Martin Bauer | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im September 2022

Hegels Sentenz, nicht wir besäßen Vernunft, sondern sie uns, klingt befremdlich. Es scheint eine maßlose Überspitzung zu sein. Der Philosoph deklariert einen unbedingten Autoritarismus der Vernunft. Sie wird zu etwas Erhabenem promoviert, das Respekt und Unterwerfung verlangt. Aber wollen wir Sklav:innen einer Macht sein, die uns mit Haut und Haaren in ihren Besitz nimmt? Und wie kommt Hegel dazu, ein Vermögen, das uns Selbsterniedrigung aufnötigt, an anderer Stelle dennoch als die Rose, das erlösende Gewächs, im Kreuz der Gegenwart zu preisen?

Eine typisch heutige Reaktion auf Hegels Position dürfte diejenige sein, die Richard Rorty formuliert hat.[1] Aufklärung ist für ihn eine Bewegung, die sterblichen Wesen jeden Respekt vor nicht-menschlichen Autoritäten austreibt. Deshalb plädiert er für deren Entmachtung. Aufklärung wäre ihm zufolge in einer Kultur vollendet, die Autoritäten ohne menschliches Antlitz den Gehorsam verweigert. Weil es unklug wäre, die Unterscheidung zwischen dem Schönen und Erhabenen aus dem Repertoire unserer Unterscheidungsgewohnheiten zu streichen, immerhin liefert das Verlangen nach erhabenen Objekten den Treibstoff für persönliche Initiativen zur Selbstperfektionierung, sollte man sie nach Rortys Rezeptur mit einer anderen Unterscheidung durchkreuzen, derjenigen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Zutiefst liberal ist seine Idee, eben diese Differenz zu nutzen, um das Erhabene an Ketten zu legen, ihm den Zugang zur Öffentlichkeit zu verwehren, es mithin zu privatisieren. Damit wäre dem alle menschliche Maße sprengenden Erhabenen seine öffentliche Autorität genommen. Aber was wird aus Hegels Rose, erklärten wir den Besitz von Vernunft oder schon das Streben nach ihr, zur Privatangelegenheit? Zu einer Sache, die öffentlich, mithin auch politisch, nicht mehr von Belang sein soll, weil uns aufgeklärten Bürger:innen des 21. Jahrhunderts klar geworden ist, dass Appelle an die öffentliche Autorität eines Unbedingten unzeitgemäß sind. Unbedingtes wirkt toxisch, es passt nicht mehr zu Verständigungsverhältnissen, in denen allenfalls Bedingtes gegen Bedingtes diskursiv ins Feld geführt werden kann.

Freilich legt uns das Kreuz einer Gegenwart, die sich öffentlicher Abstinenz von Unbedingtem verschreibt, eigenartige Umstände auf die Schultern. So könnte über die Vernünftigkeit von etwas, einer Maßnahme, einer Behauptung, eines Programms, zwar noch gestritten werden, jedoch nur noch in der Gestalt privater Meinungsverschiedenheiten. Folglich drängt sich eine Anschlussfrage auf: Kann es unter den Bedingungen des privatisierten, das heißt eines nicht mehr allgemeinen Vernunftgebrauchs, überhaupt noch einen Begriff davon geben, was unter einem Streit und seiner etwaigen Schlichtung zu verstehen ist? Steht Meinung gegen Meinung und würde jede dritte Position, die versuchte, zwischen den Parteien zu vermitteln, wieder nur Meinungsäußerung sein, kann die Rose im Kreuz einer Gegenwart völlig partikularisierter Meinungsvielfalten praktischerweise bloß noch eine Haltung entgrenzter Vergleichgültigung sein. Streit wäre durch wechselseitig praktizierte Indifferenz nicht zu schlichten, allenfalls zu suspendieren. Nur lohnt es sich dann noch, überhaupt eine Meinung zu haben und sie zu vertreten? Soziologisch stellte sich das Problem, ob Gesellschaft – mit Georg Simmel als ein Interaktionsgefüge gehegter Konflikte definiert – denkbar ist, ohne dass die Konfliktparteien „noch über einen allgemein akzeptierten Ausgleichsmechanismus verfügten“.

