Hannah Schmidt-Ott | Zeitschriftenschau | 31.01.2023
Aufgelesen
Die Zeitschriftenschau im Januar 2023
Das „Süße“, das bekanntlich neben einer gustatorischen auch eine ästhetische Empfindung beschreibt, ist längst nicht mehr nur Symbol einer bestimmten Inszenierung von Weiblichkeit, die mit kindlichen Accessoires und Attributen spielt. „Süß“ oder „sweet“ beziehungsweise „cute“ zu sein und Anderes wie Andere „süß“, „sweet“, „cute“ zu finden liegt heute geschlechtsunabhängig im Trend, ist mithin ein Zeitgeistphänomen,[1] wie die Herausgeber:innen eines Themenschwerpunkts der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, der den klingenden Titel „Süüüüß!“ trägt, konstatieren. Dabei kann das Süße durchaus auch subversive Potenziale entfalten, etwa indem es binäre Geschlechtercodes transzendiert oder sogar, wie Anja Schwanhäußer in ihrem Beitrag „,Bist du bissi süß?‘ Sweet talk auf dem Ponyhof“ zeigt, Milieu- beziehungsweise Klassengrenzen unterläuft.
Schwanhäußers überaus lesenswerter Text beruht auf den Erkenntnissen einer einjährigen teilnehmenden Beobachtung, die sie auf einem Ponyhof am Rande Berlins durchgeführt und in deren Zuge sie viel Zeit mit den dortigen „Pferdemädchen“ verbracht hat. Die Pferdemädchen sind eine Gruppe von Teenagerinnen, die sich stark auf dem Hof engagieren. Die Gruppe besteht aus einer Handvoll Freizeitreiterinnen und den einige Jahre älteren Azubis, die auf dem Hof ihre Ausbildung zur Pferdewirtin absolvieren. Pferdemädchen stellen, das ist eine von Schwanhäußers Thesen, eine Jugendsubkultur dar, die sich durch die gemeinsame Begeisterung für Pferde, Pferde-bezogenen Konsum und ganz maßgeblich durch einen eigenen Redestil, den sweet talk, charakterisiert ist. Es handelt sich um eine Art Babysprache, in der die Mädchen mit den Pferden, aber auch miteinander kommunizieren. Sie ist reich an Verniedlichungen und Kosenamen; hohe Tonlagen und eine flötende Sprechweise zeichnen sie aus. Das Titelgebende „Bist du bissi süß?“ ist eine stehende Formulierung auf dem beforschten Ponyhof.
Schwanhäußer argumentiert, dass dieser sweet talk „Teil und Austragungsort […] soziale[r] Strukturen von Klasse/Milieu und Geschlecht“ ist (S. 71). Denn die Mädchen entstammen der unteren Mittelschicht, sind, sofern sie nicht zu den Auszubildenden auf dem Hof gehören, häufig die ersten in der Familie, die ein Studium anstreben. Die Aufstiegsambition ist ein wichtiges Merkmal der sozialen Zusammensetzung der Gruppe, der Ponyhof ihr Schauplatz. Einerseits, weil der beforschte Hof zwar angesehen ist und einen guten Ruf genießt, allerdings (noch) nicht zum Reit-Establishment gehört, andererseits weil das Reiten ein Sport ist, in dessen Umfeld „die bürgerliche Gesellschaft alles andere als aufgelöst“ (S. 74) ist, der also Mittel zur Annäherung an bessergestellte Milieus sein kann. Schwanhäußer, deren Analyse nicht nur die materiellen, sondern auch die sinnlichen und klanglichen Aspekte der Vergemeinschaftung in den Blick nimmt,[2] schreibt: „Auch die hohen Stimmen, so die Vermutung, hängen mit dem Streben ‚nach Höherem‘ zusammen.“ (S. 71)
Doch der sweet talk ist auch Ausdruck einer spezifisch mädchenhaften Subkultur. Somit ist er nicht (nur) ein Attribut ansozialisierter Weiblichkeit, sondern hat eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Die „hohe, singende Melodie“ (S. 75) des sweet talks gilt „nicht allein den Pferden, es geht vielmehr darum, eine allgemeine Atmosphäre des ‚Süßen‘ zu erzeugen“ (ebd.), die wiederum Verbundenheit nach innen und Abgrenzung nach außen signalisiert. Auch gruppeninterne Aushandlungsprozesse werden über den talk und die Frage, wer ihn verwenden darf, ohne dafür von den anderen Mädchen sanktioniert zu werden, vermittelt. So sind etwa die Azubis zwar finanziell schlechter gestellt als die Freizeitreiterinnen, aber durch ihre Berufstätigkeit und die Einbindung in den Alltag auf dem Ponyhof „symbolisch mächtig“ (S. 83). Sie prägen die Redeweise entscheidend und befinden über die „Aufrichtigkeit“ der Sprecherinnen und damit über die Legitimität des talks.
