Greta Wagner | Rezension |

Arbeit am Selbst

Rezension zu „Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche“ von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa (Hg.)

Vera King / Benigna Gerisch / Hartmut Rosa (Hg.):
Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche
Unter Mitarbeit von Julia Schreiber und Benedikt Salfeld
Deutschland
Berlin 2021: Suhrkamp
338 S., 25,00 EUR
ISBN 978-3-518-29955-5

„Je ähnlicher man dem Bild wird, das man von sich selbst erträumt, umso authentischer wird man“ – so lautet das Credo der durch vielfache Schönheitsoperationen geprägten Figur der Agrado in Pedro Almodovars Film Alles über meine Mutter. Während Agrado in dem Filmdrama ihren Körper mit dem Ziel gestaltet, immer mehr sie selbst zu werden, ist der öffentliche Diskurs über Selbstoptimierung von einem Authentizitätsideal geprägt, das vor allem der Kritik an Selbstoptimierung als Maßstab dient: Wer sich selbst treu bleiben will, darf sich nicht den heteronomen Idealen der Schönheitsindustrie unterwerfen.

Auch der hier zu besprechende Band Lost in Perfection, der auf eine gleichnamige Tagung an der Universität Hamburg zurückgeht und zuvor bereits auf Englisch veröffentlicht wurde,[1] nimmt – wie der Titel nahelegt – eine problematisierende Perspektive auf Optimierung ein. Er vereint Beiträge, die Optimierung wahlweise als gesellschaftliches Diskursereignis, als Prinzip institutioneller Ordnung oder auch als deren innerpsychischen Niederschlag behandeln. Damit bietet Lost in Perfection neben erhellenden Ergebnissen aus der von Benigna Gerisch, Vera King und Hartmut Rosa durchgeführten empirischen Studie zu „Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne“ einen ausgezeichneten Überblick über soziologische und sozialpsychologische Diagnosen zur Selbstoptimierung.

In der Einleitung formulieren die drei Herausgeber:innen ihre leitende These, dass Vorstellungen von Perfektion als unerreichbar bleibendem sittlich-ästhetischen Ideal gegenwärtig von einer Optimierungsnorm der permanenten Grenzüberschreitung abgelöst würden. Diese sei mit Marktprozessen verwoben, wirke sich auf Lebensbereiche wie den Körper, das Intime oder die Freundschaft aus und greife kolonisierend in diese Bereiche ein. Diese Diagnose zieht sich wie ein Leitfaden durch die verschiedenen Beiträge des Bandes. Theoretische Abhandlungen machen die gesellschaftlichen Kontexte der Optimierungsnorm zum Gegenstand der Untersuchung: technische Innovationen, Verwettbewerblichung, gesellschaftliche Beschleunigung und Finanzialisierung. In psychoanalytischen Fallstudien werden die Selbstverhältnisse sich Optimierender erkundet und die entsprechenden Anstrengungen als Verschiebungen und Verdrängungen tieferliegender Mangelerfahrungen gedeutet. Der Band vereint so unterschiedliche sozialtheoretische Perspektiven in Form kürzerer, zeitdiagnostisch orientierter Essays mit längeren empirischen und theoretischen Studien.

Die an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales forschende Soziologin Ève Chiapello nimmt in ihrem Beitrag den ökonomischen Kontext von Optimierungsbestrebungen in den Blick. Ihrer Diagnose zufolge prägt das Prinzip der Renditemaximierung, das Leitmotiv schlechthin der kapitalistischen Finanzialisierung, zunehmend die Konstruktion eines Subjekts, das jede seiner „Handlungen auf eine zu erwartende Rendite ausrichtet, nicht nur hinsichtlich ihres Nutzens (Lust und Leiden), sondern auch hinsichtlich der Möglichkeiten, das Kapital zu erhöhen (das heißt der Fähigkeit, zukünftige Dividenden zu erzielen)“ (S. 39 f.).

Auf welche Weise solche „Makroanforderungen in Mikroorientierungen“ übersetzt werden, untersuchen Hartmut Rosa, Diana Lindner und Jörg Oberthür von der Universität Jena. Als Basis dienen ihnen Interviews mit Expert:innen, die in Organisationen – von Unternehmensberatungen bis hin zu Kindertagesstätten – Optimierungsanforderungen an Kund:innen und Klient:innen herantragen. Hierbei richten sie ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Verbindung zwischen funktionalen Prozessen des ökonomischen Wachstums und der gesellschaftlichen Beschleunigung auf der einen, und den je individuellen Orientierungen am Imperativ der Selbstoptimierung auf der anderen Seite.

