Wibke Liebhart | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im August 2022

Ende September findet in Bielefeld unter dem Motto „Polarisierte Welten“ der 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt. Passend dazu fragt die Juni-Ausgabe des Forschungsjournals Soziale Bewegungen nach der „Gespaltene[n] Gesellschaft? Politische Polarisierung: Zustand, Debatten, Folgen“ – allerdings ohne konkret auf den Kongress Bezug zu nehmen.

In ihrem systematisierenden Beitrag bezeichnen die Heftherausgeber Jochen Roose und Elias Steinhilper zwei Phänomene als Polarisierung, „die etwas miteinander zu tun haben können, zunächst aber recht unterschiedlich sind“ (S. 285): erstens eine Verteilung politischer Einstellungen – zu einzelnen Themen, aber auch Perspektiven oder Ideologien (kognitive Polarisierung), zweitens die Ablehnung bestimmter politischer Akteure, etwa Parteien, deren Personal oder ihre Anhänger:innen (affektive Polarisierung). Die Autoren kategorisieren zum einen nach der Art der Polarisierung (kognitiv/affektiv), zum anderen nach ihren Trägern (Bevölkerung/politische Eliten). Daraus ergeben sich vier Formen der Polarisierung, in die sich auch ihr darauffolgender Literaturüberblick gliedert: Einstellungspolarisierung (kognitiv/Bevölkerung), Polarisierung der Parteipositionen (kognitiv/politische Eliten), Polarisierung politischer Eliten (affektiv/politische Eliten), gesellschaftliche Polarisierung (affektiv/Bevölkerung).

In einem nächsten Schritt fragen Roose und Steinhilper nach den möglichen Ursachen für Polarisierung.[1] Als erstes gehen sie auf Parteipositionen ein, die einer mal mehr, mal weniger stark ausgeprägten Polarisierung unterlägen; so seien etwa neue Themen stärker umkämpft, was kurz- bis mittelfristig zu mehr Polarisierung innerhalb der Parteienlandschaft führen könne. Damit ist die diesbezügliche Polarisierung einer – nach Marktlogiken funktionierenden – Parteiendemokratie inhärent, so die Autoren.

Während sich die strukturellen Merkmale des politischen Systems – parlamentarisch oder präsidial, Zwei- oder Mehrparteiensystem – nicht sonderlich auf die verschiedenen Formen von Polarisierung auszuwirken scheinen, spielen „Akteure […], die eine affektive Polarisierung in der Bevölkerung forcieren, da sie in besonderem Maße davon profitieren“ (S. 290), eine durchaus entscheidende Rolle. Studien aus den USA sowie groß angelegte Ländervergleiche lassen außerdem vermuten, dass ökonomische und soziale Ungleichheit, ebenso wie kulturelle und politische Konflikte weitere Ursachen für Polarisierung sind.

Die Autoren fragen auch nach dem Einfluss von (Online-)Medien und verweisen diesbezüglich auf einen weiteren Beitrag ihres Themenschwerpunkts, in dem Christiane Eilders, Ole Kelm und Carina Weinmann die „[p]olitische Polarisierung in und durch Massenmedien und soziale Medien auf Mikro-, Meso- und Makro-Ebene“ untersuchen. Sie entwickeln ein Sechs-Felder-Schema, um zu „diskutieren, inwiefern traditionelle Massenmedien und soziale Medien die Polarisierung auf der Mikroebene, auf der Mesoebene und auf der Makroebene sichtbar machen und verstärken“ (S. 353).

In der öffentlichen Diskussion geht es vor allem um die Rolle der sozialen Medien, Stichworte sind hier Echokammern, Filterblasen oder hate speech. Durch die Funktionslogiken der Plattformen, so die allgemeine Überzeugung, würden die Nutzer:innen zum einen nur noch mit selektierten Inhalten konfrontiert, die ihrer eigenen Meinung entsprächen oder diese in noch extremerer Form vertreten würden. Zum anderen trieben soziale Medien Menschen mit nicht übereinstimmenden Ansichten weiter auseinander. Den Ausführungen von Elders, Kelm und Weinmann zufolge ist die Studienlage zu beiden Annahmen weit weniger eindeutig als man annehmen mag, zudem stammen die entsprechenden Befunde selten aus Deutschland. Der Einfluss der in sozialen Netzwerken entstehenden Echokammern und Filterblasen sei überschätzt, schließlich informierten sich die meisten Menschen nicht nur über soziale Netzwerke, sondern nutzen mehrere unterschiedliche mediale Kanäle. Außerdem müsste ein:e Nutzer:in zunächst überhaupt gezielt nach politischen Inhalten suchen, damit der Algorithmus ihm:ihr entsprechende Informationen vorschlagen könne. Dies geschehe also nicht, „wenn eine Person sich kaum für Politik interessiert oder keine klare politische Meinung durch Interaktion im Netz offenbart“ (S. 360).