„Sweet talk ist also sowohl Ausdruck sozialer und geschlechtsspezifischer Zuschreibungen, mithin dem Problem, in einer Welt zu leben, die kategorisiert. Sweet talk ist aber zugleich eine Form, mit diesen Zuschreibungen kreativ umzugehen und nach Lösungen zu suchen.“ (S. 71)
In dieser Kreativität erkennt Schwanhäußer etwas „Widersetzliche[s]“ (S. 71, 86): Zwar zielen die Mädchen mit dem talk auf „Kultivierung und Verfeinerung“ (S. 71), „aber eben im subkulturellen, nicht im bürgerlichen Sinn“ (S. 86). Sie spricht sich folglich dagegen aus, den sweet talk als heteronormative Inszenierung von Weiblichkeit zu kritisieren und damit abzutun, sondern plädiert dafür, die Pferdemädchen als Jugendsubkultur eigenen Rechts und den sweet talk als ihren stimmlich-musikalischen Ausdruck zu begreifen. Schwanhäußers Beitrag eröffnet damit eine ebenso erfrischende wie erhellende Perspektive auf einen nur scheinbar banalen Ausdruck von Mädchenhaftigkeit. Man darf gespannt sein, wie die Studie, auf der der Text basiert, die Beobachtungen und Deutungen erweitert und elaboriert.
Ambivalenzen
Dass man es beim Süßen mitnichten mit einem reinen Gegenwartsphänomen zu tun hat, sondern „Begriffe wie Qualitäten und Funktionen des Niedlichen“ (S. 38) eine lange Geschichte haben, argumentiert Niels Penke in seinem im gleichen Heft publizierten Beitrag „Das Schöne im Kleinen. Ansätze zu einer Begriffsgeschichte des Niedlichen“. In seiner „historischen Positionsbestimmung“ unternimmt der Autor einen Streifzug durch die Philosophie- und Literaturgeschichte, um zu zeigen, dass der Begriff des Niedlichen bereits seit dem 18. Jahrhundert firmiert und insofern als eine – in ihrer Verwendungsweise durchaus ambivalente – „ästhetische Kategorie der Moderne insgesamt zu begreifen“ ist (ebd.).
War der Begriff des Niedlichen im Jahr 1727 noch als Synonym für „delicat“ (S. 38) im Wörterbuch vermerkt, bezog sich also auf eine Eigenschaft von Speisen, erweiterte sich das Bedeutungsspektrum im Laufe der folgenden Jahrzehnte auf alles, das seinem Betrachter beim Anblick Genuss verschafft. Es war dann Moses Mendelssohn, der 1762 in seiner für die Zeitschrift Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste angefertigte Paraphrase von Edmund Burkes A Philosophical Enquiry Into the Origin of Our Ideas Of the Sublime and the Beautiful das Wort „sweetness“ erstmals als „niedlich“ übersetzte. Indem er es mit dem Erhabenem kontrastiert, das überlegen und männlich präsentiert wird,[3] konnotiert er es, schreibt Penke, zudem geschlechtlich. Als Begriff wirklich eindeutig, so zeigt der Autor in Auseinandersetzung mit unter anderem Immanuel Kant, Ernst Platner und Johann Wolfgang Goethe, wird das Niedliche jedoch erst im 21. Jahrhundert. Doch gerade die Affekthaftigkeit, die schon die frühen – männlichen – Autoren der durch das Niedliche erweckten Zuneigung attestieren, ist Penke zufolge problematisch. Sie werde in wissenschaftlichen Arbeiten zum Niedlichen jedoch nicht hinreichend reflektiert.
