die sich erst aus der existenziellen Erfahrung des Exils gebildet habe. Bedauerlich ist, dass sich in dem Vorwort kaum Informationen zur konkreten Arbeit an dem Buch und seiner Editionsgeschichte während Neumanns Zeit in New York und Washington finden. Gern hätte man etwas mehr über Neumanns Zusammenarbeit mit Otto Kirchheimer und anderen seiner Kollegen sowie über die nur knapp erwähnten Vorarbeiten für das American Jewish Committee erfahren. Für Leserinnen und Leser, die bislang nur wenig über Neumann wissen, wird die Lektüre des Vorwortes gleichwohl gewinnbringend sein; diejenigen hingegen, die insbesondere mit Söllners Arbeiten zu Neumann schon besser vertraut sind, werden darin wenig Neues erfahren – abgesehen von einer ebenso bemerkenswerten wie überzeugenden Ausnahme: Söllners These, dass Neumann selbst für die jahrzehntelang unterbliebene Übersetzung des Behemoth ins Deutsche verantwortlich zu machen sei. Warum, so fragt Söllner spekulativ, hat Neumann, der maßgeblichen Einfluss auf die Gründung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik hatte und im Rahmen seiner Funktion auch auf erhebliche Finanzmittel zugreifen konnte, auf die Übersetzung seines opus magnum in die Sprache der Täter verzichtet? Neumann hätte doch nach 1945 alle Möglichkeiten für ein entsprechendes Vorhaben gehabt – dass er es unterließ, deutet Söllner als ein absichtliches „unter Verschluss halten“ (S. XXXII). Seine beiden mit viel Feingefühl vorgetragenen Erklärungen für diese Unterlassung überzeugen: Zum einen habe Neumanns Polykratie-Theorie von den vier tragenden Säulen des NS-Systems die nach 1945 für viele Deutsche höchst provozierende These impliziert, dass die Verbrechen des NS-Regimes das Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses waren, an dem alle Deutschen auf die eine oder andere Weise mitgewirkt haben. Und zum anderen mag Neumann das Gefühl gehabt haben, dem dunkelsten Kapitel des NS-Regimes, dem Massenmord an den europäischen Juden, mit seiner Analyse nicht gerecht geworden zu sein. Geradezu selbstquälerisch habe sich Neumann in den letzten Jahren vor seinem Tod immer wieder gefragt, ob er vor 1933 den Nationalsozialisten nicht noch klüger und mutiger hätte entgegentreten müssen. Söllner diagnostiziert bei Neumann eine Art psychologische Grundkonstante, die für die erste Generation der überlebenden jüdischen Emigranten typisch gewesen sei, nämlich das nagende Schuldgefühl derer, die dem Genozid entronnen waren. Söllners Erklärung hat viel für sich. Eine ganz ähnliche Reaktion hatte beispielsweise auch Ernst Fraenkel gezeigt, den Alexander von Brünneck Anfang der 1970er-Jahre nur durch viel gutes Zureden zu einer deutschen Übersetzung seines Dual-State bewegen konnte. Überdies decken Söllners Überlegungen sich auch mit den Erinnerungen Raul Hilbergs, dem Verfasser des Buches über Die Vernichtung der europäischen Juden, der Anfang der 1950er-Jahre bei Neumann an der Columbia University studiert und bei seinem akademischen Lehrer eine starke psychische Abwehrreaktion wahrgenommen hatte, als er ihm von seinem Forschungsvorhaben berichtete.

Das neue Nachwort (S. 663–699) stammt aus der Tastatur des zweiten Herausgebers, Michael Wildt, der Neumanns Buch im Kontext der jüngeren NS-Forschung seit 1977 verortet. Wildts informierter Text macht eindringlich deutlich, wie sehr sich die Horizonte der Rezeptionsperspektive während der vergangenen vierzig Jahre verschoben haben. Ich kann mich noch gut daran entsinnen, als die Übersetzung des Behemoth im sogenannten „Deutschen Herbst“ 1977 zum ersten Mal auf den Buchmarkt kam. Es war eine Zeit, die geprägt war durch massive staatliche Verfolgung von angeblich mit der RAF sympathisierenden Linken, vom Kokettieren eines Teils der politischen Elite des Landes mit einem autoritären Staat, von einer starken intellektuellen Präsenz des Schmittianismus in der Staatslehre, von einer Zeitgeschichtsschreibung, die sich erst langsam auf den Weg zurr Internationalisierung ihrer Forschungsperspektiven machte und von einer Studierendenschaft in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern, die es vielfach als eine Zumutung empfand, englischsprachige wissenschaftliche Texte zu lesen. Zugleich gab es in dieser Zeit unter jungen Akademiker*innen auf Seiten der Linken ein großes Interesse an verschiedenen Strömungen des (westlichen) Marxismus und an den Theorien der Frankfurter Schule. Mit der heutigen historischen Distanz lässt sich das damalige zeitgeschichtliche Kolorit in den beiden zunächst dominierenden Rezeptionsperspektiven des Behemoth wiedererkennen: Zum einen in der Frage nach den Ursachen für das Scheitern liberaler Massendemokratien und ihres Umschlags in autoritäre Regime, zum anderen in dem starken Interesse an den kapitalismustheoretischen Überlegungen Neumanns.

