Stephanie Kappacher | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im Oktober 2022

„Come in and burn out“ – diese treffende Bemerkung war auf einem der Plakate zu lesen, die während des elf Wochen andauernden Streiks der Beschäftigten an den sechs Universitätskliniken in Nordrhein-Westfahlen im Sommer dieses Jahres hochgehalten wurden.[1] Einblicke in das medizinische System und seine Missstände erhält man in der Regel nur, wenn man selbst oder Angehörige beziehungsweise Freund:innen krank respektive pflegebedürftig sind. Das medizinische Personal in NRW rückte prekäre Aspekte seines täglichen Arbeitsalltags ins Licht der Aufmerksamkeit, die bereits durch die Corona-Krise bundesweit (und darüber hinaus) offensichtlich wurden: Personalmangel, ständige Überforderung und Erschöpfung durch Überlastung, niedrige Entlohnung, schlechte Arbeitsbedingungen. Im Zuge der Pandemie bekam die als „systemrelevant“ eingestufte Pflege zwar mehr mediale Aufmerksamkeit – das Klatschen von den Balkons der Republik verhallte jedoch beinahe folgenlos. Der Pflegenotstand in Deutschland ist nicht von der Hand zu weisen, er betrifft aber nicht nur Krankenhäuser, sondern alle Bereiche der Pflege, somit auch die sogenannte Langzeitpflege, in der ältere hilfebedürftige Personen rund um die Uhr und dauerhaft versorgt werden.

Vor diesem Hintergrund befasst sich das jüngst erschienene Schwerpunktheft (5/2022) der WSI-Mitteilungen unter dem passenden Titel „Who cares?“ mit der „Arbeit in der Langzeitpflege“. Die Heftherausgeber:innen Karin Gotschall und Heinz Rothgang wollen der Frage nachgehen, „wer pflegt und wie die Langzeitpflege organisiert und finanziert wird“ (S. 354). Zu diesem Zweck tragen sie Beiträge zu den unterschiedlichsten Aspekten rund um das Thema zusammen. Darüber hinaus legen Gottschall und Rothgang selbst eine Analyse der Langzeitpflege in Deutschland, Schweden und Italien vor, in deren Rahmen sie den verschiedenen nationalen Pfaden folgen und „das komplexe Zusammenspiel der Ausgestaltung der jeweiligen Pflegesicherungssysteme mit Arbeitsmarkt-, Geschlechter- und Migrationsregimen“ untersuchen. Im Ergebnis, so viel sei an dieser Stelle verraten, zeigt sich, dass die zukünftige Leistungserbringung trotz unterschiedlicher Strategien bislang in keinem der drei Länder sichergestellt ist. Es besteht also dringender Handlungsbedarf, will man die Bedingungen für eine „gute Pflege“ schaffen.

Neben den medial viel beachteten prekären Beschäftigungsbedingungen in der Altenpflege ist ein häufig angeführtes Argument für den Pflegenotstand die schlechte Entlohnung, die diese systemrelevante Tätigkeit auch in monetärer Hinsicht als nicht lohnenswert erscheinen lässt. Dennoch ist vonseiten der Beschäftigten wenig an Interessenvertretung wahrzunehmen, abgesehen von vereinzelten kleineren Streikaktionen. Da ist es nur folgerichtig, dass Wolfgang Schroeder, Lukas Kiepe und Saara Inkinen ihre Aufmerksamkeit auf die aktuelle Situation der selbstorganisierten Interessenvertretung in der Altenpflege richten, die Grenzen selbstorganisierten Handelns des Personals ausloten und fragen, ob Tarifautonomie die Lösung für eine attraktivere Entlohnung sein könnte. Denn, so konstatieren die Autor:innen eingangs, wo Arbeitsbedingungen üblicherweise zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden mittels Tarifverträgen reguliert würden, friste die Tarifautonomie in der Altenpflege nur ein „Nischendasein“ (S. 356).