Die entscheidende Frage lautet folglich: „Wer beschreibt wen oder was als ‚niedlich‘, warum und mit welcher Absicht?“ (S. 49) Damit lenkt Penke den Blick auf das Niedliche als Männerfantasie. Denn in der Asymmetrie zwischen „beobachtendem Subjekt und beobachteten Objekt“ hatten historisch ausschließlich Männern die Subjektposition inne. Diese Rollenverteilung sei in den letzten Jahren zwar etwas flexibler geworden, jedoch zeige sich die Ambivalenz des Begriffs in seiner Geschichte unmittelbar: „Was für das zarte Gebäck, das sich lustvoll einverleibt wird, unproblematisch erscheinen mag, wird fragwürdig, wenn sich mit einer ähnlich appropriativen Haltung gegenüber einem Hund oder einem Menschen, vor allem Kindern und jungen Frauen, angenähert wird.“ (ebd.)
Paradigmenwechsel
Eine Bewegung der Worte, wo doch eine der Gedanken sein sollte, befürchtet Fabian Anicker in Bezug auf die neueren Entwicklungen in der soziologischen Theorie, wie er in seinem in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Soziologie erschienenen Artikel „Wohin wenden nach den Turns? Eine wissenschaftssoziologische und forschungslogische Betrachtung am Beispiel des ‚Turn to Practice‘“ ausführt.
Anicker, der nicht weniger als ein – der Leserin nur gerecht erscheinendes – Generalurteil über den Zustand der Theorie in den Sozialwissenschaften fällt, argumentiert, dass „kollektive Theorieentwicklung“, also „hinreichend gleichsinnige Theorieinterpretation, -anwendung und -weiterentwicklung“ (S. 359) mit dem theoretischen Vokabular, das aktuell Konjunktur habe, kaum mehr möglich sei. Den Grund dafür verortet er in der Ablösung der holistisch-systematischen Grand Theories durch theoretische Zugänge, die nur lose durch geteilte sozialtheoretische Annahmen miteinander zusammenhängen. Ein solcher Zusammenhang, so Anicker, stelle keine Basis für die stringente Ableitung neuer theoretischer Entwicklungen dar. Doch beginnen wir von vorn:
Dass die Zeit der großen soziologischen Theorien vorbei zu sein scheint, ist als Diagnose einleuchtend. Soziologen vom Format eines Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann oder Jürgen Habermas, die versuchten, „eine kohärente und komprehensive Perspektive zu entwickeln, aus der die Gesamtheit eines disziplinären Gegenstandsbereichs systematisch rekonstruiert und mit deren Hilfe große Teile der relevanten Problemstellungen des Fachs koordiniert werden können“ (S. 350) finden keine Nachfolger:innen. Stattdessen gewinnt eine Theorieform an Einfluss, die Anicker als „Neue Sozialtheoretische Initiativen (NSI)“ bezeichnet. Bei ihnen „handelt es sich um Ansätze, die abstrakte sozialtheoretische Annahmen aus verschiedenen Theorien extrahieren und auf einen geteilten Nenner bringen. Sozialtheoretische Annahmen sind solche, die festlegen, in welchen Kategorien soziologisch relevante Phänomene zu beschreiben sind (z. B. als Handlung/Kommunikation/Praxis) und dadurch bestimmen, was als empirisches Datum erscheinen kann.“ (S. 351) Das Beispiel, das Anicker in seinem Artikel pars pro toto heranzieht, ist das des Practice Turn, also einer sozialtheoretischen Initiative, die sich durch den gemeinsamen Bezug auf Praktiken als Grundelement des Sozialen auszeichnet.
