Martin Bauer | Zeitschriftenschau | 24.02.2022
Aufgelesen
Die Zeitschriftenschau im Februar 2022
„Fragen des Gesundheitsschutzes sind zu Grundfragen des politischen Zusammenlebens geworden.“ Wer wollte dieser Beobachtung von Rainer Forst widersprechen? In einem ebenso dichten wie glasklaren Artikel, der im Feuilleton der FAZ vom 19. Januar dieses Jahres zu lesen war,[1] blickt Forst, Professor für Politologie und Philosophie in Frankfurt am Main, zunächst auf einen Dreischritt zurück, den die öffentliche Debatte in der jüngsten Vergangenheit absolviert habe. Nachdem zunächst über Gerechtigkeit, sonach über Demokratie und Solidarität diskutiert wurde, erhitzen sich die Gemüter – angesichts einer allgemeinen Impfpflicht, die Gesetz werden soll – jetzt an der Frage, was unter Freiheit zu verstehen sei. Forst, vormals Sprecher des Frankfurter Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, befürchtet, damit könne sich die physische Pandemie „durch eine normative Pandemie, die unsere Köpfe verwirrt“ noch verdoppeln. Um dieser Verwirrung Einhalt zu gebieten und einer etwaigen normativen Pandemie vorzubeugen, macht sich der durch Immanuel Kant inspirierte Philosoph sonach an die Arbeit. Getreu der Kantischen Bestimmung, Aufgabe der Philosophie sei es, gegebene Begriffe zu klären, unterscheidet Forst eine „politische, demokratische Freiheit“ von einer „moralischen Freiheit der Verantwortung“ und setzt beides schließlich von derjenigen Dimension menschlicher Freiheitserfahrung ab, in der „die Bedingungen individueller Freiheitsausübung“ ins Spiel kommen. So gerüstet kann Forst für normative Ordnung sorgen, indem er die im diskursiven Zahlungsverkehr mittlerweile zur gängigen Münze gewordene Entgegensetzung von „Freiheit und Gemeinwohl“ resolut entwertet. Wer das Gemeinwohl zum Antagonisten von Freiheit erkläre, so Forst, reduziere Freiheit auf „Willkürfreiheit“, das heißt auf die Vorstellung, Freiheit erteile die Lizenz dazu, tun und lassen zu dürfen, was man ohne Rücksicht auf andere gerade wolle.
Eine normative Pandemie?
Es ist mit Händen zu greifen, dass eine Verkürzung von Freiheit auf individuelle Willkür in einem Selbstverständnis mündet, das – wie Forst schreibt – „ein vernünftiges, demokratisches Zusammenleben unmöglich macht“. Jede und jeder, die und der Freiheit mit persönlicher Willkür verwechselt, wird Appelle an das Gemeinwohl für durchsichtige Vorwände halten, die Spielräume eigenen Handelns einschränken sollen. Würde sich die von Forst befürchtete normative Pandemie ausbreiten, ginge nicht nur jeder Sinn für die Spezifika politischer und moralischer Freiheit verloren, vielmehr würde es auch überflüssig, Konditionen zu bedenken und zu respektieren, an denen sich die individuelle Ausübung von Freiheit binden muss, will sie Freiheit und den Genuss anderer Güter nicht zerstören. Unter der Optik der Willkürfreiheit können gesetzlich verankerte Vorsorgemaßnahmen nämlich nur „freiheitsfeindliche Akte einer staatlichen Autorität“ sein, die sich „zum paternalistischen Bewahrer kollektiver Güter (Gesundheit, Solidarität) aufschwingt“. Dass derartige Vorkehrungen ein Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung sind, „sofern sie rational gerechtfertigt und demokratisch beschlossen“ wurden, das heißt eine Manifestation politischer Freiheit darstellen, wollen oder können die Vertreter:innen des Konzepts der Willkürfreiheit nicht sehen.