Wie wenig Einfluss demgegenüber gerade die kapitalismustheoretische Einbettung der Neumannschen NS-Analyse auf die heutige Rezeption seines Buches sowie die neueren Trends der NS-Forschung hat, macht Wildts Nachwort bereits in seiner Gliederung und seinen Zwischenüberschriften deutlich. Während die Staatsbürokratie und die NS-Partei als zwei der vier Säulen aus Neumanns Polykratie-These im Nachwort ein eigenes Unterkapitel erhalten, wird dies für das Monopolkapital, auf dessen Schilderung Neumann immerhin mehr als ein Drittel seines Buches verwendet hat, nicht mehr für nötig erachtet. Zwar erkennt Wildt das historische Verdienst von Neumanns Bemühungen um eine Theorie der totalitären Monopolwirtschaft im nationalsozialistischen Deutschland durchaus an. Doch hält er diesen Aspekt heute offenbar für weniger bedeutsam und lobt Neumann stattdessen für sein „aufgeklärtes Verständnis von Marxismus“ (S. 683), in dessen Analysen der cultural turn in den Geschichtswissenschaften „durchaus aufgehoben“ (ebd.) sei.

Im Zentrum von Wildts Nachwort steht Neumanns Position im Kontext der Holocaustforschung. Detailliert zeigt er darin auf, was Neumann zum Zeitpunkt seiner Arbeiten am Behemoth bereits über den nationalsozialistischen Völkermord wissen konnte, und was nicht. Völlig zu Recht hebt er in diesem Zusammenhang hervor, dass der rassistische und antisemitische Charakter des NS-Regimes von Neumann weder übersehen noch relativiert worden ist, sondern in dem Buch an verschiedenen Stellen ausdrücklich thematisiert wird und insgesamt einen breiten Raum einnimmt. Auch wenn Neumann wie so viele Deutsche im Exil hoffte, dass der Antisemitismus bei der deutschen Bevölkerung nicht dauerhaft Fuß fassen möge, habe er nüchtern registriert, an welche Vorurteile die antisemitische Propaganda anschließen konnte. Wildt arbeitet in diesem Zusammenhang auch gut heraus, wie klar Neumann in der erweiterten Auflage seines Buches von 1944 die sich zwischenzeitlich ereignende Eskalation des Völkermords erkannt und sie schonungslos als „physische Ausrottung der Juden“ (S. 582) bezeichnet hat. Neumann sah im Antisemitismus die „Speerspitze des Terrors“ (S. 582) auf dem Weg zu dem Ziel, die Zerstörung aller freiheitlichen Institutionen, Meinungen und Gruppen zu erreichen. Das entsprechende Buchkapitel über „Antisemitismus“ in der Ausgabe von 1944 basierte auf Analysen, die Neumann 1943 für das OSS geschrieben hatte; seine ‚Speerspitzentheorie‘ wurde vom Chefankläger Robert H. Jackson 1945 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher bis in einzelne Formulierungen hinein übernommen. Wildt stellt als besondere Leistung von Neumann heraus, dass er aufgrund seiner begrenzten Informationen zwar die ungeheure Dimension des Holocausts nur in Umrissen wahrnehmen konnte, dass er aber bereits die ganze Radikalität des nationalsozialistischen Antisemitismus erkannt und in einen Zusammenhang mit der rassistischen Politik des Regimes gestellt habe. Eine Erkenntnis, so Wildt, „die sich in der Holocaust-Forschung erst Jahrzehnte später durchsetzte“ (S. 687).