Den Autor:innen geht es in ihren Ausführungen zum Einfluss medialer Faktoren darum, empirische Forschungslücken aufzuzeigen und dadurch weitere Untersuchungen anzuregen. Sie bilanzieren, dass es in öffentlichen wie akademischen Debatten vielfach an Dimensionierung – welche Ebene ist gemeint – und Differenzierung – um welche Form der Polarisierung geht es – fehlt. Zudem müsse man „zwischen einer negativ konnotierten Polarisierung und gesundem Pluralismus, also der Sichtbarkeit unterschiedlicher Meinungen auf einem hinreichend breiten Spektrum“ (S. 364) unterscheiden.

In ihrem systematisierenden Beitrag beschäftigen sich die Heftherausgeber Jochen Roose und Elias Steinhilper abschließend mit den Folgen politischer Polarisierung. Welche Konsequenzen die spürbare Zunahme politischer Polarisierung tatsächlich nach sich zieht – abseits der wenig aussagekräftigen Allgemeinplätze wie einer Erosion des gesellschaftlichen Vertrauens und der Demokratie –, ist kaum erforscht und die vorliegenden empirischen Befunde sind durchaus divers. Zwar seien Dissens und der Streit um unterschiedliche Positionen ein essenzielles Wesensmerkmal der Demokratie; zugleich warnen die Autoren jedoch vor einer „Polarisierungsspirale“ (S. 292), in der sich Polarisierungsdynamiken gegenseitig verstärken und letztlich zu einem Legitimationsverlust demokratischer Institutionen und Diskurse führen.

Darüber hinaus kann die Bildung politischer Lager auch auf andere Lebensbereiche übergreifen, dann werden Freund:innen nach ihren politischen Einstellungen ausgewählt, Informationsquellen entsprechend ihrer Konformität zur eigenen Meinung selektiert und Kaufentscheidungen anhand politischer Maßgaben getroffen. Eine umfassende politische Polarisierung kann also mitunter zu sozialer Spaltung führen.

Auch Swen Hutter und Manès Weisskircher widmen sich in einer Sonderausgabe der German Politics den „New Contentious Politics“, die ihnen zufolge mit politischer Polarisierung einhergehen.[2] Die Autoren betonen die Relevanz von Zivilgesellschaft und Protest für das Verständnis der rezenten deutschen Politik: Um die Entwicklung der letzten Jahr(zehnt)e adäquat nachvollziehen zu können, dürfe man nicht nur Parteien und Wahlpolitik in den Blick nehmen, sondern müsse mindestens ebenso sehr auf außerparlamentarische Arenen schauen, auf Orte also, an denen eine Vielzahl von Akteuren in den politischen Prozess eingreift.[3] Schließlich offenbarten sich hier die derzeitige Politisierung der Zivilgesellschaft ebenso wie der Aktivismus sozialer Bewegungen; und nur vor dem Hintergrund dessen ließe sich die ideologische, affektive und organisatorische Struktur der entstandenen – und der im Entstehen befindlichen – Spaltungen begreifen. Hutter und Weisskircher stellen mit ihrem Beitrag eine Bilanz „of social movement and civil society activism in Germany in an era of polarisation, focusing on developments since the early 2000s“ (S. 3) in Aussicht.

Die Autoren weisen auf eine doppelte Transformation der politischen Auseinandersetzungen, also der titelgebenden new contentious politics hin: Erstens seien neue Themen und Forderungen entstanden. Migrationsbezogene Konflikte hätten zugenommen, wirtschaftliche Kämpfe seien auf das innen- wie außenpolitische Parkett zurückgekehrt und Umweltproteste fänden einerseits lokal (etwa gegen Infrastrukturprojekte), andererseits aber auch durch die Klimabewegung auf globaler Ebene statt. Auch aufseiten der extremen Rechten beziehungsweise anderer regressiver politischer Kräfte sei die Vereinnahmung neuer Themen wie etwa die ‚Islamisierung des Abendlandes‘ oder die COVID-19-Politik zu beobachten.

