Jens Bisky | Zeitschriftenschau | 25.04.2024
Aufgelesen
Die Zeitschriftenschau im April 2024
Das Alte stirbt, das Neue kann noch nicht geboren werden – so hat vor einigen Jahren Wolfgang Streeck das post-kapitalistische Interregnum, das wir Gegenwart nennen, charakterisiert. Es dauert schon lange an. Eine solche Übergangszeit bietet reichlich Gelegenheit, sich von irrigen Annahmen zu verabschieden. Das kann eine angenehme Erfahrung sein, werden die Illusionen nicht einfach nur vergessen, sondern durchschaut. Ob es um die Globalisierung, um Verhärtungen im deutschen Vereinigungsprozess oder bundesrepublikanische Politikroutinen geht – Aufsätze in aktuellen Zeitschriften zeigen nicht nur, was, sondern auch wie zu analysieren wäre, will man nicht ständig von Entwicklungen überrascht werden, die nur deshalb unerwartet scheinen, weil zuvor nicht genau hingeschaut wurde.
Gleich einen „Epochenbruch“ im Globalisierungsprozess konstatieren die Politikwissenschaftler Daniel Lambach und Matthias Hofferberth in Heft 1/2024 des Leviathan.[1] Dabei befinde sich, so die Autoren, „weniger die Praxis, sondern die Idee der Globalisierung“ (S. 102) in der Krise. Nach Brexit, „America First“-Politik, Pandemie-Schock und dem russischen Überfall auf die Ukraine, angesichts der Spannungen zwischen den USA und China leben wir den beiden Politikwissenschaftlern zufolge in einer „Übergangsphase der Post-Globalisierung“ (S. 104), wobei die Globalisierung bislang nicht rückabgewickelt wird: „Die Post-Globalisierung ist alles, was die Globalisierung war, und ihr Gegenteil.“ (S. 106)
In systematisierender Absicht stellen Lambach und Hofferberth Thesen der Globalisierung denen der Post-Globalisierung gegenüber. Die Annahme, wirtschaftliche Vernetzung bringe Wohlstand und es sei daher sinnvoll, wirtschaftliche Aktivitäten zu denationalisieren, wird mit der These kontrastiert, wirtschaftliche Vernetzung mache vulnerabel, daher müssten bestimmte Aktivitäten renationalisiert werden. Lautet die Globalisierungs-These, politische Interdependenz führe zu Institutionenbildung, Integration und letztlich zu „mehr Kooperation in Systemen der Global Governance“, so besagt die Gegenthese, dass internationale Institutionen in die Krise geraten, dass statt Kooperation Konkurrenzdenken und „Sovereigntism“ vorherrschen. Der Erwartung, Globalisierung sorge für eine Ausbreitung der Demokratie, steht die Erfahrung gegenüber, dass Autokratien „mehr denn je demokratische Systeme und Prozesse auf globaler Ebene“ herausfordern. Dem Fortschrittsversprechen der Technologie antwortet die Gegenthese, dass Technologie auch für rückschrittliche Ziele eingesetzt werden könne; der These, Globalisierung könne ökologische Krisen lösen, wird im Gegenzug erwidert, sie verschärfe ökologische Krisen durch Deregulierung (S. 106). Die Autoren plädieren dafür, „Globalisierung im Bewusstsein der Post-Globalisierung“ neu zu denken (S. 114). Ob die gewiss zutreffenden Beobachtungen ausreichen, um einen „Epochenbruch“ herbei zu reden?