Die Rückabwicklung des Allgemeinen

Das Zitat im letzten Halbsatz entwende ich einem höchst lesenswerten Aufsatz von Albrecht Koschorke aus der jüngsten Ausgabe des Leviathan. Dessen Grundthese lautet, dass wir faktisch in eben einer solchen Gesellschaft leben. Unter dem Titel „Identität, Vulnerabilität und Ressentiment. Positionskämpfe in den Mittelschichten“ beschreibt der Konstanzer Kultur- und Medienwissenschaftler eine Gegenwart, in der „Identifikation das leitende Prinzip der Vergemeinschaftung bildet“ und in der das durch dieses Prinzip bewirkte „empowerment mit einem Rückzug in die Eigenwelt der jeweiligen Referenzgruppe einhergeht“ (S. 471). Im Resultat, so pointiert Koschorke seine soziologische Zeitdiagnostik, „parzelliert sich der soziale Raum.“ Dort steht am Ende „Selbstermächtigung gegen Selbstermächtigung“ (ebd.).

Auch wenn dem abgeklärten Gegenwartshistoriker Koschorke kostenfreie Dramatisierung ebenso fern liegt wie feuilletonistische Schnappatmung, schreibt er der von ihm konstatierten Parzellierung des sozialen Raums – andere zeitgenössische Stimmen würden von Spaltungen oder Polarisierungen sprechen – epochalen Rang zu: „Epochengeschichtlich betrachtet scheint derzeit rückabgewickelt zu werden, was im 18. Jahrhundert als Errungenschaft galt: nämlich die Aufrichtung eines unpersönlichen, über dem Parteienkampf, über jeder Form von Subjektivierung stehenden und diese allererst bedingenden Allgemeinen, ob es nun ‚Tugend‘, ‚Recht‘ oder ‚Vernunft‘ genannt wurde“ (S. 476).

Selbstverständlich distanziert sich Koschorke nicht metakritisch, das heißt in der Tonlage kulturpessimistischer Reaktionäre, von der poststrukturalistischen, postkolonialen und feministischen Kritik dieses Allgemeinen als eines in Wahrheit seinerseits Partikularen. Vielmehr zeigt er sich einverstanden damit, dass „nun auch whiteness als Farbe und nicht als Null-Signifikant kenntlich ist“ (S. 477). Allerdings hindert ihn weder sein Einverständnis mit einer Herrschaftskritik, die als Sprachkritik auftritt, noch seine Parteinahme für sozialkonstruktivistisch begründete Dekonstruktionen vermeintlich natürlicher Kategorien wie ‚Gender‘, ‚Rasse‘ oder ‚Nation‘ daran, ein gravierendes „Folgeproblem“ zu identifizieren. Es tut sich auf, wenn sich jeder oder jede blamiert, die sich zur Sachwalterin eines Allgemeinen aufschwingt, weil dieses nicht mehr als generalisierbare Bündelung von Interessen zu reklamieren ist. Angesichts dieser Krise des für die Sphäre des Politischen grundlegenden Repräsentationsprinzips fragt Koschorke: „Wie lässt sich eine symbolische Ordnung aufrichten und mit bindender Kraft ausstatten, wenn alle Positionen gleichermaßen partikularisiert sind?“ (S. 477)

