André Häger | Jubiläum |

André Gorz: Schüler oder Meister?

Zum 10. Todestag des französischen Sozialphilosophen André Gorz (1923–2007)

Im Herbst 2007 schieden André Gorz und seine Frau Dorine freiwillig und auf umsichtige Weise aus dem Leben. Kein Grab, kein Stein, das war der letzte Wille des Paares. Was Gorz prinzipiell an einem Grab gestört haben dürfte, ist die Überzeugung, dass es ein Ort des Seins, eine Ablagerung von gelebter Identität und Existenz ist. Gemeinhin glaubt man, Gräber wären lediglich letzte Ruhestätten. Aus der Gorzschen Perspektive eine Fehleinschätzung: Gräber bestehen aus Erinnerungen, aus Momenten der Vergangenheit, aus toter Materie, sie beherbergen geronnenes Nichts, das zu Sein geworden ist. Gorz wollte keinen solchen Ort. Die Ablehnung – hier wie überall – dessen, was das menschliche Leben als verflüssigtes Sein erstarren lässt, was es von seiner Freiheit entfremdet. Nicht sein, also auch keine letzte Gedenkstätte haben – nicht einmal ein dezentes und einfaches Grab, wie das von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir auf dem Friedhof von Montparnasse –, sondern sich, konsequenter als der „Meister“ Sartre, in die Winde verstreuen lassen. Ohne Zweifel eine radikale existentialistische Geste, wie es bereits zuvor der Freitod war. Auch hier Kampf, gleichsam der finale, des Nichts gegen das Sein. Einem Sein, das bereits bis ins Mark vorgedrungen war, sich in den altersmüden Knochen, in jeder Pore und jeder Zelle des betagten Körpers bemerkbar machte, Dorine jahrelang an Schmerzmittel und Medikamente fesselte, das Paar nicht mehr reisen und es in ihrem Haus in Vosnon festwachsen ließ. Der Freitod als letzter Sieg des Nichts im Duell mit dem Sein, das drohte, in dieser Auseinandersetzung die Oberhand zu gewinnen. Man kann, muss vielleicht gar, die Geschichte des Freitodes so, als philosophischen Tod, erzählen. André Gorz war nämlich ein konsequenter Existentialist, der die philosophischen Arbeiten Sartres als Bausteine für ein Werk ganz eigener Art verwendete.

Die erste Begegnung mit Sartre ereignete sich im Jahr 1946 in der Schweiz. „Bei einer Zusammenkunft in Lausanne“, erinnert Simone de Beauvoir, „hatte Sartre einen Mann namens Gorz kennengelernt, der Sartres Werk in- und auswendig kannte und sich treffend darüber äußerte.“[1] Seit Ende 1943 bewegte sich Gorz, der zu jener Zeit in Lausanne Chemie studiert und unter dem Namen Gerhart Horst immatrikuliert ist, in einem Universum, dessen Grenzen Das Sein und das Nichts (1943) sind. Alle Regungen und Begegnungen, all seine Erfahrungen bezieht er in diesen Tagen auf die entsprechenden Seiten des philosophischen Werkes; er verschenkt die Schrift im Bekanntenkreis und schreibt hinein, „das Wahrste, das ich je gehabt habe, was immer ich später darüber sagen werde“.[2]

Es ist interessant, die Frage aufzunehmen, was der spätere Gorz über Sartre und Das Sein und das Nichts gesagt hat. Ist er wahrlich in der Rolle des „Sartre-Schüler[s]“ verblieben, „der den Meister“ bis hin zur „Idolatrisierung verehrt“, wie es Jean Améry festhielt?[3] Ich meine, nein. In Wirklichkeit war die Beziehung zwischen den beiden alles andere als harmonisch, vielmehr komplex. Als Sartre beispielsweise Anfang der 1960er-Jahre das revolutionäre Potenzial in den westlichen Metropolen abschrieb, hoffnungsvoll den Blick auf die Südhalbkugel richtete und im Guerilla-Ton die antikolonialen Kämpfe in der Dritten Welt unterstützte, folgte Gorz ihm nicht. Mehr noch, er übte scharfe Kritik und verfasste mit Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus (1964) einen entschiedenen Gegenentwurf, in dem er auf Formen der Entfremdung in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens verwies, die ein weitaus höheres revolutionäres Potenzial aufweisen würden als die nationale Unterdrückung in der Dritten Welt. Und als Sartre nach dem Mai 1968 – ein Ereignis im Übrigen, das die These aus Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus gewissermaßen bestätigte – eng mit den Maoisten zusammenarbeitete, war das Verhältnis äußerst angespannt. Für Gorz waren Sartres neue Freunde Neostalinisten, gegen die es vehement anzuschreiben galt.

