Essay | 17.12.2019
Arbeiten in Academia
Ein Schwerpunkt aus gegebenem Anlass
Universitäten sind nicht nur Orte der Produktion und Distribution von Wissen, sie fungieren auch als Arbeitgeber für Zehntausende Beschäftigte, die dort ihren Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben. Die prekäre Lage, in der sich nach den Hochschulreformen der 2000er-Jahre insbesondere viele befristet Beschäftigte aus den Reihen des wissenschaftlichen Nachwuchses und des sogenannten "Mittelbaus" befinden, ist schon lange Gegenstand anhaltender Kritik von Mittelbauinitiativen und Gewerkschaften. Stand dabei – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – anfangs die Forderung nach besserer Bezahlung im Vordergrund, hat sich die Diskussion in den letzten Jahren deutlich verschoben. Im Zentrum der Kritik stehen mittlerweile strukturelle Aspekte, wie etwa die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern unverhältnismäßig hohe Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse oder die Besonderheiten des deutschen Lehrstuhlsystems im Unterschied zu der in anderen Ländern verbreiteten Departmentstruktur. Verschärft wird die Problematik zudem durch die wachsende Kluft zwischen denen, die in üppig ausgestatteten Sonderforschungsbereichen, Kollegforschungsgruppen oder Exzellenzclustern sogenannte "Spitzenforschung" betreiben, und jenen, die auf Basis von schlecht dotierten Lehraufträgen oder auf zeitlich befristeten Stellen einen Großteil des Lehrbetriebs der Universitäten und Hochschulen aufrechterhalten.
Die vorerst letzte in einer langen Reihe von Auseinandersetzungen um die Wünsch- und Machbarkeit struktureller Reformen an den deutschen Universitäten und Hochschulen wurde im September 2019 ausgelöst durch die Bayreuther Erklärung der Kanzlerinnen und Kanzler der deutschen Universitäten. Nachdem die in Reaktion darauf verfasste Stellungnahme des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) bereits auf Soziopolis veröffentlicht wurde, folgt nun ein daran anknüpfender Schwerpunkt mit weiteren Beiträgen zum Thema.
Unter dem Titel "Kanzlerdämmerung" interpretiert Tobias Rosefeldt die Bayreuther Erklärung als Rechtfertigungsnarrativ zur Verteidigung des beschäftigungspolitischen status quo. Rosefeldt fordert nicht nur, fähige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler frühzeitig und nachhaltig zu fördern, sondern bemüht sich auch um den Nachweis, dass nach der Logik der Kanzlerinnen und Kanzler nahezu die Hälfte der universitären Forschung und Lehre von Personen bestritten wird, die nach den gegenwärtig geltenden Kriterien offenbar nicht für eine Professur geeignet sind.
Peter Ullrich und Matthias Neis interessieren sich in ihrem Beitrag "Die Mühen der Ebene" für die Frage, wie sich der in weiten Teilen des Mittelbaus offensichtlich vorhandene Wunsch nach Veränderung in politisches Engagement umsetzen und produktiv nutzbar machen lässt. Sie wenden sich direkt an die akademischen Wissensarbeiterinnen und -arbeiter, die ihre Interessen selbst und kollektiv vertreten müssten, thematisieren aber auch die Gründe, die ein gemeinsames solidarisches Handeln der Betroffenen erschweren.
Flankiert werden die beiden Texte von dem Essay "Die simulative Universität", in dem Veith Selk den von Ingolfur Blühdorn entwickelten Begriff der "simulativen Demokratie" auf den akademischen Betrieb überträgt. Selk zeigt, wie das aus der Not des permanenten Konkurrenzkampfs geborene Bemühen um Sichtbarkeit in Strategien mündet, die wissenschaftliches Arbeiten häufig nur noch simulieren und zusammen mit dem Ethos der Forscherinnen und Forscher langsam, aber sicher auch die Funktionsfähigkeit des Wissenschaftssystems unterminieren.
Gemeinsam ist allen drei Beiträgen ihre kritische Sicht auf die gegenwärtig vorherrschenden Verhältnisse an den deutschen Universitäten und Hochschulen. Sie beschreiben Defizite des bestehenden Systems, die in ihrer sich wechselseitig verstärkenden Wirkung von Konkurrenzdruck, Selbstausbeutung und Eigenwerbung dazu tendieren, zusammen mit den anspruchsvollen Gelingensbedingungen guter wissenschaftlicher Arbeit auch das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse erodieren zu lassen.
Den Autoren der Beiträge sei für ihre Mitwirkung an dem Schwerpunkt an dieser Stelle herzlich gedankt. – Die Red.
Kategorien: Universität
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