Was ihnen ebenfalls entgeht, ist die Bedeutung moralischer Freiheit. Wird die Auflage, eine Maske zu tragen, als unerträglicher Eingriff in die wahre Freiheit zurückgewiesen, ist die Verbindung von Freiheit und Verantwortung zerschnitten. In der Konsequenz führt diese Entzweiung dazu, dass „Akte der Solidarität nicht mehr als Akte der Freiheit“ verstanden werden. Das hält Forst für eine bedauernswerte, durch Begriffsklärung vermeidbare „Verarmung des Denkens“. Schließlich sind die Advokat:innen der Willkürfreiheit auch blind gegenüber dem Phänomen, dass Freiheitseinschränkungen, also etwa Regeln zur Prävention weiterer Infizierungen, „recht betrachtet Freiheit schützen und ermöglichen.“ Zwar beeinflussen solche Maßnahmen die Bedingungen individueller Freiheitsausübung, doch schützen sie „recht betrachtet“ die Freiheit insofern, als sie es „Menschen, die Ansteckung fürchten, erlauben, ohne Angst in die Öffentlichkeit zu gehen, weil man dort Masken trägt oder geimpft beziehungsweise getestet wird“.
Sicherheit als Freiheit
Mit diesem Argument weist Forst auf einen gewichtigen Punkt hin: Es wäre nämlich irrig, die Freiheit von Bedrohungen, Ängsten und Sorgen um eigene Gefährdung nur für einen Gewinn an Sicherheit zu halten, vielmehr ist sie, wie jede Frau, die in einem Parkhaus unbesorgt ihr dort abgestelltes Auto aufschließt, sofort bestätigen dürfte, „eine echte Freiheit“. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung bemängelt Forst die Begründung, mit welcher der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unlängst sein Urteil gerechtfertigt hat, die sogenannte ‚Bundesnotbremse‘ sei verfassungskonform. Zwar sei es „juristisch korrekt“, herauszustellen, dass die Grundrechtseingriffe den „verfassungsrechtlich legitimen Staatszwecken des ‚Lebens- und Gesundheitsschutzes‘ im Sinne überragend wichtiger ‚Gemeinwohlbelange‘“ dienten, wie es die Karlsruher Richter:innen getan hatten. Doch akzeptiere deren Urteilsbegründung die Prämisse, individuelle Freiheiten auf der einen und der Staat als das Gut der Gesundheit sichernde Institution auf der anderen Seite stünden sich antagonistisch gegenüber. Selbst am Bundesverfassungsgericht dominiert das schiefe Bild, Freiheit und Gemeinwohl seien entgegengesetzt.
Demgegenüber sollte nach Forst davon ausgegangen werden, dass es sich keineswegs um einen Konflikt handelt, in dem staatliche Gesundheitsvorsorge und individuelle Freiheit kollidieren, sondern um eine Situation, in der unterschiedliche Freiheiten gegeneinander abzuwägen sind. Unter dieser Perspektive ist Gesundheit kein „zu schützendes Gut neben der Freiheit“, vielmehr stellt sie eine Bedingung und einen Teil meiner Freiheit dar: „Wer mir die Gesundheit nimmt, nimmt mir meine Freiheit – negativ als Freiheit von körperlicher Beeinträchtigung, positiv als Freiheit, mein Leben zu führen, wie ich es mir vorstelle.“
Hält man diese Überlegung für stimmig, erweist sich diejenige Rechtfertigung gesetzlich kodifizierter Pandemiebekämpfung als fragwürdig, die einem paternalistischen für die Volksgesundheit zuständigen Staat die Aufgabe überträgt, „die Menschen vor sich selbst zu schützen“. Im Widerspruch zu einer alten Tradition, welche die Legitimität von Staatlichkeit seit Thomas Hobbes an deren Fähigkeit koppelt, den vergesellschafteten Rechtsgenoss:innen Sicherheit an Leib und Leben zu garantieren, führt Forst ins Feld, dass sich jene in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen nicht vorrangig Sicherheit schulden, sondern begründungspflichtige Freiheiten. So gesehen lässt sich Sicherheit tatsächlich als ein Modus negativer Freiheit begreifen, das heißt als Freiheit von potenziell lebensbedrohlichen Gefährdungen. Also wird, wie Forst an einem gut gewählten Beispiel illustriert, zwar individuelle Bewegungsfreiheit gewährt, die innerstädtische Raserei von als Pkws getarnten PS-strotzenden Boliden jedoch unter Strafe gestellt. Und diese Sanktionierung, die selbstverständlich die Willkürfreiheit Einzelner einschränkt, stößt auf Zustimmung, weil die Bürger:innen sie vernünftig finden. Die Bürger:innenschaft kann sich nicht nur als Adressatin einer den Verkehr regelnden Norm identifizieren, sondern auch als mögliche Autorin besagter Normierung. Von daher erfüllt eine solche Regelung den Sinn, den Kant als ‚Autonomie‘ ausgewiesen hat. Wird Handeln an Regeln ausgerichtet, die Verbindlichkeit beanspruchen dürfen, weil sie vernünftig sind, nimmt Freiheit keinen Schaden. Vielmehr wird sie in einer Praxis der Selbstgesetzgebung verwirklicht, die gleichermaßen individuell wie kollektiv ausgeübt werden kann. Was auf diese Weise als gemeinsame Lebensgestaltung zustande kommt, nennen wir Demokratie.