Es gibt eine Szene, an der vielleicht am eindringlichsten die spätere Beziehung von Gorz zu Sartre und dessen Werk ablesbar ist. Die Szene spielt in Paris, im Frühjahr 1972. Gorz sitzt, in rotem Rollkragenpullover und schwarzer Schlaghose gekleidet, die Beine überschlagend, vor einer Bücherwand. Eingefunden haben sich auch Jacques-Laurent Bost, Jean Pouillon, Simone de Beauvoir und Sartre. Anlass sind die Dreharbeiten zu Sartre par lui-même (1976), einem Dokumentarfilm von Alexandre Astruc und Michel Contat. Zigaretten glimmen, dichte Rauchschwaden durchziehen den Raum während man Sartres Wege als Intellektueller rekonstruiert. Gorz hält sich im Hintergrund, bringt sich lediglich mit wenigen Sätzen ein. Erst spät, der Film neigt sich bereits dem Ende, ist seine leise Stimme etwas länger auf dem Filmtonband zu hören: „Ich möchte gern, wenn Sie [Sartre] einverstanden sind, daß wir einiges ergänzen, was wir nach Das Sein und das Nichts übersprungen haben. Wie würden Sie heute definieren, was von Das Sein und das Nichts als Entwurf gültig geblieben ist?“[4] Sartre wiegelt ab. Er habe damals lediglich „Allgemeinheiten über die Existenz des Menschen“ von sich gegeben, „ohne dabei zu berücksichtigen, daß diese Existenz immer historisch situiert ist und sich von dieser Situation her definiert“, heute wisse er es besser. Gorz lässt nicht locker, verteidigt das Werk gegen das abschätzige Urteil seines Autors: „Dennoch ist Das Sein und das Nichts – wenigstens in meinen Augen – nach wie vor der einzige Versuch einer Grundlegung der Psychologie und der Psychoanalyse. Und gleichzeitig ist es eine Phänomenologie der spezifischen Realität des Bewußtseins, was bis dahin sogar bei den deutschen Phänomenologen […] völlig unbekannt war. Das hatte noch niemand gemacht. Das Sein und das Nichts endet mit einer ganzen Seite von Fragen, die einen spüren lassen, daß dieses Werk so etwas [ist] wie, sagen wir, Prolegomena zu einer jeden Ethik der möglichen Befreiung“. Der Angesprochene erteilt eine knappe Antwort mit Verweis auf seine Kritik der dialektischen Vernunft (1960). Dann wieder die Stimme von Gorz: „Es gibt einen sehr klaren Unterschied zwischen Das Sein und das Nichts und der Kritik …“, worauf Sartre ihm ins Wort fällt und ihn harsch unterbricht.

Was ist an dieser Szene ablesbar? Vielleicht erst einmal dies: Es handelt sich um keinen herrschaftsfreien Diskurs. Aber Gorz gibt sich auch nicht als ein von „Idolatrisierung“ gefangen genommener Schüler zu erkennen, der eilig nickt und blindlings den Vorgaben des Meisters folgt. Im Gegenteil. Er insistiert, hakt nach, gibt sich nicht zufrieden und versucht Sartre etwas abzuringen, das dieser nicht bereit ist, sich abringen zu lassen: das Bekenntnis zu einem Werk, welches für den einen nur noch toter Buchstabe und Ansammlung unzulänglicher Gedanken ist, für den anderen ein lebendig gebliebener Text.