Von Götz Aly ist Wildt in einer Rezension der Neuedition scharf dafür gerügt worden, nicht auch Ernst Noltes lobende Erwähnung von Neumanns Buch aus dem Jahr 1967 gebührend erwähnt zu haben. Aly hat darin gleich einen Akt von absichtlichem Verschweigen gewittert, in dem er „etwas Liberalstalinistisches“ erkennen zu können meinte.[1] Dieser Vorwurf ist insofern völlig überzogen, als Nolte sein Lob sogleich mit einer Kritik an Neumanns kapitalismustheoretischer Perspektive verbunden hatte und zudem in keiner Phase seiner vielfältigen Arbeiten zu den Themen Faschismus und Nationalsozialismus tatsächlich in substanzieller Weise auf dessen Analyse rekurriert hat. Man liegt vermutlich nicht falsch, wenn man Alys polemischen Vorwurf eher als Ausdruck verletzter Eitelkeit deutet. Denn Wildt legt dar, dass Neumann den sozialimperialistischen Charakter des NS-Regimes ausführlich zu beschreiben wusste, lange „bevor Götz Aly publikumswirksam mit seinem Buch Hitlers Volksstaat“ (S. 696) einen Zusammenhang zwischen der Wohlfahrt der deutschen „Volksgemeinschaft“ und der Ausplünderung der besetzten Gebiete hergestellt hat.[2] Wildt geht sogar noch einen Schritt weiter. Mit Neumanns Ansatz lasse sich nicht nur die nationalsozialistische Ideologie der „Volksgemeinschaft“ mit ihrem propagandistischen Bild der völkischen Einheit und der Überwindung aller Klassenschranken als zentraler gesellschaftlicher Integrationsfaktor erkennen. Mit Neumanns Analyseperspektive bekomme man – „entgegen einem von Götz Aly vertretenen Ansatz“ (S.682), wonach der Nationalsozialismus in eine Kontinuitätslinie mit sozialegalitären politischen Bewegungen gestellt werden müsse – auch die mit der Durchsetzung der „Volksgemeinschaft“ einhergehenden „neuen Ungleichheiten“ (S. 683) besser in den Blick.

Über derartigen Nickeligkeiten unter Historikern, bei denen es im Kern um die tatsächlich wichtige Frage nach den sozialistischen Elementen der nationalsozialistischen Politik geht, sollten die Anregungen, die das Buch von Neumann für die heutige Zeit bieten kann, nicht unter den Tisch fallen. Auch heute treten rechte und rechtsradikale Parteien in Europa wieder mit einer betont sozialen Programmatik auf. Der rechtsradikale Flügel der AfD um Björn Höcke spricht explizit davon, die Frage der nationalen Identität mit der sozialen Frage zu verbinden. Einen weiteren Anknüpfungspunkt für heutige Analysen bietet Neumanns konzeptionelle Grundüberlegung, das NS-Regime nicht mit den Schmittschen Kategorien der Diktatur oder eines starken autoritären Staates zu deuten, sondern es – und diesen Gedanken verdankt Neumann nicht zuletzt einer bereits aus dem Jahr 1935 stammenden Analyse des Dritten Reiches von Otto Kirchheimer[3] – in seiner labilen Kompromissstruktur zwischen rivalisierenden sozialen Gruppen zu beschreiben. Auch heute stoßen wir bei der Analyse von diktatorischen, autoritären oder populistisch legitimierten Systemen auf das Phänomen von mafia-ähnlichen oligarchischen Gruppen, die in ihren informellen politischen Einflussnahmen miteinander rivalisieren, wechselnde Koalitionen eingehen und temporäre Absprachen untereinander treffen. Neumanns historische Analyse legt exemplarisch für das NS-Regime dar, wie labil und wie gefährlich die Etablierung eines Systems von brutal miteinander ringenden Machtcliquen ist und welch mörderisches Eskalationspotenzial von diesen freigesetzt werden kann. Franz Neumann war zeitlebens ein überzeugter Demokrat, zunächst mit hoffnungsfroher sozialistischer, in seinen letzten Lebensjahren dann mit skeptisch-sozialliberaler Färbung. Sein Behemoth ist – neben all seinen historiografischen Verdiensten – aktuell nicht zuletzt auch ein starkes Plädoyer für die kämpferische Verteidigung des demokratischen Verfassungsstaates gegen seine populistischen und diktatorischen Verächter.

  1. Götz Aly, Der Unstaat, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. Mai 2018, S. 12.
  2. Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.
  3. Vgl. Otto Kirchheimer, Staatsgefüge und Recht des dritten Reiches (1935), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 2: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus, hg. v. Hubertus Buchstein und Henning Hochstein, Baden-Baden (im Erscheinen), S. 152–181.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Staat / Nation Rassismus / Diskriminierung Gesellschaft

Hubertus Buchstein

Hubertus Buchstein ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Publikationen zur Demokratietheorie, Wissenschaftsgeschichte, Losverfahren und Politischen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschien von ihm „Enduring Enmity – The Story of Otto Kirchheimer and Carl Schmitt“ (2024).

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