Wibke Liebhart | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im April 2023

Am 7. April liefen die letzten Corona-Schutzmaßnahmen aus, selbst in Krankenhäusern und Pflegeheimen muss man keine FFP2-Maske mehr tragen, auch die letzten Testzentren sind aus dem Stadtbild verschwunden. Ein guter Zeitpunkt also, um in verschiedenen Bereichen des öffentlichen wie privaten Lebens zu fragen: Was bleibt aus drei Jahren Pandemie? In der Arbeitswelt gilt gegenüber der zuvor gängigen Tätigkeit im Betrieb die massive Zunahme von Homeoffice, mobilem Arbeiten und Hybridmodellen als die größte durch Corona beschleunigte Veränderung. 2019, also kurz vor Beginn der Pandemie, waren 12 Prozent der Beschäftigten ab und an im Homeoffice, 5 Prozent arbeiteten komplett oder größtenteils von zu Hause aus und 13 Prozent gaben unterschiedliche Arbeitsorte an (weder zu Hause noch Betrieb). Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 gingen 27 Prozent der Beschäftigten ausschließlich oder überwiegend im Homeoffice ihrer beruflichen Tätigkeit nach, für die folgenden Phasen der Pandemie schwanken die Zahlen (S. 134).

Einem Teil dieser Entwicklung, dem Homeoffice, widmen sich Mareike Reimann und Martin Diewald in ihrem Artikel in den WSI Mitteilungen 2/2023. Die in der Rubrik Forschung aktuell vorgestellte Studie untersucht, welche Faktoren für eine Verbesserung oder Verschlechterung der Lebensqualität der Beschäftigten im (partiellen) Homeoffice ausschlaggebend sind. Reimann und Diewald bezeichnen die durch die (teilweise) Arbeit von zu Hause und/oder unterwegs aufgehobene – oder zumindest aufgeweichte –

„Trennung zwischen Beruf und Privatleben [als seit der Industrialisierung] konstitutiv für die moderne Lebensführung […]. Insofern stellt Homeoffice einen tiefgreifenden Bruch mit generationenübergreifend eingeübten Orientierungen und Gewohnheiten dar. Wechselseitige Erwartungen müssen deshalb diskutiert und neu justiert werden.“ (S. 139)

Im Umkehrschluss nennen sie „(1) die Zufriedenheit mit der Vereinbarkeit sowie die Häufigkeit von Konflikten, die (2) von der Arbeit auf die Familie ausstrahlen sowie (3) umgekehrt von der Familie auf die Arbeit“ (S. 136) als drei von sechs Kriterien für eine positive oder negative Bewertung von Homeoffice.

Ihre Erhebung ist eine verknüpfte Betriebs- und Beschäftigtenbefragung, die sie im Frühjahr 2021, also während der dritten Pandemiewelle, durchführten. Hinsichtlich den Bedingungen für dauerhaft gelingendes Homeoffice unterscheiden die Autor:innen dabei zwischen (a) individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen, (b) der Ausgestaltung des Homeoffice sowie (c) den betrieblichen Beziehungen und Interaktionen (S. 135). Neben den bereits genannten Gelingens-Kriterien untersucht die Studie „(4) die wahrgenommene Fairness des Beschäftigungsverhältnisses; (5) die wahrgenommene Gesundheit; sowie schließlich (6) als Indikator für die dauerhafte Machbarkeit von Homeoffice de[n] gewünschte[n] Umfang von Homeoffice nach der Pandemie“ (S. 136).

Die empirischen Analysen, die Reimann und Diewald in ihrem Beitrag vorlegen, betonen insbesondere, wie ausschlaggebend die Qualität der Beziehungen und Interaktionen mit Kolleg:innen und Vorgesetzten ist. Ein wertschätzendes, unterstützendes und konstruktives Verhältnis zueinander sei für jedes der genannten Kriterien entscheidend. Geht der/die Vorgesetzte verständnisvoll mit den von zu Hause aus tätigen Mitarbeiter:innen um, wirkt sich dies eindeutig positiv auf die Wahrnehmung des Homeoffice aus (wenig Verständnis hat eindeutig negative Auswirkungen). Der Umstand, dass viele Mitarbeiter:innen innerhalb eines Teams im Homeoffice arbeiten, prägt die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz dagegen auf ambivalente Weise: Wenn viele Kolleg:innen im Homeoffice arbeiten, sind die Beschäftigten zu Hause weniger ausgeschlossen und in der Regel auch weniger von Vorurteilen betroffen (etwa hinsichtlich ihrer Produktivität). Beides trägt zu einer positiven Wahrnehmung von Homeoffice bei. Allerdings leidet in solchen Fällen oft auch der Austausch miteinander und es kann zu Isolation kommen – was sich wiederum negativ auf die Bewertung des Homeoffice auswirkt. Daher wird nach der Pandemie, so prophezeien Reimann und Diewald, „der Zusammenhang zwischen den konkreten betrieblichen Gestaltungsregelungen von Homeoffice und einer gelingenden betrieblichen Sozialintegration zu einem Schlüsselthema werden“ (S. 139).