Wer das aktuelle Heft (2/2024) der Soziologie zur Hand nimmt, mag daran zweifeln. Renate Mayntz, die am 28. April ihren 95. Geburtstag feiert, bedenkt darin „Paradigm Shifts in Macrosociology“.[2] Dabei geht es ihr in erster Linie um das Konzept der funktional differenzierten Gesellschaft, das ein historisch bestimmtes und begrenztes Gesellschaftsverständnis festschreibt: „Modern Western macrosociology is shaped by a limited perspective on social reality.“ (S. 143) Wichtige strukturelle Veränderungen, auch und gerade in westlichen Gesellschaften, lassen sich Mayntz zufolge aus einer Akteursperspektive besser erkennen. Dabei wäre gleichermaßen auf Individuen wie auf Organisationen und deren Verhältnis zueinander zu achten:
„Recent changes in the economy (globalization) and the banking industry (internationalization) have added to the already problematic relationship between narrowly goal-oriented organizations and a flexible population.“ (S. 157)
Diese, hier nur angedeuteten Veränderungen nähren ein weit verbreitetes Gefühl der Unsicherheit, der sozialen Instabilität. Diese Verunsicherungen sind, so die zeitdiagnostische Pointe des dicht argumentierenden Aufsatzes, nicht einfach eine Reaktion auf aktuelle Geschehnisse, etwa die russische Aggression, sondern vielmehr „a reaction to changes in the macro structure of modern Western societies that have happened over several decades“ (S. 157). Bezogen auf die Post-Globalisierungsthese heißt das: Nicht ein Bruch oder mehrere Brüche sind zu konstatieren, sondern ein Bewusstwerden von grundsätzlicher Instabilität. Ebendiese dauerhaft zu überwinden, versprach jedoch die von 1989 inspirierte Globalisierungsideologie, die – zumindest in Deutschland – mit gehöriger Modernisierungseuphorie und aus heutiger Perspektive naivem Harmonismus einherging. Die Entwicklungen seither haben die damalige Euphorie gründlich blamiert, und das nicht nur auf globaler Ebene, sondern auch deutlich darunter.
Als wichtige Verbündete des deutschen Vereinigungsprozesses galt lange die Zeit. Die voranschreitende Angleichung der Lebensverhältnisse, die Einübung der Ostdeutschen in demokratische Praktiken und die Aufklärung der Westdeutschen über Geschichte wie Gegenwart des Beitrittsgebiets, Begegnungen, gemeinsames Arbeiten, Neugier auf die Geschichten der anderen – all das würde Mentalitätsunterschiede in nicht allzu ferner Zukunft erst verblassen, dann verschwinden lassen. Dann wäre, so die unglückliche Formulierung, die „innere Einheit“ erreicht. Entsprechend rege wurden die Unterschiede zwischen Ost und West beschrieben und erforscht, insbesondere hinsichtlich ihrer baldigen Überwindung. Die Hoffnung ruhte auf den Jüngeren, denen der Kalte Krieg kaum mehr sein konnte als eine Erzählung am Familientisch. Das war, wie sich inzwischen herumgesprochen hat, eine Illusion. Zwar hat der Osten der Republik eine Wohlstandsexplosion erlebt, zwar boten sich den nach 1988 Geborenen Möglichkeiten, die ihre Eltern und Großeltern nie hatten, zwar wurden deutsch-deutsche Differenzen in Literatur, Film, Geschichtsschreibung ausführlich behandelt, doch die Mentalitätsunterschiede blieben. Man kam voran, aber dem Ziel der „inneren Einheit“ nicht näher.
Bleiben wir also „Ost- und Westdeutsche für immer?“, fragen Steffen Mau, Thomas Lux und Julian Heide in der März-Ausgabe der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sie werten zur Beantwortung dieser Frage Daten der bundesweiten Umfrage Ungleichheit und Konflikt aus, für die das Meinungsforschungsinstitut infas zwischen Mai und Juli 2022 rund 2.500 Menschen zu ihren Einstellungen und Lebensbedingungen interviewt hat. Das Ergebnis ist eindeutig – und wer es um das Jahr 2000 prognostiziert hätte, wäre in der Öffentlichkeit rasch als Spielverderber:in, wenn nicht gar als Feind:in der Einheit angesehen worden.
Sechzig Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass Ost und West sich „heute immer noch in vielen Dingen unterscheiden“. Als ostdeutsch wird kategorisiert, wer am 1. November 1989 in der DDR lebte, oder, wenn später geboren, wenigstens ein Elternteil hat, auf das dies zutrifft. Fünfzig Prozent der ostdeutsch Sozialisierten nehmen starke oder sehr starke Konflikte zwischen Ost und West wahr. Die Antworten auf die beiden schlichten Fragen nach Alterität und Konflikt weichen im Westen signifikant von denen im Osten ab: Nur 41 Prozent der Westdeutschen sehen deutliche Unterschiede, lediglich 25 Prozent von ihnen nehmen sehr starke oder starke Konflikte wahr.
Es spricht einiges dafür, die Betonung der Unterschiede für situationsadäquat zu halten. Betrachtet man Daten zu Wirtschaftskraft und Einkommen, Vermögensverteilung, Wahlverhalten, zu Demografie oder Medienkonsum wird die politisch überwundene innerdeutsche Grenze wieder sichtbar als eine, die verschiedene Lebenswirklichkeiten scheidet.