Es gibt eine Art Gorzsche Gattungslehre von Texten. Solche, die auf die Kraft des Intellekts setzen, auf nachvollziehen und verstehen und die man versteht, indem man nachvollzieht. Daneben solche, die den Intellekt außer Kraft setzen und wo nachvollziehen nicht in verstehen mündet, sondern in einfühlen und erleben. In der Gorzschen Gattungslehre gibt es aber noch eine dritte Form, eine Art Mischform. Diese Texte geben zu verstehen, machen Wirklichkeit verständlicher, halten aber zugleich dazu an, im und jenseits des Verstandenen etwas zu spüren, sich also als erlebendes Subjekt wahrzunehmen. Und zu dieser Gattung, zu dieser eher seltenen Mischform, in der Gorz auch selbst zu schreiben versucht, zählt er Das Sein und das Nichts. Das mag deutlich werden, wenn er bei der Verteidigung des Werkes zunächst die Schrift als „Grundlegung der Psychologie und der Psychoanalyse“ und als „eine Phänomenologie der spezifischen Realität des Bewußtseins“ wertschätzt, mithin als etwas, das zu verstehen gibt; und dann bemerkt, dass die Seiten des Buches „einen [etwas] spüren lassen“.

Sartre hin oder her. Wozu Gorz wirklich eine beständige Beziehung unterhält, ist dieser Text, mit dem ihm insbesondere zweierlei verband. Zum einen Handreichung von philosophischen Gedankengängen, Motiven und Begriffen, die er intensiv nachvollzogen und verstanden hat; zum anderen eine affektive Berührung, ähnlich einer inneren Stimme, die im Lesenden bei der Lektüre mitschwingt, eine Stimme, die in Gorz’ Fall ihn anhielt, das Verstandene in persönlicher, ureigener Weise anzuwenden. In gewissem Sinne zeugt davon auch der Freitod im Herbst 2007, aber zuvörderst sein umfangreiches Werk, in dem er das Verstandene der Sartreschen Philosophie durch Gebrauch auf völlig neuem Terrain weiterentwickelte – beispielsweise auf dem Feld der politischen Ökologie (Ökologie und Politik 1975; Ökologie und Freiheit 1977), in den zahlreichen Analysen einer sich wandelnden Arbeitsgesellschaft, deren Ende er theoretisierte (Abschied vom Proletariat 1980; Wege ins Paradies 1983; Kritik der ökonomischen Vernunft 1988; Arbeit zwischen Misere und Utopie 1997), und zuletzt im Zuge der Kritik einer Ökonomie, in der Wissen zur Hauptproduktivkraft geworden ist (Wissen, Wert und Kapital 2003).

Was auch zehn Jahre nach dem Freitod von André Gorz bleibt, ist dieses breit gefächerte Werk. Es lädt ein zum Lesen, zum Nachvollziehen und Verstehen. Und die Lektüre lohnt sich, weil die Gorzschen Texte jedem Leser und jeder Leserin die eigene Lebenswirklichkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft verständlicher machen. Aber Vorsicht! Der Griff zu seinen Texten birgt das Risiko, sich als erlebendes Subjekt zu entdecken, das diese Lebenswirklichkeit wie sich selbst in Frage stellt. Gerade die Verbreitung dieses Risikos, das subtile Auslegen dieser Falle, ist Gorz nämlich in seinem Werk meisterlich gelungen – vielleicht gar besser, als dem „Meister“ selbst.

  1. Simone de Beauvoir, Der Lauf der Dinge, übers. v. Paul Baudisch, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 95 (Orig.: La force des choses, Paris 1963).
  2. André Gorz, Der Verräter. Mit dem Essay „Über das Altern“, übers. v. Eva Moldenhauer, Zürich 2008, S. 284 (Orig.: Le traître, Paris 1958).
  3. Jean Améry, Jean-Paul Sartres Engagement (1968), in: ders., Werke, Bd. 6, Aufsätze zur Philosophie, hrsg. v. Gerhard Scheit, Stuttgart 2004, S. 47–67, hier S. 61.
  4. Für dieses und die folgenden Zitate vgl. Sartre. Ein Film von Alexandre Astruc und Michel Contat. Unter Mitwirkung von Simone de Beauvoir, Jacques-Laurent Bost, André Gorz und Jean Pouillon, übers. v. Linde Birk, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 63f. (Orig.: Sartre. Un film réalisé par Alexandre Astruc et Michel Contat, Paris 1977).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Philosophie Geschichte der Sozialwissenschaften

André Häger

Dr. André Häger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Politische Theorie und Ideengeschichte des Instituts für Politikwissenschaft & Japanologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dissertation: André Gorz und die Verdammnis zur Freiheit. Studien zu Leben und Werk (erscheint demnächst im transcript Verlag).

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