Die Gründe dafür, so die These der Autoren, seien insbesondere in einer mangelnden Selbstorganisation beider Arbeitsmarktparteien zu finden: Die Beschäftigten sehnten zwar bessere Rahmenbedingungen für ihre Arbeit herbei, seien aber „mehrheitlich organisationsabstinent“ (ebd.). Schroeder et al. zufolge liege eine wichtige Ursache für das geringe Ausmaß an Selbstorganisation darin, dass die Beschäftigten die Gewerkschaften als wenig durchsetzungsstark wahrnähmen. Gewerkschaften wie ver.di gerieten daher in einen „Teufelskreis der defekten Interessenvertretung“ (S. 357): Aufgrund ihrer geringen Anzahl an Mitgliedern mangele es an Ressourcen, um eine Tarifpolitik zu gewährleisten, die auf Arbeitgeberseite mindestens Verhandlungsbereitschaft erreiche. Aufgrund dieser schlechten Verhandlungsposition müssen auch ver.dis Durchsetzungsvermögen als stark eingeschränkt sowie die Interessen der Pflegekräfte als „schwach“ bezeichnet werden (ebd.). Der Großteil der Pflegekräfte sehe sich daher mit einseitig vom Arbeitgeber festgelegten Arbeitsbedingungen konfrontiert. Letztere wären zwar „organisationsfähig“, haben aber kaum Interesse daran, sich in Arbeitgeberverbänden zusammenzuschließen, um mit der Seite der Arbeitnehmer:innen in Verhandlungen zu treten. Zudem sorge die kleinteilige Betriebsstruktur in der Altenpflege für eine „zerklüftete[…] Arbeitgeberlandschaft“ (S. 358), an der etwaige Versuche eine tariflichen Einigung ohnehin scheiterten.

In der Quintessenz zeichnen die Autor:innen das Bild einer „festgefahrenen Situation in den Arbeitsbeziehungen in der Altenpflege“, sodass sowohl Beschäftigte als auch Teile der Gesellschaft staatliche Intervention fordern (S. 361). Der Staat reagierte in den letzten Jahrzehnten mehrfach mit Ad-hoc-Maßnahmen wie etwa der Einführung des Pflegemindestlohns (2009) und der Verabschiedung des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes (2019). Darüber hinaus setzte er 2021 eine Tariftreueregelung in Kraft, die ab September dieses Jahres alle Betriebe zu einer Entlohnung der Beschäftigten auf Tarifniveau verpflichtet und damit „alle Voraussetzungen für höhere Löhne in der Altenpflege geschaffen“ (ebd.) habe. Doch auch staatliches Handeln sei begrenzt und könne die fehlende Selbstorganisation der Arbeitsmarktparteien nicht ersetzen. Nun, so das Schlusswort der Autor:innen, seien Letztere am Zug.

Gerade auf diese Schlussfolgerung nimmt der lesenswerte Beitrag von Andreas Albert, Sigrid Betzelt, Ingo Bode und Sarina Parschick Bezug. Denn auch wenn Schroeder et al. nachvollziehbare Gründe für die gering ausgeprägte Selbstorganisation des Pflegepersonals anführen, ließe sich fragen, ob es darüber hinaus noch weitere, womöglich gänzlich anders gelagerte Erklärungen für das mangelnde Engagement der Pflegekräfte in eigener Sache gibt. Albert et al. schicken sich an, nach den „tieferliegende[n] Ursachen“ für das konstatierte Statusdefizit und den fehlenden Kampfgeist der Pflege zu forschen und betonen in diesem Kontext „[d]ie Macht der Gefühle“. Konkret analysieren sie emotionale Dynamiken im Berufsalltag des Pflegepersonals anhand empirischen Materials aus einer Fallstudie und ziehen damit Rückschlüsse auf bestehende „Emotionsregimes und Solidaritätshorizonte in der Pflegekrise“; untersucht wird außerdem, welchen Einfluss Letztere auf das wahrgenommene Statusdefizit des Pflegepersonals haben.

Inwiefern sich die in der Pflege Beschäftigten mit anderen Akteuren solidarisch verbunden fühlen, welche Haltung und moralische Orientierung sie ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen, fassen Albert et al. unter dem Begriff der „Solidaritätshorizonte“. Im Bereich der Pflege seien drei zu unterscheiden: (1) im Arbeitskontext bestehende Nahbeziehungen zu den betreuten Personen, (2) Solidarität zwischen den Beschäftigten, zum einen unter Kolleg:innen innerhalb eines Betriebes, aber auch als betriebsübergreifender Zusammenschluss zur organisierten Interessenvertretung sowie (3) gesellschaftliche Solidarität über unterschiedlich positionierte Gruppen hinweg (S. 365).