Heide, Lux und Mau kommentieren drei Konzepte der Vereinigungsforschung. Die vor allem in den 1990er-Jahren weit verbreitete Sozialisationshypothese erklärt Mentalitätsunterschiede mit dem Aufwachsen im Staatssozialismus und den Transformationserfahrungen, den Schocks und der Euphorie nach 1990. Ihr zufolge wäre ein Verblassen der Alteritäts- und Konfliktwahrnehmungen zu erwarten. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Ostdeutschen der Wiederaufbaugeneration erkennen zu 62 Prozent deutliche Unterschiede, unter den Jüngsten, ab 1989 geboren, sind es 65 Prozent. Starke Konflikte zwischen Ost- und Westdeutschen nehmen 56 Prozent der ältesten Befragten wahr – und mit 61 Prozent noch einige mehr in der Nachwendegeneration. Auch das ist im Westen anders, dort scheint die Sozialisationshypothese etwas zu treffen: Nur 16 Prozent der jüngeren Generation beobachten starke Konflikte, im Vergleich zu 36 Prozent der ältesten; Unterschiede sehen 48 Prozent der ältesten Kohorte und 32 Prozent der jüngsten. Das widerspricht der Othering-Hypothese, der im vergangenen Jahr Dirk Oschmann mit seinem Buch Der Osten: eine westdeutsche Erfindung zu Popularität verholfen hat. Nimmt man an, dass der dominante Westen immer wieder sein Gegenbild, den inneren Orient, erzeugt und die Ostdeutschen diese Zuschreibung übernehmen, dann wäre, wie es im Aufsatz von Mau et al. heißt, „damit zu rechnen, dass Unterschiede und Konflikte in der Kohortenfolge salient bleiben“. Das trifft aber auf die westdeutsche Wahrnehmung nicht zu. Die hier präsentierten Befunde bestätigen vielmehr die These von der ostdeutschen Persistenz und Verhärtung, „das ,Weiterleben‘ eines soziokulturellen Eigensinns in Ostdeutschland, relativ unabhängig von Kohortenzugehörigkeit und ökonomischer Lage“. Erfahrungen mit biografischen Brüchen und Abwertungen werden tradiert, an Jüngere weitergegeben. Das auf diese Weise verfestigte Ostbewusstsein trifft auf ein Achselzucken der gleichaltrigen Westdeutschen.
Wie lässt sich das „soziologische Rätsel“ nun erklären? Der Aufsatz führt drei mögliche Gründe an, die näher zu untersuchen wären: (1) mediale Diskurse, (2) ein generationell verzögertes Beharren auf Differenz, wie es in der Migrationsforschung beschrieben worden ist, und (3) schließlich die Politisierung des Ost-West-Unterschiedes als Teil und Chiffre eines übergeordneten Kulturkampfes. Zusammengenommen ergibt das eine explosive Mischung: Misstrauisch gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit wird die Anpassungsleistung der Eltern und Großeltern kritisch beäugt, werden Differenzen wie Ungleichheiten scharf markiert und politisiert, was die Geschäfte von Polarisierungsunternehmern erleichtert. Der Überdruss am „Nachahmungsimperativ“, dessen Scheitern Ivan Krastev und Stephen Holmes nachgezeichnet haben, kann sich zu einer Ablehnung der liberalen Moderne, des „Westens“ überhaupt, steigern. Ob dies, wie die Autoren vermuten, zu einer neuerlichen Betonung der Unterschiede aus westdeutscher Sicht führt, wird sich nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen zeigen. Der erhellende Aufsatz über die „Wahrnehmungen von Unterschieden und Konflikten zwischen Ost- und Westdeutschen“ sollte davor warnen, sich die Transformation der postsozialistischen Gesellschaften als einen Prozess vorzustellen, der an ein Ziel, ein Ende gelangt. Zugleich wüsste man gern Genaueres über die Konfliktwahrnehmungen zweier großer, gewiss schon untersuchter, aber kaum ausreichend berücksichtigter Gruppen: die Ostdeutschen im Westen und die Westdeutschen im Osten.