Was diese Krise herbeigeführt hat, wie es also zu den „Positionskämpfen“ kommen konnte, die der Untertitel des Aufsatzes „in den Mittelschichten“ lokalisiert, zeichnet Koschorke im Rückblick auf eine Erfolgsgeschichte nach, die ihm selbst erstaunlich erscheint. Gemeint ist der Aufstieg eines Denkens der Differenz, das anfänglich als eine der Unverständlichkeit geziehene Provokation aus Paris abgewehrt wurde, um binnen dreier Jahrzehnte schließlich den Wortschatz bereitzustellen, „in dem heute die großen Meinungskämpfe ausgetragen werden“ (S. 469). Kraft einer „dialektischen Volte“ habe sich „das Vokabular von Differenz und Alterität“ insofern in sein Gegenteil verkehrt, als seine Nutzer:innen aus ihm „eine Vielzahl neuer, partikularer Identitäten“ herausgetrieben haben, die dazu tendieren, „sich zu behaupteten Wesenheiten zu verfestigen und um sich Barrieren zu errichten, die argwöhnisch verteidigt werden“ (S. 470 f.). Koschorke diagnostiziert eine „Wende zur Ausprägung von immer entschiedeneren, oft kämpferischen Gruppenidentitäten“, die – in Tateinheit mit einer Herabstufung von Wahrheit zu einem bloßem „Effekt von Definitionsmacht“ – „dem Inhalt wie der Form nach tief in laufende gesellschaftliche Auseinandersetzungen“ hineinwirken (S. 471).

Soziales, kulturell codiert

Wenn, wovon Koschorke nach diesen Befunden ausgehen darf, „soziale Spannungslagen verstärkt eine kulturelle Codierung erfahren“ (S. 473), dann trägt die Dechiffrierung derartiger Codierungen, die zur spezifischen Expertise der Kulturwissenschaften gehört, zweifelsohne auch zur soziologischen Gesellschaftsanalyse bei. Wohlgemerkt besteht dieser Beitrag nicht darin, vormals dem Überbau zugerechnete Phänomene ihren sozialen Substraten, also dem, was einmal Basis hieß, in womöglich ideologiekritischer Absicht zuzuordnen. Vielmehr zeigt sich im Lichte von Koschorkes Phänomenologie des parzellierten Sozialraumes, dass gewisse Modalitäten des kommunikativen Austrags von Konflikten, die sich dem Rubrum ‚Identitätspolitik‘ zuordnen ließen, ihrer Natur nach polemogen sind. Die kulturellen Codierungen bilden nicht andernorts zu verortende Konfliktkonstellationen ab, spiegeln sie nicht passiv wider, sondern lösen ihrerseits Streit aus, operieren als wirkmächtige Konfliktfaktoren. Kultur ist kein neutrales Medium, in dem sich außer- oder vorkulturelle Konflikte sowohl manifestieren als auch einhegen lassen, sondern stellt semantische Ressourcen bereit, die als Brandbeschleuniger operieren. Hatte die herrschaftskritische Sensibilisierung für die devianten Potenziale von Differenz zunächst, wie Koschorke im historischen Rückblick rekapituliert, der „Selbstartikulation von Minderheiten und bis dahin randständigen Gruppen neue Ausdrucksmittel verschafft, aktivistischem Engagement Auftrieb gegeben und eine breite Bewegung der social justice in Gang gesetzt“, so haben sich ihre Intentionen verkehrt. Mittlerweile tragen sie dazu bei, „herkömmlichen Verfahren des Interessenausgleichs den Kredit zu entziehen, Ressentiments zu befeuern, selbst kleine Differenzen als eine Frage letzter Integrität und dadurch tendenziell als einen Konflikt ums Ganze erscheinen zu lassen“ (S. 473).

Den Universalismus ironisieren

Man reibt sich angesichts dieser Auskünfte verwundert die Augen, denn Koschorkes Diagnose konvergiert ihrem Gehalt nach mit Befunden, die ein in Methode und Stil so völlig anders argumentierender Sozialphilosoph wie Jürgen Habermas in seinen jüngsten Einlassungen zu einem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu Protokoll gegeben hatte. Natürlich ist Koschorke nicht mit dem befasst, was Habermas umtreibt. Wahrscheinlich würde er ein normativ aufgeladenes Verständnis von Deliberation, die man in Starnberg als die fluide Trägersubstanz repräsentativer Demokratie gefährdet sieht und retten möchte, für ein Bauteil jenes Humanismus halten, der seiner gut informierten Vermutung zufolge gerade von der Bildfläche wie aus dem Betriebssystem der globalisierten Weltgesellschaft verschwindet – die Konstanzer Fassung von ‚Zeitenwende‘. Immerhin spielt Koschorke mit einer gewissen Kaltblütigkeit die Option durch, „die Denkfigur des Endes auf die Epoche des europäischen Humanismus“ insgesamt zu beziehen (S. 481.) Von daher überbietet seine Krisensymptomatik den Pessimismus der Habermas’schen Bestandsaufnahme bei weitem, was im Klartext heißt, dass auch Koschorke eine irreversible Erosion der Möglichkeitsbedingungen intra- und transgesellschaftlicher Konfliktregulierung konstatiert.