Nach dem Boom
Dass Fragen des Gesundheitsschutzes zu Grundfragen nach dem politischen Zusammenleben geworden sind, würde auch Felix Heidenreich unterschreiben. Der habilitierte Politologe, der als wissenschaftlicher Koordinator am „Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung“ in Stuttgart arbeitet, befürchtet in den Blättern für deutsche und internationale Politik allerdings keine normative Pandemie, er meint, „Corona und die Krise der Demokratie“ zwängen vor allem dazu, den „Staat neu zu denken“.[2] Zu diesem Zweck unterscheidet er in loser Anlehnung an Foucaults Studien zur Gouvernementalität drei Idealtypen: „Staat 1.0“ ist der hierarchisch strukturierte Obrigkeitsstaat, der in „Befehlsketten, Verwaltungsbescheiden und Institutionen der Disziplinierung“ operiert. Im „Staat 2.0“ ist nicht mehr autoritäre Disziplinierung Programm, sondern die freie Entfaltung des Individuums. Dieser Staat, der sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vornehmlich in Europa etablierte, „arbeitet nicht nur korporatistisch, sondern auch kooperativ“. Weil er die Zivilgesellschaft einbindet und Daseinsvorsorge betreibt, bezieht er seine Legitimität nicht mehr aus einer fragwürdig gewordenen Autorität von Staatlichkeit, sondern aus der Wohlstandssicherung der Bürger:innen, was sozialpolitische Eingriffe in die Verteilung des sich mehrenden Wohlstands mitumfasst.
Der Staat 2.0 war ein Staat der ‚Trente Glorieuses‘, der während der drei Jahrzehnte von 1945 bis 1975 mit kontinuierlicher Wohlstandsmehrung rechnen konnte – ein welthistorischer Ausnahmezustand, wie die Wirtschaftsgeschichte lehrt. Folglich ist auch diese Art von Staatlichkeit historisch exzeptionell gewesen und im Übrigen nur auf einen winzigen Teil der Gesamtoberfläche des Globus beschränkt. Dem Staat 2.0 attestiert Heidenreich „große Defizite“: Trotz „enorm hoher Staatsquote“ habe er soziale Ungleichheiten nicht beseitigen, sondern „bestenfalls abmildern“ können; er habe klimapolitisch versagt, sei unvermögend gewesen, Risiken rechtzeitig zu erkennen, und sei in seinen Reaktion generell „träge“ gewesen, zumal angesichts der unbeabsichtigten Nebenwirkungen und langfristigen Folgen ebenjener ökonomischen und sozialen Modernisierung, die er sich auf die Fahne geschrieben hatte. Alles Befunde, die der Soziologe Ulrich Beck bereits Mitte der 1980er-Jahre vorgelegt hatte, woran Heidenreich erinnert. Da dieser Staat 2.0, wie der Stuttgarter Politikwissenschaftler zusammenfasst, „reaktiv-verwaltend, nicht pro-aktiv antizipierend“ operiere, überfordern „akute Krisen wie eine Pandemie“ seine gegenwärtige Daseinsweise, weshalb „der erfolgreiche Aufbau von Resilienzstrukturen, die die Folgen des Klimawandels zumindest abfedern,“ (S. 98) nicht zu erwarten sei.