Dem Aufstieg der NSIs liegt laut Anicker ein fundamentaler „Strukturwandel der soziologischen Wissenschaftsöffentlichkeit“ (S. 352) zugrunde, wobei davon auszugehen ist, dass er diese an den Großtheoretiker Habermas angelehnte Formulierung nicht zufällig gewählt hat. Angetrieben wird jener Wandel durch „Prozesse der Bildungsexpansion, Internationalisierung, die Beschleunigung des akademischen Wettbewerbs, gestiegene Bedeutung von Drittmitteln und die fortlaufende Binnendifferenzierung der Soziologie“ (S. 352). Der akademische Feudalismus ist mit diesen Tendenzen nur schlecht vereinbar: bekam man eine Stelle im Wissenschaftsbetrieb vormals oft durch die Gunst eines Lehrstuhlinhabers, die ihren Ausdruck in einer persönlichen Empfehlung fand, sind quantifizierte Leistungskriterien wie die Anzahl der Publikationen und deren impact mittlerweile die relevanteren Kriterien für die Stellenvergabe.
Das führt zwar dazu, dass die „Produktions- und Distributionschancen von Grand Theories deutlich ungünstiger geworden sind“ (S. 353), doch diese Entwicklung allein kann den Shift in der Theorielandschaft nicht erklären. Hinzukommen „zeitliche Synchronisationsprobleme und sozialstrukturelle Reproduktionsprobleme großer Theorie“ (ebd.). Die Entwicklung von Großtheorien erfordert viel langwierige und interdisziplinärer informierte Lektürearbeit, die unter den aktuellen Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb mit größtenteils befristeten, projektgebundenen Stellen kaum zu leisten ist.
Zudem beruhe „große Theorie auf Voraussetzungen, die unter den gewandelten wissenschaftsstrukturellen Bedingungen systematisch unwahrscheinlicher werden“ (S. 353). Namentlich geht es um die Rolle einzelner Autoren, die die großen Theoriegebäude entwerfen und die nicht nur persönlich mit ihrer Theorie assoziiert werden, sondern die auch die Deutungshoheit über ihre Auslegung und Reichweite haben. Die Schulenbildung, die um sie herum stattfindet beziehungsweise -fand, ist mit der Flexibilisierung des akademischen Arbeitsmarktes schlecht vereinbar. „Die langfristige Bindung von jungen Wissenschaftler:innen an das Werk intellektueller Führungsfiguren“ (S. 354) lohnt sich heute ebenso wenig wie die „zeitintensive[] Totalrezeption“ (ebd.) von großen Theorien.
Die NSIs sind eine Reaktion auf diese veränderten Bedingungen. Zwar haben sie einen ähnlich universalistischen Anspruch wie Großtheorien, wollen also „alle Forschungsthemen und Gegenstandsbereiche“ abdecken und zielen auf Syntheseleistungen, die „wichtige theoretische Ideen unterschiedlicher Provenienz im Rahmen desselben theoretischen Vokabulars“ behandeln (S. 355). Ihr Vorgehen unterscheidet sich jedoch fundamental von dem der Grand Theories, was zum einen den Zeitlichkeiten im Wissenschaftsbetrieb entgegen kommt und zum anderen die Enthierarchisierung der Theorieproduktion befördert: „Anders als bei Großtheorien ist es für diejenigen, die mit dem Ansatz arbeiten wollen, nicht nötig, sich sachlich durch extensive Auseinandersetzung mit den Argumenten der Primärautoren zu legitimieren und eigene Positionierungen daraus abzuleiten. Zitiert werden die Gründungstexte nicht für ihre sachliche Autorität über die Bedeutung zentraler Konzepte, sondern als routinemäßig zu zitierende Diskurseröffner.“ (S. 355)
Am Beispiel des Practice Turn in Social Theory diskutiert Anicker, inwieweit Theoriearbeit in einer solchen „projektförmig-offenen und postheroischen Form“ (S. 356) möglich ist. Da man mit der Diagnose eines turns allein noch nichts erklären kann, bedarf sein zentraler Begriff – hier Praktik – einer genauen Bestimmung. Beispielhaft wird unter anderem die Definition von Andreas Reckwitz herangezogen, der als Grundelemente der Praxistheorie „Materialität, implizites Wissen, Routinisiertheit und Unberechenbarkeit sowie eine Frontstellung gegen rationalistische Sozial- und Gesellschaftstheorien“ (ebd.) nennt. Anicker bemerkt „die aufzählende, auf sozialtheoretische Elemente abstellende Art der Definition; als würde man ein Picknick als eine bestimmte Zahl von Personen, eine Decke, eine Landschaft und eine Reihe von Speisen und Getränken definieren. Es fehlen Angaben dazu, wie die einzelnen Elemente genau zusammenhängen, wozu sie dienen und warum es sich lohnen sollte, sie unter einem geteilten Begriff zu versammeln.“ (S. 357).