Im Juli 2023 klingelte ein Kundendienstmitarbeiter an der Haustür des früheren Finanzministers in Offenburg. Eine Küchenmaschine war zu reparieren. Wie man in den vor wenigen Tagen erschienenen Erinnerungen Wolfgang Schäubles nachlesen kann, nutzte der Mitarbeiter die Gelegenheit, sich für die „schwarze Null“ zu bedanken; „sie habe schließlich unserem Land ein Jahrzehnt Wachstum und gute Beschäftigung ermöglicht“.[3] Andere sehen dies anders und bilanzieren die Kehrseite eines ausgeglichenen Haushalts. Eine kritische Öffentlichkeit moniert, dass die günstigen fiskalischen Bedingungen der 2010er-Jahre viel zu wenig für die staatliche Investitionspolitik genutzt wurden. Wer durch die Republik reist, entdeckt überall die Folgen zu geringer Investitionen in die Infrastrukturen. Wie stünde es heute um Digitalisierung, Bildung, Energieinfrastruktur, hätten die Kabinette Merkel I bis IV eine andere als ihre strukturkonservative Haushaltspolitik betrieben? Und wie lässt sich erklären, dass sie es nicht taten?
In einem fulminanten Aufsatz über „Verfallende Infrastruktur bei Rekordeinnahmen“ in der März-Ausgabe des Berliner Journal für Soziologie bescheinigt Leon Wansleben der „Schwarzen Null“, sie habe zum tradierten Rollenverständnis des Finanzministers als Sparminister gepasst. Sie verrate weniger „eine Wende hin zu strikter Haushaltsdisziplin“ als gute „Fähigkeiten zur Vermarktung von Ergebnismustern, die sich aus dem Zusammenspiel günstiger makroökonomischer Umstände und strukturkonservativer Entscheidungsroutinen ergaben“ (S. 116). Schäubles Erinnerungen, besonders die Abschnitte „Auf dem Weg zur ,schwarzen Null‘“ und „Warum es in Deutschland so schwer ist, Geld vernünftig auszugeben“, bestätigen diese Deutung weitgehend.
Leon Wansleben rekapituliert nicht den jüngsten politischen Streit um die bundesrepublikanische Ausgabenpolitik. Er fragt vielmehr nach den Konstellationen, in denen ein Haushalt zustande kommt, nach den Beziehungsmustern, die der Haushaltspolitik zugrunde liegen. Entscheidende Rollen spielten dabei der Finanz- und die Fachminister, die Verwaltungsspitzen sowie der Haushaltsausschuss des Bundestages, ausschlaggebend sei in dieser Perspektive die Art und Weise, wie das parlamentarische Regierungssystem und die Bürokratie ineinander verzahnt sind.
Zur Erklärung wird in der politikwissenschaftlichen Literatur einerseits auf ordoliberale Tradition, zum anderen auf den statusorientierten Wohlfahrtsstaat, die Rolle von Interessenträgern, Parteien, der „German Angst“ vor Schulden und Defiziten verwiesen. Wansleben skizziert demgegenüber eine institutionensoziologische Erklärung und zeigt, „dass die deutsche Haushaltspolitik aufgrund des Zusammenspiels von Parlament, Regierung und Bürokratie einen strukturkonservativen bias aufweist“ (S. 111). Er stützt sich dabei vor allem auf „graue Literatur“, juristische und historische Darstellungen sowie Interviews.