So klingt der luzide und wagemutige Aufsatz mit dem Versuch aus, Wünschbarkeiten zu benennen. Indem Koschorke auf seine Frage nach einer symbolischen Ordnung zurückkommt, die im unbegrenzten Ozean der Partikularitäten gleichwohl Verbindlichkeit restituieren und damit demokratische Politiken der Repräsentation wieder ermöglichen könnte, plädiert er dafür, sich „nach Modellen eines selbstreflexiven Für-Andere-Einstehens“ umzuschauen (S. 483). Sie sollten einerseits „die Relativität der eigenen begrenzten Position“ reflektieren, also den jeweiligen Ethnozentrismus einer Stellungnahme dadurch transzendieren, dass sie ihn „mitbedenken“, andererseits aber „den Anspruch einer normativen Geltung über den eigenen Gesichtskreis hinaus“ nicht aufgeben (S. 483). Redlicherweise räumt Koschorke im selben Atemzug ein, es handle sich bei dem von ihm evozierten Modell eines konstitutiv dezentrierten Für-Andere-Einstehens „rein logisch betrachtet“ um die „Quadratur des Kreises“. Recht hat er. Und gerne würde man ihm das Addendum abnehmen, in der „kommunikativen Praxis von Gesellschaften“ seien „Inkohärenzen dieser Art unumgänglich“, ja „nicht selten produktiv“ (ebd.). Ob diese letzte Beobachtung zutrifft, ist jedoch eine offene empirische Frage. Bei Lichte besehen macht Koschorke den aus logischer Not geborenen Vorschlag, den Universalismus gewissermaßen performativ zu ironisieren. Hegel würde sagen, sich negativ auf ihn zu beziehen, ohne ihn zu negieren, was derjenige paradoxe Modus von Relationierung wäre, den seine Phänomenologie des Geistes nicht zufällig als „unglückliches Bewusstsein“ durchdenkt.

Ergänzt wird diese Wünschbarkeit durch eine zweite, man könnte sie ‚sozialontologisch‘ nennen, denn Koschorke lädt dazu ein, „bestehende Ansätze zu einer Theorie und Ethik der Ähnlichkeit auszubauen“ (S. 483). Was ihm vorschwebt, dürfte eine ontologische Mitte in der Bipolarität von Identität und Differenz sein, entkommt Ähnliches doch der (onto-)logischen Disjunktion, wonach sich etwas entweder von etwas anderem unterscheidet oder mit ihm identisch ist. Wäre es ähnlich, ist es weder identisch mit noch different vom anderen. Ergo hofft Koschorke, aus der „Gewissheit des Ähnlich-Seins auch zwischen den unterschiedlichsten Menschen“ könne eine „Haltung der indifference to difference“ erwachsen, das heißt einer Spielart von Vergleichgültigung, der er zutraut, „zu einem vertieften Gattungsbewußtsein“ zu verhelfen – so wie es schon globale Herausforderungen wie der Klimawandel oder der Ökozid tun (S. 483). Hier fragt sich, worin Koschorke den signifikanten Unterschied sehen würde, zwischen einer Haltung, in der sich Menschen als ähnliche und derjenigen, in der sie sich als gleiche ansehen. Auch der Egalitarismus vertritt einen normativen Standard, der aus der Entscheidung lebt, handgreifliche Differenzen dadurch zu neutralisieren, dass man ihnen mit Indifferenz begegnet.