Hinsichtlich ihrer jeweiligen Forschungslogik kontrastiert Anicker die Praxistheorie mit Talcott Parsons’ Structure of Social Action. In seinem epochemachenden Buch konvergiert Parsons die Theorien ganz unterschiedlicher Autoren wie Max Weber, Emile Durkheim, Vilfredo Pareto und Alfred Marshall zu einer allgemeinen Theorie sozialen Handelns. Parsons Konvergenzthese fußt also nicht auf einem Grundelement, das all diese Theorien teilen, sondern auf einer analogen Problemorientierung: die Theorien sind aufeinander beziehbar, weil jede eine Lösung für das gleiche Problem vorschlägt, nämlich des Problems „sozialer Ordnung und also die Frage, wie es sein kann, dass (bedingt) freie Akteure relativ stabile soziale Ordnungen reproduzieren“ (S. 357).
Anicker kommt zu dem Schluss, dass die NSIs nicht als Grundlage für „kollektive Theorieentwicklung“ geeignet sind, denn eine „sachliche Basis, die lediglich aus geteilten sozialtheoretischen Annahmen besteht, ist zu schmal, um neue theoretische Entwicklungen stringent daraus abzuleiten“. Großer Theorien drohten mitsamt ihrer Systematisierungsleistung vom „additiven Aufeinanderstapeln[] unterschiedlicher Weiterentwicklungsversuche und Theorievarianten innerhalb eines Turns oder Ansatzes“ (S. 359) abgelöst zu werden. Um gemeinschaftliche Theoriearbeit zu befördern, schlägt er vor, von sozialtheoretischen Konvergenzbehauptungen grundsätzlich Abstand zu nehmen und Konvergenz stattdessen im Sinne Parsons über geteilte Problemstellungen herzustellen: „Der Vorteil problemzentrierten Arbeitens liegt darin, dass man sich nicht von vornherein auf eine bestimmte Version ‚der‘ Sozialtheorie verständigen müsste, für die es unabhängig von bestimmten theoretischen Zielen ohnehin keinerlei Kriterien gibt.“ (ebd.)
Der Artikel ist dicht, reich an Argumenten, klugen Gedanken und treffenden Metaphern. Und er schließt, trotz seiner pessimistischen Diagnose, mit dem Verweis auf die prinzipiell offene Zukunft der Sozial- beziehungsweise Gesellschaftstheorie:
„Die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden zeigen, ob die Soziologie noch neue und kohärente Perspektiven auf die Gesellschaft entwickeln wird, oder ob minimalistisch ausstaffierte Theorieplattformen mit wechselndem Inhalt eine Bewegung des Gedankens simulieren, wo lediglich eine der Worte ist.“ (S. 360)
Sichtbarkeiten
Eine gute Theorie macht Zusammenhänge sichtbar, die vorher nicht offenkundig waren. In seinem kurzen Essay „Starless Sky“ widmet sich Marco d’Eramo auf dem Sidecar-Blog der New Left Review anderen Fragen von Sichtbarkeit. Es geht ihm um das durch immer stärkere künstliche Beleuchtung bedingte Verschwinden der Dunkelheit. Im Zuge der Urbanisierung und der immer umfassenderen Beleuchtung der Städte werden die Nächte stetig heller, und diese Entwicklung hat, wie d’Eramo zeigt, mannigfaltige Folgen.