Das Gebot der Effizienz und ihrer Steigerung steht im Zentrum des Beitrags von Judy Wajcman von der London School of Economics, die darin „das unangefochtene Ideal unseres Zeitalters“ (S. 97) ausmachen zu können meint. Es herrsche ein Produktivitätskult, der durch digitale Geräte und Anwendungen, die eine effizientere Nutzung der knappen Ressource Zeit versprechen, zusätzlich gesteigert werde. Wajcman setzt sich eingehend mit dem paradoxen Verhältnis zwischen Zeit und Technologie auseinander und gibt dabei einen historischen Abriss über die technologischen Versuche, der Zeit mächtig zu werden. Ihre Analyse mündet in der Forderung, den „kulturellen Imperativ von Geschwindigkeit“ kritisch zu hinterfragen, da er die Entwertung „langsamer“ Arbeit wie zum Beispiel im Bereich der Pflege nach sich ziehe.

Einen anderen Akzent setzt Alain Ehrenberg vom Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, der vor einigen Jahren mit seiner These vom „erschöpften Selbst“ für Aufsehen gesorgt hatte. Er adressiert die Zunahme psychischen Leids, sucht dabei aber nicht nach den sozialen Ursachen für emotionale Pein, sondern geht der Frage nach, wie sich der gewachsene Stellenwert seelischer Gesundheit in der Gegenwartsgesellschaft erklären lässt. Seelische Gesundheit, so Ehrenberg, sei disziplinübergreifend zu einer Aufgabe der gesamten Gesellschaft geworden, die bedeute, eigenständig und angemessen handeln zu können. Ihr Stellenwert sei das Ergebnis eines Kontextes, in dem „Ungerechtigkeit, Scheitern, Abweichen, Unzufriedenheit und so weiter in Abhängigkeit von ihren Auswirkungen […] ein autonomes Leben zu führen eingeschätzt werden.“ So verweise das gegenwärtige Verständnis von seelischer Gesundheit auf „eine grundlegend individualistische Art mit Leidenschaften umzugehen“ (S. 135).

Mit der Aufgabe, autonom zu handeln, sieht sich auch der Subjekttypus des „unternehmerischen Selbst“ konfrontiert, dem sich der Beitrag des Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling widmet. Er betrachtet den Optimierungsmodus des Wettbewerbs, in dem ein rein relationaler Maßstab herrsche, der sich weder an einer Idealnorm noch am Prinzip quantitativer Steigerung orientiere, sondern auf einem permanenten Vergleich mit anderen basiere. Bröckling bestimmt zwei Formen der Subjektivierung durch Vermarktlichung: Das Subjekt auf dem Marktplatz, das entsprechend der Humankapitaltheorie ständig Investitionsentscheidungen trifft (beispielsweise in Bezug auf seine eigene Zeit), sowie das Subjekt als Marktplatz, bei dem, wie in Erfolgsratgebern angepriesen, alle Teile der Persönlichkeit auf ein übergeordnetes Ziel hin ausgerichtet werden, nämlich den Wert der eigenen Ich-Marke zu steigern.

Mit der affektiven Ökonomie der Gegenwart beschäftigt sich der Soziologe Heinz Bude, der David Riesmans Figur des „außengeleiteten Charakters“ zur Erklärung des von ihm konstatierten Phänomens einer um sich greifenden sozialen Angst heranzieht. Der gesellschaftliche Integrationsmodus, so Bude, habe sich gewandelt, er sei vom modernen Aufstiegsversprechen in eine Exklusionsdrohung umgeschlagen. Von der Gefahr des Ausschlusses seien vor allem diejenigen bedroht, die nicht in der Lage sind, im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anerkennung mitzuhalten und sich als interessant darzustellen. Nicht die objektive soziale Lage belaste das Selbstwertgefühl der Leute und mache sie kaputt, sondern das Gefühl, im Vergleich mit anderen zu unterliegen.

Unterbelichtet bleibt in Lost in Perfection die Frage, wie Selbstoptimierung – als normative Forderung wie als soziale Praxis – mit verschiedenen Formen bereits bestehender Ungleichheiten verwoben ist, durch sie bedingt wird oder sie wiederum reproduziert. Die Tatsache etwa, dass insbesondere Frauen* nach körperbezogener Optimierung streben, und dass die eigenen Ansprüche sowie das Scheitern an ihnen eine weit verbreitete Ursache von Leid sind, wird in verschiedenen Beiträgen zwar wiederholt anhand von Fallporträts gestreift, aber nicht systematisch reflektiert.