Angstkommunikation

In einem bis dato unpublizierten Text, der zu der Sammlung kürzerer Notate von Hans Blumenberg gehört, die Rüdiger Zill jetzt neu herausgegeben hat,[2] stellt sich der Münsteraner Philosoph die Frage: „Darf man zu einem anderen sagen Ich habe Angst?“ Seine Antwort fällt mit einer für Blumenberg untypischen Entschiedenheit aus: „Dennoch meine ich nicht nur, sondern bestehe darauf, daß dies zu sagen unzulässig, ja unsittlich ist.

Der Grund: Es gibt auf dieses Eingeständnis keine Erwiderung, keine Einstellung, keine Chance des Trostes, der Hilfe. Was es erzeugt, ist die absolute Verlegenheit.“ (S. 39) Wenn Blumenbergs Argument lautet, eine solches Bekenntnis sei „unsittlich“, wird er sich auf eine Sittlichkeit berufen, man darf sie die bürgerliche rufen, die es für ein Gebot zivilisierten Umgangs hält, Bekenntnisse zu stornieren, um niemanden im gesellschaftlichen Verkehr in Verlegenheit zu bringen – schon gar nicht in eine absolute. Absolutheit, so Blumenbergs Grundimpuls in nahezu all seinen Schriften, muss immer gebrochen, auf Distanz gebracht, vermittelt werden. Dahinter steht eine philosophische Anthropologie, die für Blumenberg auf der seiner Überzeugung nach empirischen Voraussetzung fußt, menschliches Leben könne sich überhaupt nur entfalten kraft der Entmachtung von Absolutismen welcher Art auch immer. Das gilt sogar und erst recht für den Absolutismus der Wirklichkeit, also für die Art notorischer Widerstandserfahrung, die Freud begrifflich würdigt, indem er sie als „Realitätsprinzip“ adressiert, das in der Psychoanalyse – als teile sie Blumenbergs Intuition – triebtheoretisch durch einen Antagonisten konterkariert wird, nämlich das „Lustprinzip“. Menschliches Leben vollzieht sich auch Freud zufolge in einer Dynamik, die jedes der beiden Prinzipien an seiner Verabsolutierung hindert – bis der Tod sein letztes, verabsolutierendes Wort spricht.

Leider ist der zitierte Text aus Blumenbergs Nachlass nicht datiert. Zu vermuten wäre, dass die Überlegungen zur Unsittlichkeit von Angstkonfessionen während einer Zeit zu Papier gebracht wurden, in der Kontroversen um den Nato-Doppelbeschluss und das immer schärfer werdende ökologische Bewusstsein für die Grenzen des Wachstums eine Angstkommunikation lizenzierten, die absoluten Verlegenheiten im Sinne Blumenbergs ein Grundrecht auf Zugang zur Öffentlichkeit verschaffte.

Wie es um die post-bürgerliche Angstkommunikation in ihrer akuten Gestalt steht, beschäftigt Jan Philipp Reemtsma in seinem Aufsatz „,Angst genügt heute, um sich das Gefühl zu verschaffen, up to date zu sein‘“. Der Text ist in der Juli-Ausgabe der Psyche erschienen, was für die glückliche Koinzidenz sorgt, ein Gespräch zwischen Reemtsma und Koschorke im Akt der Rezeption ihrer Beiträge zu imaginieren. Reemtsmas Überschrift ist als Zitat markiert. Es verweist auf einen Satz von Günther Anders, der mit Fug und Recht als theoretischer Avantgardist der jüngeren, hierzulande in den 1970er-Jahren einsetzenden Apokalyptik tituliert werden darf. Ungekürzt lautet der Satz: „Angst genügt heute, um sich das Gefühl zu verschaffen, up to date zu sein und, wo auch immer, dazu zugehören.“[3] Den Wink, Angst als eine zeitgenössische Markierung von Zugehörigkeit und mithin als Affekt ernst zu nehmen, der selektive Vergemeinschaftung ermöglicht, weiß Reemtsma aufzugreifen. Er thematisiert, anders gesagt, Identitätspolitiken, deren Prinzip die Identifikation mit einer subjektiven Befindlichkeit ist, die den Vorzug zu haben scheint, sowohl höchst privat als auch anschlussfähig für öffentliche Kommunikation zu sein. Erwartbar kommt es zu einem Dilemma, das Reemtsma sorgfältig ausleuchtet: „Wenn die selbstgesetzte Identität als permanent bedroht (angefeindete, missachtete) angesehen wird, muss die ganze Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung durch die anderen gerichtet sein. Auf diese Weise wird die Vorstellung von selbstgesetzter Identität zum Gegenteil seiner selbst: Ich bin nur noch das, was die anderen nicht aus mir machen sollen.“ (S. 557)