Eine weitere zentrale Voraussetzung für erfolgreiches und zufriedenstellendes Arbeiten von unterwegs oder zu Hause aus sind digitale Anwendungen und Infrastrukturen. Welche Effekte hat die mittlerweile ubiquitäre Digitalisierung der Arbeitswelt – die natürlich ebenso in Betrieben zu beobachten ist – auf die psychische und physische Gesundheit von Beschäftigten? Diese Frage stellt Nico Dragano in einem in Forschung & Lehre (4/2023) publizierten Artikel, in dem er die Vor- und Nachteile arbeitsbezogener Digitalisierung beleuchtet. Dragano, Professor für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, rekurriert dabei auf den Begriff Technostress, den der Psychologe Craig Brod bereits in den 1980er-Jahren prägte. Der Terminus beschreibt eine psychische Arbeitsbelastung, die die Betroffenen als herausfordernd bis bedrohlich empfinden. Darauf reagiert das biologische Stresssystem, was physiologische Reaktionen wie beispielsweise Bluthochdruck nach sich zieht. Bei Personen, die Technostress langfristig ausgesetzt sind, können Depressionen oder Herzleiden als Folgeerkrankungen auftreten.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien zu Auslösern von, Erfahrungen mit und Maßnahmen gegen Technostress. Dragano unterscheidet hinsichtlich der Auslöser zwischen direkten und indirekten Reaktionen auf eine Technologie, „[d]azwischen liegt eine Grauzone, in der direkte und indirekte Einflüsse zusammenkommen“ (S. 282). Technostress als direkte Reaktion entsteht etwa durch unzuverlässige Hard- und Software, also wenn Betriebssysteme häufig abstürzen, wenn Internetverbindungen instabil sind oder wenn die verwendete Software kontraintuitiv in der Bedienung oder gar fehlerhaft ist. Aber auch die klassischen Ermüdungserscheinungen infolge von anhaltender Bildschirmarbeit gelten als unmittelbare Reaktion.

Unter indirekten Effekten versteht Dragano nichttechnologische Belastungen, die allerdings durch eine digitale Anwendung ausgelöst, begünstigt oder verstärkt werden. Denn

„[d]ie Nutzung digitaler Technologien erfolgt nicht isoliert, sondern ist Teil des gesamten Arbeitssystems. Sie wird einerseits für bestimmte Tätigkeiten eingesetzt und beeinflusst andererseits, wie die Arbeit organisiert und erledigt wird – einschließlich Arbeitsort und -zeit“ (S. 283).

Als negative indirekte Folgen nennt der Autor Arbeitsverdichtung, Distraktion und Entgrenzung. Digitale Technologien erhöhen in der Regel die Arbeitslast: Sie können eine große Menge an Informationen schnell übermitteln, außerdem ermöglichen sie die simultane Nutzung unterschiedlicher Tools und Kanäle. Letztere wird häufig auch von Kolleg:innen und Vorgesetzten erwartet. Somit erhöhen sie die gefühlte und tatsächliche Schlagzahl von Arbeits- und Kommunikationsprozessen (= Arbeitsverdichtung). Digitale Arbeitsmittel bringen außerdem viel mehr Ablenkungsmöglichkeiten mit sich als analoge. Sofern man es nicht dezidiert ausschaltet, ist das Internet stets nur einen Klick entfernt (= Distraktion). Und zu guter Letzt fördern digitale Technologien die „Diffusion von Arbeit in andere Lebensbereiche“ (= Entgrenzung; ebd.). Wie schon Reimann und Diewald, die die zunehmend verwischenden Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben in ihrem oben vorgestellten Artikel lediglich als „tiefgreifenden Bruch“ beschreiben, aufgrund dessen „[w]echselseitige Erwartungen […] diskutiert und neu justiert werden“ müssen, führt auch Nico Dragano weder die konkrete Bedeutung noch die Konsequenzen der durch digitale Arbeitsmittel verstärkten Entgrenzung von Arbeit näher aus.

Dragano betont, dass digitales Arbeiten nicht zwangsläufig zu Stress führen muss, es kann – unter den richtigen Umständen – sogar der Gesundheit zuträglich sein. Im letzten Abschnitt seines Artikels nennt er hierfür einige Prinzipien: Oberstes Kriterium bei der Auswahl digitaler Tools müsse die Entlastung der Beschäftigten sein; es brauche Regeln für die Nutzung der jeweiligen Anwendungen; darüber hinaus habe die Organisation zuverlässiges Equipment bereitzustellen und effiziente IT-Supportstrukturen zu gewährleisten; ebenso sollten die Beschäftigten im Umgang mit den (neuen) Technologien geschult werden. Erst dann sei „eine bewusste Einbindung von Technologie in ein humanes Arbeitssystem“ (S. 283) überhaupt möglich.