(1) Die Beziehung zu den betreuten Personen ist von Empathie gekennzeichnet und beruht auf einer interaktiven Ausgestaltung des Kontakts. Wie in anderen Situationen auch gibt es Menschen, die dankbar für Unterstützung und freundlich zu jenen sind, die sie leisten; demgegenüber stehen jene, die das sie unterstützende Personal wenig wertschätzend herumkommandieren. Dass insbesondere Letztere schnell negative Emotionen bei den Pflegekräften hervorrufen können, liegt auf der Hand. Aber auch der Kontakt zu Ersteren kann emotional belastend sein, etwa wenn die Betreuten den „Besuch“ des Pflegepersonals freudig herbeisehnen, während die Betreuenden aufgrund notorischer systembedingter Zeitknappheit rasch zur nächsten Kundschaft aufbrechen müssen, also gezwungen sind, den Kontakt zielgerichtet abzubrechen und darunter leiden, den bedürftigen Personen nicht angemessen gerecht werden zu können. Das Personal, so Albert et al., sei generell ständig auf der Suche nach der richtigen Balance zwischen Nähe und Distanz. Einerseits sind Empathie und Fürsorge gefragt, aber die eigene „emotionale Betroffenheit darf nicht aufhalten“ (S. 366).

Das Management verkompliziere die Situation noch zusätzlich, indem es den Beschäftigten immer wieder einbläue, nur die vertraglich vereinbarten Leistungen zu verrichten. Sogenannte „Eh-da-Leistungen“, also solche, die das Pflegepersonal kurzerhand spontan erledigt, weil man sowieso gerade vor Ort ist, sind vonseiten der Pflegedienstleitung streng untersagt. Vielmehr würden die Pflegekräfte dazu angehalten, solche Aufgaben durch ergänzende Verträge zu vergüteten Leistungen zu machen – eine emotional herausfordernde Anweisung, gerade wenn man helfen möchte und obendrein um die finanziell dürftige Situation vieler pflegebedürftiger alter Menschen weiß.

Generell, so konstatieren Albert et al., sei der Arbeitsalltag des Pflegepersonals gegenüber den zu Betreuenden von einem ständigen „Oszillieren zwischen Mitfühlen, Aushalten und Abschalten“ (S. 367) sowie einem „Dauerzustand der (mehrdimensionalen) Zerrissenheit“ (S. 369) geprägt. Da die Beschäftigten sich von der „extern und organisational auferlegten notorischen Zeitknappheit“ (ebd.) nicht befreien könnten, kämpften sie sich vielfach allein durch ihren Arbeitsalltag. Vor diesem Hintergrund, insbesondere durch die Managementstrategien der Pflegedienstleitung, seien Möglichkeiten zur Solidarisierung mit den zu betreuenden Personen und ihren Angehörigen begrenzt und bewegten sich „im Kontext strikter Marktorientierung“ (S. 368).

(2) Im empirischen Material von Albert et al. tauchen, bezogen auf den konkreten Betrieb, zwar Aussagen des Managements auf, die eine „Kultur des Miteinanders“ unter den Kolleg:innen propagierten, in Wahrheit jedoch seien Austausch und Kommunikation auf ein geringes Maß begrenzt und im Außendienst gingen ohnehin alle alleine los (S. 367) – von Solidarität untereinander gebe es also kaum eine Spur. Auch darüber hinaus, so offenbarte die vom Forscher:innenteam durchgeführte Gruppendiskussion, sei intern nur wenig kollektives Engagement für politische Anliegen des Sektors vorhanden, insbesondere weil man von einer nur geringen Wirkmächtigkeit etwaiger Aktionen ausgehe und der Zusammenhalt innerhalb der Branche ohnehin nur schwach ausgeprägt sei. Ebenso deutlich wurde die unter den Teilnehmenden herrschende Skepsis bezüglich des Rückhalts für sie und ihr Anliegen in der Politik, sogar während der Corona-Krise. Zwar schwankten die Teilnehmenden „zwischen Resignation und ‚Revolutionswunsch‘ […] – am Ende dominier(t)en indes Tat- und Ratlosigkeit“ (S. 368).