Output-Legitimität
Anders als Forst, den Köpfe beunruhigen, denen sich die normative Innenarchitektur eines liberalen Republikanismus nicht mehr erschließt, konzentriert sich Heidenreich nicht auf die Input-, sondern auf die Output-Legitimität von Vater Staat. Er geht nicht der Frage nach, was die Grundrechte von Demokrat:innen sind und wie man sie im Interesse an einer Verteidigung demokratischer Rechtsstaatlichkeit am besten verstehen sollte, sondern legt seiner Leistungsbilanz von Staatlichkeit primär Effizienzgesichtspunkte zu Grunde. „Bürgerinnen und Bürger vergleichen ihren Staat mit Unternehmen wie Apple und Tesla – und sind entsetzt über die Schlafmützigkeit, mit der sie regiert werden. Lebensweltlich prallen der Perfektionismus und die Innovationsdynamik einer ökonomischen Lebenssphäre auf den Operationsmodus einer primär als Verwaltung agierenden Politik.“ (S. 98) Hier ist der wahrgenommene Widerspruch keiner zwischen Freiheit und Gemeinwohl, sondern einer zwischen der Geschwindigkeit global agierender Firmen und dem Schneckentempo regionaler Verwaltungen. Heidenreich betont, es seien diese neuen „kulturellen und ökonomischen Vergleichsgrößen“ und nicht etwa „die Evolution des Staatsbegriffs“, die seinem dritten Idealtypus, dem europäischen „Staat 3.0“, „anders akzentuierte normative Parameter“ vorgäben. Also werde dieser zukünftige Staat „eine andere normative Grammatik“ besitzen.
Weder Leviathan, noch Pizzadienst
Was diese Grammatik kennzeichnet, ermittelt Heidenreich in drei Hinsichten: Vom „Präventionsstaat 3.0“ werde nach den Erfahrungen mit der Corona-Krise, der Immobilienkrise, der Staatsschulden- und Euro-Krise sowie der „sogenannten Migrationskrise“ eine institutionell gesicherte Vorsorge erwartet, die von Präsens- auf Zukunftsorientierung umstellt. Der in dieser Erwartung zum Ausdruck kommende Wandel habe sich bereits in der Begründung des Urteils niedergeschlagen, mit dem das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2021 das Parlament der Bundesrepublik zu einer Reform des Klimaschutzgesetzes gezwungen hatte. In diesem Urteil ist von einem Staat die Rede, der „Fernverantwortung“ übernehme, das heißt Verantwortung „für räumlich und zeitlich fernliegende ‚Rechtsträger‘, also Menschen“ trage. Der Präventionsstaat 3.0 darf sich dementsprechend „weder darauf beschränken, eine Bevölkerung zu regieren (Staat 1.0) oder eine Gesellschaft in einer liberalen Rechtsordnung ‚gedeihen‘ zu lassen (Staat 2.0)“, vielmehr werden von ihm „Antworten darauf erwartet, wie die langfristige Zukunft einer Gesellschaft gewährleistet werden kann.“ (S.101) Er muss, anders gesagt, zukunftssichernde Strategien „bezüglich Klima, Energie, Migration, Pandemien, Industriepolitik“ verfolgen, womit – wie Heidenreich anmerkt – einerseits „die klassische Idee einer res publica“ zurückkehre, das heißt eine Konzeption von kollektiven Gemeinwohlgütern, andererseits deutlich werde, dass die Regulierungsaufgaben des Präventionsstaates 3.0 ohne den Abschied vom „neoliberalen Paradigma einer maximalen Privatisierung“ gar nicht ins Werk zu setzen sind (S. 101). Die kleinen oder großen Lüste, denen private Einzelne jetzt gerade nachgehen, dürfen und werden im Präventionsstaat 3.0 nicht mehr ins Gewicht fallen, wo doch die gefährdete Zukunft des Gemeinwesens sicherzustellen ist.