Der Band vernachlässigt darüber hinaus Praktiken der Körperbearbeitung, die nicht in heteronomer Selbstzurichtung aufgehen – ein Aspekt, den auch die Berliner Soziologin Anja Röcke in ihrem 2020 erschienenen Buch Soziologie der Selbstoptimierung hervorhebt, in dem sie das Gros der soziologischen Zeitdiagnosen zu diesem Thema als voreingenommen kulturkritisch charakterisiert. Die eingangs erwähnte Figur der Agrado aus Almodovars Film beispielsweise ist eine trans*Person, was in dem Beitrag der Psychologin Ada Borkenhagen, der sie zitiert, unerwähnt bleibt. Die biomedizinischen Eingriffe, die Agrado an ihrem Körper vornehmen lässt, sind nicht Ausdruck der Selbstunterwerfung unter ein rigides Schönheitsideal, sondern Praktiken der aktiven Aneignung von Weiblichkeit.

Die Beiträge in Lost in Perfection wurden größtenteils bereits vor der Pandemie geschrieben. Nach der Lektüre des Bandes hätte man in dem einen oder anderen Fall gerne gewusst, wie die Autor:innen die Analysen und Diagnosen im Licht der COVID-19-Krise, die auch eine Krise vieler Formen der Lebensführung offenbarte, beurteilen. So hat etwa Ulrich Bröckling im ersten Jahr der Pandemie seine Thesen zur Optimierung modifiziert: „Nicht mehr das Erreichen des Bestmöglichen, sondern die Verhinderung des Schlimmstmöglichen beziehungsweise, wenn auch das nicht länger realistisch erscheint, Resilienz gegenüber dem Unvermeidbaren stehen fortan auf der Agenda. Prävention und Präemption verdrängen Perfektionierung, Nachhaltigkeit wird wichtiger als Steigerung“.[2] Die paradigmatische Sozialfigur sei demnach nicht länger die Optimiererin, sondern der Prepper.

Liest man die Fallporträts der Selbstoptimierer:innen, wie beispielsweise im Beitrag von Vera King, Julia Schreiber, Niels Uhlendorf und Benigna Gerisch, drängt sich die Frage auf, wie sich Homeoffice, pandemiebedingte Isolation oder Selbstaufgabe in systemrelevanten Berufen, allen voran in der Pflege, auf die dort beschriebene Art des Selbstverhältnisses ausgewirkt haben. Auch würde man gerne wissen, ob womöglich neue Formen der Selbstregierung entstanden sind und inwiefern sich das diagnostizierte Kontrollverlangen der betreffenden Personen weiterhin zuvörderst auf den eigenen Körper richtet. Es sind vor allem diese Fallanalysen, die zum Weiterdenken anregen. In Lost in Perfection werden Versuche der Optimierung als kulturelle Leitvorstellung analysiert, die organisationale Prozesse, Arbeitsverhältnisse und Körper-Selbstverhältnisse prägen. Der Band führt gewinnbringend an die verschiedenen Stränge kritischer Optimierungsforschung heran. Die Studien und Diagnosen, die Optimierungsversuche im Modus der disaster preparedness untersuchen, stehen noch aus.

  1. Lost in Perfection: Impacts of Optimisation on Culture and Psyche, edited by Vera King, Benigna Gerisch and Hartmut Rosa; with editorial assistance from Julia Schreiber and Benedikt Salfeld, London / New York 2019. Die deutsche Übersetzung wurde um einen Beitrag ergänzt.
  2. Ulrich Bröckling, Optimierung, Preparedness, Priorisierung. Soziologische Bemerkungen zu drei Schlüsselbegriffen der Gegenwart, in: Soziopolis, 13.4.2020.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Affekte / Emotionen Feminismus Gender Gesellschaft Gesundheit / Medizin Körper Kultur Kunst / Ästhetik Lebensformen Psychologie / Psychoanalyse

Greta Wagner

Dr. Greta Wagner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der TU Darmstadt. Im WS 2022/2023 vertritt sie dort die Professur für Allgemeine Soziologie. Sie interessiert sich für Formen der Selbstoptimierung und für das Scheitern daran. 2017 erschien ihr Buch „Selbstoptimierung. Praxis und Kritik von Neuroenhancement“.

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