Hinsichtlich der Organisations- und Mobilisierungsformen von Protest, dem zweiten Punkt der doppelten Transformation, widersprechen die Autoren der üblichen Rede von einer zunehmenden Differenzierung: „[W]e maintain that the opposite development, i.e. organisational hybridity and closer interactions between protest and electoral politics, characterise contemporary political contestation.“ (S. 8, meine Hervorhebung, W. L.). Anhand exemplarischer Fälle aus der politischen Linken (Podemos oder Syriza) wie Rechten (Jobbik oder Alternative für Deutschland) zeige sich vielmehr die Unschärfe der empirischen Grenzen zwischen politischen Parteien und sozialen Bewegungen. Auch seien zivilgesellschaftliches Engagement und politischer Aktivismus häufig nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden – ein weiterer Hinweis auf die Politisierung der Zivilgesellschaft.

Abschließend betonen Hutter und Weisskircher den wechselseitigen Einfluss sowie die gegenseitige Prägekraft von Zivilgesellschaft respektive sozialen Bewegungen und Parteiensystem. „To some extent, the perhaps long only electorally ‚sleeping Republic‘ of Germany has experienced a new politicisation from below, catching up with general European trends.“ (S. 12) Beide Themenhefte fordern die dringend notwendige Untersuchung politischer – und sozialer – Polarisierung. Man darf gespannt sein, ob ein derart breit gefasstes Thema wie das des diesjährigen Soziologiekongresses („Polarisierte Welten“) Substanzielles dazu beizutragen vermag.

Ein konkretes Beispiel, das gesellschaftliche Polarisierung besonders eindrücklich offenbart, ist das Thema Schwangerschaftsabbruch. Der Paragraf 219a des Strafgesetzbuches (StGB) verbietet „Werbung“, das heißt ausführliche Informationen über den Abbruch einer Schwangerschaft.[4] Anfang Juli hat der Bundesrat die Aufhebung dieses Paragrafen mit großer Mehrheit beschlossen. Der vorangehende Passus 218 StGB, in dem der eigentliche Schwangerschaftsabbruch gesetzlich geregelt ist, bleibt davon jedoch unberührt.[5]

Die Zeitschrift Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte widmet dem Thema unter dem Titel „Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch“ eine ganze Ausgabe. Ulrike Busch und Daphne Hahn vergleichen in ihrem Beitrag die Entwicklungen und Neuregelungen zum Schwangerschaftsabbruch in der BRD und der DDR. Sie konstatieren: „Die politischen, rechtlichen, aber auch medizinischen Debatten in der Abtreibungsfrage waren in beiden deutschen Staaten von dem unterschiedlichen politischen Selbstverständnis, von den divergierenden gesellschaftlichen Situationen und damit verbunden von dem Agieren der relevanten Akteur*innen geprägt. Sie waren zugleich von internationalen Entwicklungen beeinflusst.“ (S. 81)

Die Autorinnen bauen ihren Aufsatz chronologisch auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand der Paragraf 218 StGB zunächst in der Fassung von 1926 fort: Demnach galt es nicht mehr als Verbrechen, sondern als Vergehen, eine Schwangerschaft gewollt abzubrechen. In der sowjetischen Besatzungszone schuf man mögliche Ausnahmeregelungen (medizinisch, sozial, kriminologisch), über die jeweils Gutachterausschüsse zu entscheiden hatten.[6] Anfang der 1950er-Jahre integrierte die neu gegründete Demokratische Deutsche Republik die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch in ihr „Gesetz zum Schutz von Mutter und Kind“, das einen legalen Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer sozialen Notlage ausschloss. Dies änderte sich jedoch bereits zehn Jahre später, als man den entsprechenden Paragrafen unter anderem aufgrund der Intervention von Gesundheitsexpert:innen liberalisierte und die darin enthaltene medizinische um eine soziale Indikation ergänzte.