Aus dem Unvermögen europäischer Wohlfahrtstaatlichkeit durch Maßnahmen zur Verteilung von Einkommen und Konsumgütern soziale Ungleichheit effektiv zu beseitigen, folgt nach Heidenreich im Umkehrschluss, dass ein „Sozialstaat 3.0“ nicht nur „Mindesteinkommen, sondern auch Mindestvermögen denkt.“ Nimmt man ‚for the sake of argument‘ einen Augenblick lang keinen Anstoß an der Formulierung, ein Staat müsse etwas denken (Wer oder was wäre in welchem vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Staat für diese spezielle mentale Aktivität zuständig?), so vermag das von Heidenreich herangezogene Beispiel seine Grundthese zu veranschaulichen. Angesichts zunehmend unbezahlbar gewordenen Wohnraums – trotz aller Versuche, den Wohnungsmarkt über Mietpreisbremsen im Interesse der Mieter:innen zu regulieren –, plädiert Heidenreichs utopischer Ausblick auf die normative Grammatik des Sozialstaates 3.0 dafür, Wohnraum, da er „Vorbedingung eines menschenwürdigen Lebens“ sei, als „Allmende-Gut, wie Luft oder Wasser“ zu betrachten. Setzte sich diese Auffassung durch, wäre eine staatlicherseits betriebene, strenge Regulierung des Immobilienmarkts keine „sachfremde Intervention“ mehr, sondern eine „Sicherstellung von Grundgütern“ (S. 102). Was Heidenreich dem Sozialstaat 3.0 also zutraut, wenn er davon spricht, dieser Staat solle Mindestvermögen ‚denken‘ und eine weitere Privilegierung „leistungsloser Einkommen“, wie etwa Mieteinnahmen, beenden, ist keine Kleinigkeit: Er soll den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, „nicht nur im metaphorischen Sinne von ‚my country‘ sprechen“ zu können. Sie sollen „stake-holder“ werden, womit der Sozialstaat 3.0 Sorge dafür trüge, dass die „Rede von der ownership“ „keine hohle Phrase mehr“ wäre. Norwegen ist Heidenreichs Modell, das heißt ein Staat, der keine Schulden hat, sondern über Investitionsmittel verfügt, sodass sich dort „das Machtverhältnis zwischen Staat und Kapitalmarkt umgedreht“ findet (S. 103). Da Heidenreichs „Staatlichkeit 3.0“ offenbar die Produktionsmittel vergesellschaftet, hätte man sie früher wahrscheinlich umstandslos also sozialistisch charakterisiert. Er vermeidet die Vokabel, schärft allerdings ein, diese Staatlichkeit konterkariere „den Neofeudalismus der neoliberalen ‚Staatlichkeit 2.0‘“, womit gesagt sein soll, dass sie „das Modell des bloß kompensierenden Sozialstaates“ überwinde.
Die dritte Hinsicht, unter der Heidenreich die veränderte ‚normative Grammatik‘ eines Staates 3.0 betrachtet, nimmt die Korrosion von Staatsvertrauen zum Ausgangs- und Ansatzpunkt: „Die ‚Blaulichtfraktion‘ (Polizei, Sanitäter, Feuerwehr) wird mittlerweile in fast allen europäischen Staaten angefeindet.“ Auch rissen „Skandale um rechtsextreme Umtriebe in der Polizei“ nicht ab. Rechtsdurchsetzung stoße mancherorts auf Widerstand, mit der „Einführung einer allgemeinen Impfpflicht“, so alarmierte Stimmen, die Heidenreich erwähnt, „könnten Teile Sachsens regelrecht unregierbar werden.“ (S. 103) Nun sei aber deutlich, dass ein Rechtsstaat 3.0 die Regierbarkeit der Verhältnisse „weder autoritär gegen die Bürger*innen durchsetzen“ kann, noch „als bloßer Dienstleister für die Bürger*innen. Er ist weder ein Leviathan, noch ein Pizzadienst, der nach Belieben ‚liefern‘ soll.“ Ergo sei für den Staat 3.0 „ein völlig neues Rollenmuster“ nötig – „und zwar in kürzester Zeit“.
Und in der Tat hat Heidenreich einen Vorschlag parat, der seinem Gehalt nach deckungsgleich mit den bereits diskutierten Erwartungen in Sachen staatlicher Präventionspolitik ist. Die Schlüsselkompetenz zukunftsfähiger Staatlichkeit sei „die Antizipation noch fernliegender, aber bereits absehbarer Probleme und die frühe und überzeugende Ansprache der Bürger*innen.“(S. 104) Das damit vorgestellte ‚Rollenmuster‘ ist genau besehen allerdings nicht so neu, sondern eher von blasser Herkömmlichkeit: Heidenreich wünscht sich schlicht, dass im Staat 3.0 Sachkompetenz angesichts kognitiv herausfordernder Problemstellungen und kommunikative Kompetenz zueinander finden. Dass Politik ihre Funktion, verbindliche Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, erst mit Aussicht auf Zustimmungsbereitschaft wird erfüllen können, wenn sie das Publikum – neudeutsch – ‚mitnimmt‘, ist ein alter Hut. Noch zu Zeiten der Trente Glorieuses hatte Luhmann in Frankfurter Vorlesungen, die er als Lehrstuhlvertreter von Theodor W. Adorno gehalten hatte, bereits auf einen in diesem Zusammenhang bedeutsamen Faktor hingewiesen, nämlich auf die „Geduld“ dieses Publikums. Wird sie durch Parteien, parlamentarische Verfahren und Verwaltungen über Gebühr strapaziert, ist mit Unruhe zu rechnen – auch außerparlamentarisch.