(3) Gesellschaftliche Solidarität über unterschiedliche Gruppen hinweg könne, so Albert et al., auf geteilten moralischen Normen oder der Vorstellung von allgemeiner Verbundenheit beruhen. Ähnlich wie bei der als gering wahrgenommenen Mobilisierungsfähigkeit zur Interessenvertretung innerhalb der Branche gestalte sich dies auch in Bezug auf die gesamte Gesellschaft: Augenfällig tue sich die Gesellschaft schwer damit, „den Unterstützungsaufwand für aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene gebrechliche Menschen als Kollektiv so zu tragen, dass menschenwürdige Pflege in Verbindung mit ‚anständigen‘ Arbeitsbedingungen flächendeckend möglich wird“ (S. 369). Die Unterschiede zu anderen Feldern, etwa der öffentlichen Kinderbetreuung und -erziehung, seien eklatant: Während Investitionen in diese Bereiche immer auch als solche in die Zukunft erachtet würden, stelle sich dies im Kontext der Altenpflege gänzlich anders dar.

So erhellend die Ausführungen von Albert et al. sind, so nüchtern-realistisch fällt ihr Fazit aus: Letzten Endes könnten wohl nur Sozialpolitik und Zivilgesellschaft eine Verbesserung der desaströsen Arbeitssituation des pflegenden Personals bewirken. Eine von den Beschäftigten ausgehende Initiative sei angesichts des als schwach wahrgenommenen gesellschaftlichen Rückhalts sowie der stets präsenten Zerrissenheit im Arbeitsalltag schlichtweg nicht zu erwarten.

Vieles liegt im Bereich der Pflege (nicht nur da!) im Argen und muss neu geregelt und mit den Beteiligten ausgehandelt werden – ein Umstand, der auch die Wissenschaft beschäftigt. So haben sich Sozial- und Gesundheitswissenschaftler:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammengeschlossen und die Initiative Care.Macht.Mehr gegründet, die im Rahmen ihres Manifests schon 2020 diejenigen Weichenstellungen formuliert hat, die erfolgen müssten, um „Care nach Corona neu gestalten“ zu können. Unter dem Titel „Großputz“ stellen Karin Jurczyk und Barbara Thiessen in ihrem Heftbeitrag die Quintessenz des Manifests vor. Neben einer angemessenen Entlohnung professioneller Care-Arbeit und einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen sei an dieser Stelle die Forderung respektive der Wunsch nach der Einführung eines Care Mainstreaming hervorgehoben: Da Sorgearbeit und Pflege essenzielle Bestandteile gesellschaftlichen Zusammenlebens sind, müsse eine fürsorgliche Gesellschaft an diesen „– für die Existenz aller – [die] notwendigen Tätigkeiten und Bedarfe ausgerichtet werden“ (S. 415). Folglich müssten auch die Auswirkungen, die die in allen politischen Ressorts ergriffenen Maßnahmen auf Menschen mit Care-Verantwortung und Care-Tätigkeiten oder pflegebedürftigen Personen haben, „als verpflichtende Dimensionen bei Entscheidungen berücksichtigt werden“ (ebd.).

Ähnlich still wie sich die Pfleger:innen unter den prekären Beschäftigungsbedingungen abmühen, leidet auch so manche Heimbewohner:in unter dem enormen Zeitdruck des Personals, kommen die Bedürfnisse der zu Pflegenden doch immer zu kurz. Das ist besonders dramatisch, wenn sich Angehörige nicht kümmern können. Nicht selten fühlen sich die alten Menschen dann einsam. Weil es sich bei der Einsamkeit um „ein (zu) stilles Thema“ handelt, widmet sich ein Schwerpunkt der neuesten Ausgabe der Forschung und Lehre (10/22) der Frage „[w]ann und wie Menschen Einsamkeit erleben“.

Nach einem Einstieg in das Thema aus psychologischer Perspektive von Susanne Bücker, Manfred E. Beutel und Mareike Ernst (S. 768–771), der insbesondere die methodischen Schwierigkeiten der Einsamkeitsforschung betont, folgt ein Beitrag von Andreas Reckwitz über „[d]ie Chance des Alleinseins und das Risiko der Isolation“. Der Kulturwissenschaftler eröffnet seine Ausführungen mit den Feststellungen, Einsamkeit sei „kein eingebürgerter soziologischer Begriff“[2] und alltagssprachlich negativ besetzt. Reckwitz erachtet die so zeitdiagnostisch wie suggestiv anmutende Frage, ob die Menschen immer einsamer würden, sowie die kulturkritische Vermutung, es handle sich um „ein besonderes Problem der Spätmoderne“, als zu distanzlos, weshalb er den neutraleren Begriff des „Alleinseins“ verwendet. Schließlich könne die Situation, in der ein „Subjekt weitgehend unabhängig von sozialen Interaktionen auf sich selbst konzentriert ist“, sowohl positiv (als autonome Selbstentfaltung) als auch negativ (als unfreiwillige soziale Isolation) wahrgenommen werden. Dies vorausgeschickt stellt Reckwitz die zweifelhafte strukturelle These auf, die spätmoderne westliche Gesellschaft habe seit den 1980er-Jahren einen Wandel im Hinblick auf das Alleinsein erlebt, im Zuge dessen Letzteres immer mehr zum Problem wurde: Zum einen sei es immer weniger legitim, allein zu sein, und zum anderen erscheine es in zunehmendem Maße auch als Risiko für Einsamkeit. Gleichwohl markiere das Alleinsein auch einen Sehnsuchtsort.