Die noch junge westdeutsche Bundesrepublik war christlich-konservativ geprägt – ein Umstand, der sich auch in den Reglementierungen des Schwangerschaftsabbruchs niederschlug. Für eine gesetzliche Neuregelung, die Anfang der 1960er-Jahre auf den Weg gebracht werden sollte und nach der Schwangerschaftsabbrüche aufgrund einer medizinischen Indikation zulässig gewesen wären, kam keine Mehrheit zustande. Auch die im Juli 1974 beschlossene Reform des Paragrafen 218 StGB, die eine medizinische und embryopathische Indikation vorsah sowie den Schwangerschaftsabbruch nicht unter Strafe stellte, sofern er innerhalb der ersten zwölf Wochen und nach einer (medizinischen) Beratung stattfand, trat nie in Kraft.[7] Stattdessen wurde 1976 die sogenannte Notlagenindikation beschlossen, die in der BRD bis 1993 bestand.[8]

Anders in der DDR: Dort beschloss die Volkskammer am 9. März 1972, dass eine Frau aufgrund ihrer Gleichberechtigung in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie ohne obligatorische Beratung entscheiden könne, ihre Schwangerschaft innerhalb der ersten zwölf Wochen durch eine:n Mediziner:in beenden zu lassen. Diese selbst für heutige Verhältnisse progressive außerstrafrechtliche Regelung hatte ökonomische, aber auch ideologische Gründe: „Die Fortschrittlichkeit des sozialistischen deutschen Staates sollte auch in dieser Frage unter Beweis gestellt werden.“ (S. 92) Zugleich lässt sich hieran erkennen, dass in der DDR die Selbstbestimmung der Frau – also auch die Frage, ob sie eine Schwangerschaft austragen möchte oder nicht – wesentlich stärker im Fokus stand als in der BRD. Ihre Entscheidungen in Fragen der Familienplanung seien, so die Überzeugung, durch ein modernes Gesundheitssystem zu unterstützen. Darüber hinaus waren im 1968 verabschiedeten Strafgesetzbuch der DDR Strafen bei unzulässigen Abbrüchen festgelegt, also bei solchen, die ohne die Einwilligung der Schwangeren vorgenommen worden waren.

Für den Einigungsvertrag nach 1990 sollte eine gemeinsame Rechtsauffassung zum Schwangerschaftsabbruch ausgehandelt werden, was zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Verbänden, der Kirche, der Ärzt:innenschaft sowie anderen Akteuren und Parteien führte. Nach Einsetzung eines Sonderausschusses (1991), einem Vorschlag zur Neuregelung (1992), den das Bundesverfassungsgericht allerdings ablehnte (1993), wurde 1995 das sogenannte Schwangerschaftskonfliktgesetz verabschiedet. „Es kontextualisierte das gesamte Aufgabenprofil von der Sexualaufklärung über die allgemeine Schwangerschaftsberatung bis zur Pflichtberatung zum Schwangerschaftsabbruch unter dem Lebensschutzauftrag, indem es diese Aufgaben nicht nur der gesundheitlichen Vorsorge, sondern der ‚Vermeidung von Schwangerschaftskonflikten‘ unterstellte.“ (S. 96)

Damit waren weder der Dissens zwischen Verbänden und Akteuren, noch die Unterschiede zwischen der ost- und westdeutschen Gesetzgebung aus der Welt geschafft, sie verschwanden aber aus dem Alltagsbewusstsein und den öffentlichen Debatten. Die Paragrafen 218 und 219 StGB hatten in den Folgejahren weitreichende und in der Regel negative Konsequenzen für die „Lebenswirklichkeit von Frauen, ihre Selbstbestimmung über den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft, ihre Entscheidung über ihre Lebensplanung […] und die Bewertung dieser Entscheidung“ (ebd.). Nicht nur die Abschaffung des Werbeverbots in Paragraf 219a StGB, sondern vor allem die vielen Mobilmachungen und Proteste der letzten Jahre, jüngst insbesondere gegen die Entscheidung des US-Supreme Court, das Urteil Roe vs. Wade aufzuheben,[9] zeigen, dass gerade junge Menschen nicht mit den bestehenden, überkommenen Regelungen einverstanden sind.

Auch die Blätter für deutsche und internationale Politik drucken in ihrer August-Ausgabe einen Text zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Unter dem eindrücklichen Titel „Der weibliche Körper als Staatseigentum“ berichtet die US-amerikanische Autorin Siri Hustvedt vom „Kreuzzug des Supreme Court gegen das Recht auf Abtreibung“. Sie zeigt, dass noch im 17., 18. und 19. Jahrhundert ein umfangreiches Repertoire aus verschiedenen medizinischen und indigenen Praktiken und Rezepten existierte, um ungewollte Schwangerschaften zu beenden. „Wie schon häufig hervorgehoben wurde, war Abtreibung zum Zeitpunkt, als die Verfassung geschrieben wurde, weit verbreitet und bis zu den ersten Kindsbewegungen legal – also dem Moment, in dem die Frau zum ersten Mal spürt, dass sich der Fötus bewegt.“ (S. 91) Seit 1880 bestanden in den USA verschiedene Gesetze gegen Abtreibung, bis es 1973 zum schon erwähnten Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs („Roe versus Wade“) kam. Im Anschluss an diese maßgebende Entscheidung wurden Schwangerschaftsabbrüche in den meisten Bundesstaaten legalisiert.