Bedürfnisse, normativ
Warum diese Unruhe in unseren Tagen eine derart außergewöhnliche Intensität erreicht, dafür findet sich ein versteckter Wink in der lesenswerten Würdigung, die Florian Hannig in der gerade freigeschalteten, jüngsten Ausgabe der Zeithistorischen Forschungen veröffentlicht hat.[3] Unter der Rubrik „Neu gelesen“ erinnert Hannig an das vor mehr als einem halben Jahrhundert erschienene Buch Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation des späteren Nobelpreisträgers Amartya Sen. Der Ökonom hatte in seiner Studie mit beeindruckender empirischer Unterfütterung gezeigt, dass Hungerkatastrophen nicht durch Missverhältnisse zwischen Angebot und Nachfrage auf Nahrungsmittelmärkten verursacht werden. Vielmehr habe man mit einem sozialen Phänomen zu tun, das eine Entwicklungspolitik nicht beseitigen könne, die auf den Schultern der – damals prominenten – soziologischen Modernisierungstheorie dem Dogma anhänge, Wirtschaftswachstum werde Armut nebst ihrer die Betroffenen depravierenden Begleiterscheinungen endgültig eliminieren. Das in diesem Kontext stechende Argument Sens, auf das der Begriff ‚entitlement‘ schon im Untertitel anspielt, war normativer Natur. Statt auf die Optimierung ineffizienter Wachstums- und Bevölkerungspolitiken zu setzen, müsse – wie Hannig die entsprechenden Überlegungen von Sen paraphrasiert – „der Anspruch auf Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Nahrung politisch und rechtlich verankert werden.“
Mithin war Sen mit einer einfachen, aber radikalen Idee befasst: Grundbedürfnisse begründen legitime Rechtsansprüche. Wer unter Hunger leidet, darf die Versorgung mit Nahrung erwarten, wer kein Dach über dem Kopf hat, dem soll Schlaf- und Wohnraum gestellt werden. Anders verhält es sich bei Raucher:innen, die einen Anspruch auf staatliche Nikotinversorgung deshalb nicht geltend machen können, weil ihre Sucht kein Grundbedürfnis, kein ‚basic need‘, ist, wie es in späteren Aufsätzen hieß, die Sen zusammen mit der neo-aristotelischen Philosophin Martha Nussbaum verfasst hat. Natürlich hat die normative Auszeichnung von Bedürfnissen als Rechtstitel lebhafte Kontroversen ausgelöst, die sich nicht zuletzt an der Frage entzündeten, wie eine vollständige und unstrittige Liste solcher Grundbedürfnisse überhaupt aussehen könne. Von Belang für unseren Zusammenhang ist nun jedoch lediglich der bei Sen so nachdrücklich hervorgehobene Konnex zwischen Grundbedürfnis und Rechtsanspruch. Was die Unruhe eines Publikums erklärt, dem ‚Fragen des Gesundheitsschutzes‘ derart auf den Nägeln brennen, dass sie zu ‚Grundfragen des politischen Zusammenlebens‘ werden, die mitunter sogar auf der Straße ausgefochten werden, ist eine unmissverständlich normative Intuition der Bürger:innen. Sie (oder zumindest einige von ihnen) befürchten, dass legitime Rechtsansprüche, die ihrem Bedürfnis nach einem Leben in Gesundheit entspringen, nicht die gebührende Achtung erfahren. Dabei wird die Schärfe des Streits wohl auch aus dem Umstand resultieren, dass es – anders als die abendländische Überlieferung politischen Denkens vorsah – keineswegs nur um unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben geht, also um Ansichten, über die sich vernünftig streiten ließe, sondern um Selbsterhaltung. Politik, hatte Aristoteles gemeint, habe ihren Ort in einer Polis. Und dort ist das nackte Leben kein Thema mehr.
Fußnoten
- Rainer Forst, „Freiheit quergedacht ist auf den Hund gebracht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Januar 2022. Dass der Aufsatz unter einer etwas kalauernden Überschrift leidet, wird wahrscheinlich nicht seinem Autor anzulasten sein.
- Felix Heidenreich, „Den Staat neu denken: Corona und die Krise der Demokratie“, in Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2022, S.97–104.
- Florian Hannig, „Die soziale Ungleichheit des Hungerns. Amartya Sens ‚Poverty and Famines‘ (1981)”, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 18 (2021), 2.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott, Jens Bisky, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Demokratie Gesundheit / Medizin Körper Politik Recht Sicherheit Staat / Nation
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