Kultivierte Paradoxie

Wie aber lässt sich die Problematik bewirtschaften, einer bedrohten, darin von Angst heimgesuchten Identität Dauer zu verschaffen? Offenbar allein durch die unausgesetzte Abwehr von Diskriminierungen, deren Fortbestand nicht bloß unabdingbar, sondern geradezu wünschenswert ist, weil diesen Diskriminierungen (und nur ihnen) eben die Eigenschaften entnommen werden können, deren Zurückweisung zur Praxis eigener Identitätssicherung wird. Eine solche Praxis, es läge nahe, sie eingedenk ihrer unüberwindbaren Reaktivität[4] ressentimental zu nennen, klassifiziert Reemtsma als „Lebensform der Substanzlosigkeit“. Und er fügt hinzu, „ihre Rollenform findet sie im Habitus des Opfers“ (S. 557). Was diesen Habitus als Sozialform, die er ja darstellt, kennzeichnet, ist ein performativer Widerspruch: einerseits wird mit einer Identität, die als „selbstgesetzt“ gilt, Freiheit reklamiert, andererseits manifestiert sich die soziale Wirklichkeit der beanspruchten Freiheit in kommunikativen Vollzügen, die Bestimmtheit durch andere abwehren. Also ist eine derartige Autonomie durch eine irreduzible Heteronomie kontaminiert, die sie, einem Schatten gleich, nicht mehr loswird. Aus diesem Grund beobachtet Reemtsma in den auch bei ihm den Ton angebenden Mittelschichten „eine kultivierte Paradoxie“, in der sich „die Illusion bedingungsloser Freiheit und die Illusion fugenlosen Determinismus“ (S. 559) ineinander verschränken, obwohl sie sich doch widersprechen. Mit Koschorke könnte man meinen, dass es sich um eine für die kommunikative Praxis von Gesellschaften „unumgängliche“ Inkohärenz handelt, die nach Reemtsmas Analyse bemerkenswerter Weise am Quellpunkt gegenwärtiger Identitätspolitiken angesiedelt ist. Also dort „produktiv“ wird, um Koschorke noch einmal das Wort zu erteilen.

Produktiv ist sie für Reemtsmas Wahrnehmung aber noch in einem anderen Kontext, dem einer ihm fragwürdigen, purifikationssüchtigen Apokalyptik: „Man fühlt sich wohl, wenn man von Katastrophen redet. Man tritt in den identitätsstiftenden Status des künftigen Opfers ein und ist es schon mal gleich und außerdem verspricht die Katastrophe das Ende der endlosen Komplikationen, die der individuelle und endlos debattierte Opferstatus eben doch nicht ganz beseitigen kann. Die große Welle wäscht uns rein.“ (S. 565) Noch ein Absolutismus letzter Tage, der gleich alle Verlegenheiten annulliert.