Um „Mehr als nur Blut“ geht es in Sophie Bauers Artikel zu „Stand und Forschung der (kritischen) Menstruationsforschung“ im Offenen Teil der aktuellen Ausgabe der Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft (3/2022). Weil Menstruation „mit einer Vielzahl von Praktiken, Emotionen, Wissens- und Diskursformationen belegt ist“ (S. 106), braucht es mehr sozialwissenschaftliche Menstruationsforschung – in Deutschland mangelt es, Bauers Einschätzung nach, an entsprechenden Studien. Die Autorin, die an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zur „Verhandlung von Menstruation im Spannungsfeld von Geschlecht, Natur und Technik“ promoviert, gibt zunächst einen kurzen Abriss zur Entstehung des Forschungsfeldes (S. 107–109): Menstruation als Ausdruck von Schwäche und Unberechenbarkeit (Medizin), Menstruation als Zeichen von Stärke und Macht (Zweite Frauenbewegung), Menstruation als Analysekategorie (Sozialwissenschaften).

Im Folgenden macht sie deutlich, dass und wie die Periode für Menstruierende eine alltägliche Herausforderung darstellt. Sie hätten sowohl das Blut als auch die Menstruation im Allgemeinen zu verbergen,[1] über Menstruation zu sprechen, sei zudem nur in bestimmten (sozialen) Räumen (bspw. Paarbeziehungen, öffentliche Toiletten) und unter Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten („meine Tage“) oder allgemeiner Beschreibungen („Bauchschmerzen“) üblich. Bauer bezeichnet diese Erwartungen und Beschränkungen – unter Rückgriff auf die Literatur – als „Menstruationsetiquette“ (vgl. S. 109 f.). Unter „Menstruationsmanagement“ versteht sie dagegen

„die Praktiken, die Menstruierende anwenden, um einem sozial erwünschten Umgang mit ihrer Blutung zu entsprechen. Das Wort Management weist darüber hinaus auf einen neoliberalen Diskurs hin, der das menstruierende Subjekt konstruiert. Die Menstruation wird dabei zu einem individualisierten Problem, das es zu regulieren und zu steuern gilt.“ (S. 110)

Es lassen sich daher gesellschaftliche Prozesse der Hygienisierung, Kommerzialisierung und Medikalisierung beobachten (vgl. S. 111 f.).

Eine Schwierigkeit, mit der auch die Menstruationsforschung erst allmählich einen Umgang findet, ist die keinesfalls allgemeingültige Verknüpfung von Menstruation und (reproduktiver) Weiblichkeit. Der in neueren Studien häufig verwendete Begriff Menstruierende vermeide bewusst eine Geschlechtszuschreibung und leiste der Annahme, „dass alle als Frauen gelesenen Menschen tatsächlich auch eine Menstruationsblutung hätten“ (S. 113), keinen weiteren Vorschub. Zugleich sei auch ein solches Alternativkonzept eine kategorisierende Bezeichnung, die „reale Diskursformationen und ihre Wirkmächtigkeit […] verschleiern kann“ (S. 115). Schließlich beträfe die oben beschriebene Menstruationsetiquette mitunter auch nichtmenstruierende Frauen, weshalb sich die Autorin dafür ausspricht, „die Verwendung der kategorisierenden Bezeichnungen Menstruierende und Frau abzuwägen und die jeweilige Verwendung kontextabhängig zu begründen“ (ebd.). Im abschließenden Teil führt Bauer Theoriestränge, methodische Ansätze und analytische Perspektiven auf, denen sie eine kritischen Menstruationsforschung verpflichtet sieht – etwa eine feministische Wissenschaft(skritik) im Geiste der Zweiten Frauenbewegung und ein intersektionales Verständnis (vgl. S. 115 f.).

  1. So brachte das Start-Up-Unternehmen Pinky Gloves 2021 einen pinken Handschuh auf den Markt, mit dem Menstruierende ihren benutzten Tampon ‚diskret‘ unterwegs wechseln und anschließend entsorgen können sollten. Nach massiven Anfeindungen, unter anderem aufgrund Sexismus, stellte Pinky Gloves sämtliche Werbe- und Vertriebsaktivtäten ein.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Arbeit / Industrie Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Feminismus Gender Gesundheit / Medizin Körper Normen / Regeln / Konventionen Technik

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Wibke Liebhart

Wibke Liebhart ist Soziologin. Sie arbeitet für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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