Nachdem also fast fünfzig Jahre lang das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA bundesweit geregelt war, obliegt es nun – nach der neuerlichen Entscheidung des Supreme Court vom 24. Juni 2022 – wieder den einzelnen Bundesstaaten, Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich zu reglementieren. Damit können die 26 konservativ geführten Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche stark einschränken, 13 von ihnen haben bereits entsprechende Gesetzesentwürfe vorbereitet und es steht zu befürchten, dass weitere folgen.

Dass das Grundsatzurteil von 1973 nun gekippt wurde, mache deutlich, wie antidemokratisch der Oberste Gerichtshof seit jeher agiere, denn Frauen, Indigene, Schwarze, Asiat:innen, Katholik:innen oder Angehörige des jüdischen Glaubens seien vom Selbstverständnis der Gründerväter von vornherein ausgeschlossen gewesen. Dementsprechend waren – und sind – auch die verabschiedeten Gesetze gegen Abtreibung Hustvedt zufolge von Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie geprägt. Während also in Deutschland derzeit die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch immerhin etwas liberalisiert werden, ist in den USA eine gegenteilige, geradezu reaktionäre Bewegung zu beobachten, die unter Umständen auf weitere konservativ geprägte Nationen ausstrahlt.

  1. Ihren diesbezüglichen Ausführungen schicken Roose und Steinhilper einen zweifachen Disclaimer voraus: „Die Ursachen gesellschaftlicher Großphänomene sind vielschichtig und deshalb zumeist nur tentativ auszumachen. Dies gilt umso mehr, da sich die vorliegende empirische Forschung primär auf nur ein Land, die USA, und damit auf einen spezifischen sozio-politischen Kontext bezieht.“ (S. 289)
  2. Den Begriff übernehmen sie von Doug McAdam, Sidney Tarrow und Charles Tilly – Dynamics of Contention (2011) –, da sie einen ähnlichen Schwerpunkt setzen, nämlich die Untersuchung dynamischer Interaktionen zwischen einem breiten Spektrum von Akteuren.
  3. Dabei unterscheiden Hutter und Weisskircher zwischen Wahl- und Protestarenen, den beiden ihrer Aussage nach entscheidenden Arenen der Massenpolitik in modernen Demokratien.
  4. Dies kann mit einer Geld- oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden.
  5. „§ 218 (1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. […] § 218a (1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn 1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, 2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und 3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.“
  6. Bei einer medizinischen Indikation besteht eine Gefahr für das Leben der Schwangeren; die soziale Indikation bezieht sich auf die Lebensumstände der Schwangeren; eine kriminologische Indikation liegt vor, wenn die Schwangerschaft die Folge einer Strafftat ist. Daneben gibt es noch die embryopathische Indikation, bei der die Gesundheit des Embryos gefährdet ist.
  7. Dies verhinderte eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, angerufen von den Bundestagsfraktionen CDU/CSU.
  8. Demnach waren neben der medizinischen, der embryopathischen und der kriminologischen Indikation auch soziale oder persönliche Umstände im Leben der Schwangeren als Begründung zulässig, um die Schwangerschaft unter den oben genannten Bedingungen straffrei beenden zu können. Nach dieser Definition befand sich eine Frau beispielsweise in einer Notlage, wenn sie noch sehr jung und daher – nach Meinung eines Arztes oder einer Ärztin – nicht in der Lage war, Erziehungsberechtigte eines Babys zu sein.
  9. Am 22. Januar 1973 entschied der Oberste Gerichtshof der USA in einem Grundsatzurteil, dass staatliche Gesetze zum Verbot von Abtreibungen gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten verstoßen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher, Jens Bisky.

Kategorien: Feminismus Medien Politik Sozialgeschichte Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

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Wibke Liebhart

Wibke Liebhart ist Soziologin. Sie arbeitet für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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