Der Bundeshaushalt wird in Verhandlungen zwischen dem Bundesfinanzministerium und den Fachressorts erarbeitet. Kanzler und Kabinett moderieren in erster Linie Konflikte. Der Bundestag hat die Budgethoheit, beschränkt sich aber darauf, „Regierungsentwürfe punktuell anzupassen“ (S. 113). Die zentrale Position kommt dem Finanzminister zu, er ist Wächter der Ausgabendisziplin und ein Vetospieler am Kabinettstisch, wobei er freilich auf Koalitionspartner und den Zusammenhalt der Regierung Rücksicht nehmen muss. Das haushaltspolitische Machtzentrum ist die BMF-Abteilung II, ausgezeichnet durch Geschlossenheit und geringe Fluktuation. So blieb der Sozialdemokrat Werner Gatzer von 2005 bis Ende 2023 auch unter wechselnden Ministern der für den Haushalt zuständige Staatssekretär. Die Haushaltsabteilung habe, so Wansleben, „essentielles Wissen“ monopolisiert: „Dieses Wissen gründet nicht auf Makroökonomik oder etwaige Methoden der Kosten-Nutzen-Analyse, sondern auf Erfahrungswissen bezüglich der betreuten Fachressorts, des Haushaltsrechts und seiner Spielräume.“ (S. 116)
Die Aufstellung des Haushalts beginnt mit der Aufforderung des Finanzministers an die Fachressorts, ihre Bedarfe anzumelden. Dabei werden die verfügbaren Haushaltsmittel als gegeben vorausgesetzt, „als ein Datum und nicht als Gegenstand politischer Entscheidungen […] behandelt“ (S. 117). Die Fachressorts melden ihre Bedarfe an, die Spiegelabteilungen des Bundesfinanzministeriums prüfen. Dabei orientieren sich alle an den Vorjahresplanfonds: „Im strikten Wortsinn von Inkrementalismus werden also immer relative Veränderungen zum Status quo verhandelt.“ (S. 116) Sollen Einsparmöglichkeiten gefunden werden, sucht man nach Anmeldungen, die neu, die gesetzlich nicht verpflichtend sind.
Die „Haushälter“ im Bundestag verstehen sich, wie Wansleben in einem seiner Interviews gesagt wurde, als „eine parteiübergreifend verschworene Gemeinschaft, die auf die Finanzierbarkeit des politischen Wollens achtet“ (S. 119). Der Haushaltsausschuss prüft die ministeriellen Ausgabenpläne, sein Fokus liegt nicht „auf einer übergeordneten Politisierung von Haushaltspolitik oder der Formulierung von ambitionierten Ausgabenprogrammen“ (S. 119). In der schlussendlichen Bereinigungssitzung lassen sich Zusatzausgaben durchsetzen, allerdings nur marginale.
Auf jeder Stufe des Verfahrens, das Wansleben detailliert rekonstruiert, herrschen inkrementalistische Verhandlungslogiken, dabei gerät ressortübergreifende „pro-aktive Investitionspolitik […] ganz von selbst ins Hintertreffen“ (S. 122). In den Vereinigten Staaten verabschiedete man sich Ende der 1960er-Jahre allmählich „vom Prinzip der Kompromissfindung hinter verschlossenen Türen“, betrachtete die Vorjahresplanfonds nicht länger als fiskalischen „Ausdruck eines Konsens über den Status quo“, sondern setzte auf öffentliche Politisierungen und eine „Logik der Konfliktausweitungen“ (S. 122). Dass in der Bundesrepublik die Akteure „ihre institutionell aufeinander abgestimmten, historisch etablierten Rollenprofile und eng umgrenzten Handlungsspielräume selten verlassen oder öffentlich politisieren“ (S. 123), vermeidet dramatische Höhepunkte wie den „shutdown“ und gewährleistet ein hohes Maß an politischer Stabilität. Veränderungen wären also zu erwarten, würde das Verhältnis zwischen Parlament, Regierung und Verwaltung erschüttert. Anzeichen für eine solche Destabilisierungsdynamik lassen sich im Handeln der derzeitigen „Fortschrittskoalition“ zur Genüge beobachten. Ob ein solches „Koordinationsversagen“ Aufbruch oder Anomie befördert, wird sich zeigen. Für Leon Wansleben sind die „existierenden, zumeist in der Nachkriegszeit entstandenen Institutionen sichtlich an ihre Leistungsgrenzen gekommen“ (S. 124).
Dieses Ergebnis passt gut zu den von Renate Mayntz beobachteten Gefühlen des Kontrollverlustes, der individuellen Kontrolle über das eigene Leben und der politischen Kontrolle über soziale Dynamiken. Möglicherweise war die Annahme, Leben und Gesellschaft ließen sich erfolgreich kontrollieren, gar steuern, immer schon illusionär.
Fußnoten
- Daniel Lambach / Matthias Hofferberth, Post-Globalisierung: Konturen eines Epochenbruchs, in: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 52 (2024), 1, S. 93–118.
- Renate Mayntz, Paradigm Shifts in Macrosciology, in: Soziologie 53 (2024), 2, S. 141–161.
- Wolfgang Schäuble, Erinnerungen. Mein Leben mit der Politik, Stuttgart 2024, S. 479.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Bildung / Erziehung Demokratie Geschichte Gesellschaft Globalisierung / Weltgesellschaft Politik Wirtschaft
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