Zur Untermauerung seiner These kontrastiert Reckwitz „[b]ei aller nötigen Vorsicht gegenüber historisch-soziologischen Systematiken“ die organisierte Moderne von 1945 bis in die 1980er-Jahre mit der seitdem andauernden Spätmoderne. Erstere habe sich durch „fixe, statische soziale Strukturen“ wie etwa die patriarchale Kleinfamilie ausgezeichnet, ihre Formen des Sozialen hätten eine starke soziale Kontrolle ausgeübt. In der Regel sei hier niemand allein und so auch nicht einsam gewesen. Die formalen Rollenerwartungen dieser Zeit hätten Reckwitz zufolge aber auch Rückzugsorte sowie Spielraum für Idiosynkrasien zugelassen und derart legitimes Alleinsein ermöglicht.

In der Spätmoderne nun seien die Formen des Sozialen „fluider und expansiver“ geworden, die formalen Arrangements etwa der klassischen Kleinfamilie wären weniger ausgeprägt. Auf diese Weise würde auch die Trennlinie zwischen der Sphäre des formalen Rollenhandelns und den Rückzugsräumen verschwimmen. „Da es kein Außen des Sozialen zu geben scheint,“ so schreibt Reckwitz, „wird es schwieriger, auf akzeptierte Weise allein zu sein. Zugleich scheint das Alleinsein riskanter, da die Subjekte in ihrem Selbstwertgefühl von dieser fluiden Sozialität abhängen. Es lauert sehr konkret die Gefahr der Einsamkeit als soziale Exklusion.“

Anhand dreier gesellschaftlicher Bereiche spürt Reckwitz der „neue[n] Expansivität und Fluidität des Sozialen“ nach: Zunächst nimmt er sich die (1) Arbeitswelt vor, die sich heute überwiegend durch das „Ideal des Teamwork und der Projektarbeit“ auszeichne. Wer vermutet, hier sei in bekannter Reckwitz’scher Manier wieder nur die „hochqualifizierte Mittelklasse“ gemeint, liegt richtig; explizit hat er hier das „wachsende[…] Segment der hochqualifizierten Wissensarbeit“ im Blick. Die Art der Tätigkeit – Teamwork und Projektarbeit – ließe es nicht zu, routiniert in formalen Rollen zu agieren, vielmehr erfordere sie flexible, kreative Gruppenarbeit, die die ehemals vorhandenen Möglichkeiten des Rückzugs und des Alleinseins zunehmend verkleinere. Auch im Bereich des (2) Privaten erforderten neue Formen des Sozialen – die „totale Familie“ und „Netzwerke“ – ständige Präsenz und Kontaktpflege, wodurch ebenfalls Rückzugsräume schrumpften. Wer derlei Forderungen nicht nachkomme, falle womöglich aus dem Netz und bleibe allein. Ähnlich sähe es aus, wenn man der Aufmerksamkeitsökonomie des (3) Internet und der sozialen Medien nicht ihren Tribut zollt. Nur wer in Dauerschleife eine attraktive Selbstdarstellung anbiete, erhalte hier Aufmerksamkeit und Anerkennung. Reckwitz schlussfolgert: „Das Internet spannt so einen gigantischen Aufmerksamkeitsmarkt auf, in dem mit dem Rückzug die Einsamkeit des sozialen Todes droht.“

Resümierend konstatiert der Berliner Kultursoziologe, dass die fluideren, expansiveren Formen in den angeführten Bereichen die Möglichkeiten legitimen Alleinseins sowie Rückzugsräume reduzierten. Selbstverständlich bringt er auch seine berühmt-berüchtigte „Gesellschaft der Singularitäten“ ins Spiel, in der Individuen stets dazu angehalten seien, ihre Einzigartigkeit unter Beweis zu stellen und ihre Singularität zu pflegen. Schließlich bildeten „[d]ie Teams, Projekte, totalen Familien, sozialen Netzwerke und Aufmerksamkeitsmärkte […] nun aber exakt den Ort, an dem eine solche Zertifizierung der Singularität stattfindet. Die gesteigerte Individualität hängt also von einer expansiveren Sozialität ab.“ Ziehe man sich daraus zurück, riskiere man, „den Wert der Besonderheit zu verlieren“, sich schlimmstenfalls gar zu exkludieren.