Zudem ist es mitnichten so, dass in Abwesenheit von Dunkelheit alles besser sichtbar würde: die Sterne verschwinden, sie sind durch das künstliche Licht auf der Erde nicht mehr zu erkennen, wie d’Eramo nicht ohne etwas Wehmut im Unterton beschreibt. Während in einer klaren Nacht bei ungestörter Dunkelheit bis zu 6000 Himmelskörper mit bloßem Auge ausgemacht werden können, sind in einem innerstädtischen Nachthimmel nur einige wenige zu sehen. Ein Zustand, dessen normativ aufgeladener Name „Lichtverschmutzung“ über die fortschrittlichen Implikationen und Effekte künstlicher Beleuchtung hinwegtäuscht:
„A case could be made that artificial lighting is the industrial innovation which has most profoundly affected human life. It won the multi-millennial war against darkness, driving away the terror of the night; its nightmares and its monsters. Only a few centuries ago, when night fell, not only homes but entire cities were barricaded, their gates bolted.“
Die Beleuchtung der Städte nahm ihren Anfang allerdings nicht, wie man vermuten könnte, mit der Elektrifizierung, sondern begann im 19. Jahrhundert mit Öllampen, die nachts die Straßen erhellten. „It is perhaps no coincidence that the Enlightenment was coeval with urban lighting; its definition of the ‚Dark Ages’ may not have been simply a metaphor“, schreibt d’Eramo. Doch das Licht brachte nicht nur Erleuchtung, es war auch ein Mittel zur Kontrolle und insofern war es nur folgerichtig, dass die Revolutionäre von 1830 und 1848 ihre Aufstände damit begannen, zunächst die Laternen außer Betrieb zu setzen. Dass mit der städtischen Überwachung auch eine erhöhte Sicherheit einhergeht, stellt die 1988 von amerikanischen Astronomen gegründete International Dark Sky Association übrigens infrage: auf beleuchteten Straßen seien potenzielle Opfer von Verbrechen ebenso wie ihre Besitztümer schließlich besser zu erkennen und damit stärker gefährdet.
Die technische Revolution gibt und nimmt, meint d’Eramo. Gewonnen haben wir nicht nur Orientierung in der Dunkelheit, sondern auch einen Tagesrhythmus, der nicht mehr abhängig von vom Tageslicht ist, der abendliche Geselligkeit, aber auch Nachtarbeit ermöglicht. Schlechter Schlaf durch die durch künstliches Licht verminderte Produktion des Schlafhormons Melatonin ist eine der negativen Folgen für den Menschen. Von anderen, insbesondere nachtaktiven, Lebewesen, die den künstlichen Tag mit Desorientierung und nicht selten mit Leben bezahlen, ganz zu schweigen.
Selbstredend wurde die Lichtverschmutzung mittlerweile kapitalisiert. Dunkelheitstourismus („darkness tourism“) organisiert Reisen an Orte, an denen völlige Dunkelheit herrscht. So hat man nicht nur die Möglichkeit, sich die Milchstraße anzusehen, sondern – und hier beginnt meine eigene Interpretation – kann sich auch dem wohligen Schauer hingeben, die das Archaische, das einer scheinbar noch nicht bezwungenen Natur anhaftet, in uns auszulösen vermag. Nur um dann, wenn man nach überstandener tiefschwarzer Nacht im Grau des anbrechenden Morgens in die behagliche Behausung zurückkehrt, in gänzlich automatisierter Gewohnheit das Licht anzuknipsen.
Fußnoten
- Was könnte eine solche Diagnose plausibler machen als der Verweis auf 669.000.000(!) Bildbeiträge auf der Social Media-Plattform Instagram, die mit dem Hashtag #cute verknüpft sind (Niels Penke, „Das Schöne im Kleinen. Ansätze zu einer Begriffsgeschichte des Niedlichen“, S. 37).
- Schwanhäußer bezeichnet ihr Vorgehen als „Musikalische Subkulturanalyse“ (S. 73)
- „[D]ie Schönheit muss hell seyn; das Erhabene düster und traurig. Endlich muß jenes leicht und niedlich; dieses aber fest, und so gar massiv seyn. […] die Schönheit hat das Vergnügen, und die Erhabenheit den Schmerz zum Grunde“ (Mendelssohn zitiert nach Penke, S. 40)
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
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