Während Reckwitz wie üblich westliche Gesellschaften im Blick hat, dreht es sich in dem mit „Ich bin einfach allein“ überschriebenen Interview mit Birgitt Röttger-Rössler um den Umgang mit Einsamkeit in den verschiedenen Kulturen der Welt. Statistisch zeige sich in vielen Ländern, auch außerhalb Europas und der USA, dass sich immer mehr Menschen einsam fühlen. Häufig werde dies – wie eben bei Reckwitz gesehen – mit der zunehmenden „Individualisierung und Singularisierung in den Gesellschaften“ in Verbindung gebracht. Die Sozial- und Kulturanthropologin ist diesbezüglich eher skeptisch: „Da würde ich persönlich ein Fragezeichen hinter setzen.“ Schließlich zeigten Erhebungen, dass sich insbesondere alte und junge (Alter 13 bis 19) Menschen sowie sogenannte „displaced persons“ (gemeint sind Migrierte, Geflüchtete oder Vertriebene) häufig einsam fühlten.

Röttger-Rössler unterscheidet scharf zwischen einer subjektiv wahrgenommenen Einsamkeit, die dann empfunden wird, wenn Menschen sich nicht verbunden, nicht dazugehörig fühlen, und „echter sozialer Vereinsamung, die mit soziokulturellen und demografischen Faktoren zusammenhängt“. Ersteres könne auch der Fall sein, obwohl Personen in einem engen familiären und sozialen Netz lebten, etwa wenn ältere Menschen zwar mit jüngeren Familienmitgliedern zusammenwohnten, aber Peers wie alte Weggefährten oder Arbeitskolleginnen bereits verstorben seien.

Während das Gefühl der subjektiven Einsamkeit über alle Kulturen hinweg bekannt sei, variiere der Umgang mit einsamen Menschen, sei er doch „sehr stark von den soziokulturell fundierten Praktiken der mitmenschlichen Fürsorge“ abhängig. Röttger-Rössler berichtet in diesem Kontext von einem Forschungsaufenthalt in Indonesien, in dessen Verlauf sie erkrankte und das Bedürfnis hatte, sich in ihr Bett zurückzuziehen. Doch die in Indonesien vorherrschenden Praktiken des sozialen Zusammenlebens unterscheiden sich maßgeblich von den hiesigen: Neben der Familie seien Nachbarschaften extrem wichtig, selbst in der Megacity Jakarta würden sie etwa in Form ständiger gegenseitiger Unterstützung und regem sozialen Kontakt gepflegt. Auch lasse man alte sowie überhaupt alle vulnerablen Personen, sprich Kranke oder einen Schicksalsschlag Erleidende, nie allein, immer sei jemand anwesend, um zu helfen. So auch im Krankheitsfall Röttger-Rösslers: „[i]ch wurde ständig umsorgt, ständig saßen Mitglieder meiner Gastfamilie bei mir oder lagen mit in meinem Bett. Das empfand ich als anstrengend, aber es war unmöglich, diese Fürsorge zurückzuweisen.“ Ein solch ausuferndes Maß an Fürsorglichkeit mag uns hierzulande übertrieben scheinen, aber – wie die obigen Ausführungen über den Bereich der Pflege- und Care-Arbeit exemplarisch verdeutlichen – es ist dringend an der Zeit, dass Praktiken der Sorge und des Sich-Kümmerns einen größeren gesellschaftlichen Stellenwert bekommen.

  1. Siehe Deutschlandfunk, Warum sich die Situation in der Pflege noch nicht verbessert hat [26.10.2022], 16.6.2022.
  2. Ich greife bei den beiden folgenden Beiträgen auf die frei verfügbaren Onlineversionen zurück, die ohne Seitenzahlen auskommen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

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Stephanie Kappacher

Stephanie Kappacher ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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