Autofiktionen

Koschorke führt, wir hatten es betont, vor Augen, was eine konflikttheoretisch interessierte Soziologie zu reflektieren hätte, wenn sich soziale Spannungen in spezifisch kulturellen Codierungen artikulieren. Schon deshalb verdient die jüngste Ausgabe der Zeitschrift WestEnd besondere Aufmerksamkeit, widmet die Zeitschrift des Frankfurter Instituts für Sozialforschung ihre Rubrik „Stichwort“ doch dem Thema „Autofiktion und die Poetik der Singularisierung“. Johannes Völz hat den Themenschwerpunkt herausgegeben, sachkundig eingeleitet und mit einem eigenen Beitrag über „Affektlagen der Singularisierung. Tao Lin am Rande der Erschöpfung“ angereichert. Eine Würdigung der außerordentlich anregenden Kommentierungen, die das sich immer größerer Beliebtheit erfreuende Genre autofiktionaler Romane dort erfährt, würde den Rahmen dieser schon zu langen Zeitschriftenschau sprengen. Nur ein Bogen sei gespannt: Wenn, so hatte Koschorke im Kontext seiner Rekonstruktion der Politik wie Ästhetik gleichermaßen betreffenden Krise der Repräsentation formuliert, „jede und jeder einzig sich selbst spielen beziehungsweise erzählen darf oder wenn die Darstellung eines anderen auf die darstellende Person zurückfällt, dann kann Kunst in letzter Konsequenz nur autodokumentarisch verfahren – und das heißt vielfach in ihrer Selbstzentriertheit narzisstisch – ohne sich noch auf das kostbare Gut einer Freiheit der Fiktion berufen zu dürfen“ (S. 476). Die Autor:innen, die im aktuellen Heft der WestEnd das Wort ergreifen, würden Koschorkes Narzissmusverdacht zurückweisen oder zumindest moderieren, weil Autofiktion nach ihrem weitgehend einhelligen Urteil in der Regel über das Spiegelstadium narzisstischer Selbstverkennungen in dem Maße hinausweist, wie sie eher verzweifelte Weisen des Selbstsein-Wollens dokumentiert, also negative Selbstbeziehungen, die Reemtsma thematisiert. Doch untermauert zumindest Johannes Völz’ Interpretation der Literatur von Tao Lin die generelle These, die Koschorke aufstellt: Nach seinem Urteil nutzt Tao Lin die „etablierten Mittel des Romans, um zu zeigen, dass sich die Textur der Fiktion aus einer extratextuellen Realität speist – die allerdings selbst immer schon medial ist, konkreter: erwachsen aus der Kommunikation im Netz“ (S. 103). Verhält sich autodokumentarische Literatur sozusagen parasitär zur Kommunikation im Netz, verdampft die Freiheit der Fiktion in Romanformen, die das Reale in der Digitalität verankern, was besagt, dass eine Demarkationslinie zwischen Realität und Medialität in ihnen nicht mehr existiert. Schöne neue Welt.

Form, als Inhalt gelesen

Noch ein letzte Fundsache bedarf einer notgedrungen knappen, aber desto dringlicheren Empfehlung: In der herangezogenen Ausgabe von WestEnd geht Francey Russell der zunächst vielleicht abseitig wirkenden Frage nach, wie eine Theorie der Seele beschaffen sein müsste, die von dieser Seele, das heißt dem Objekt der Theorie, anerkannt werden könnte. Ihr Aufsatz „Die Seele abbilden. Über Freuds Methodologie und Metapsychologie“ expliziert, wie und warum Freuds Psychoanalyse diese „Anerkennungsforderung“ erfüllt. Russell zeigt im Detail, dass Freud die Seele in einer Weise thematisiert, die kongruent mit den Modalitäten ihrer Selbstthematisierung ist. Dieser Essay besticht nicht nur durch die Eleganz und Stringenz seiner Darstellung, sondern auch durch die Originalität seines Zugriffs. Texte zu Formfragen theoretischer Artikulation besitzen schon als solche Seltenheitswert. Russells Beitrag zu dieser exquisiten Textsorte bringt es zudem fertig, Bedingungen namhaft zu machen, die erfüllt sein müssten, soll der Gegenstand einer Theorie durch die Spezifizität der gewählten Theorieform buchstäblich zum Sprechen gebracht werden. Folglich kann ihre Exegese selbst dann mit größtem Gewinn nachvollzogen werden, wenn man die Existenz von so etwas wie Seele bestreitet. Es reicht, „Seele“ durch „Gesellschaft“ zu ersetzen.

  1. Etwa wenn er schreibt: „One way of putting the contrast between an incompletely and a completely secularized culture is to say that the former retains a sense of sublime. Complete secularization would mean general agreement on the sufficiency of the beautiful. The sublime is unrepresentable, undescribable, ineffable. By contrast, a merely beautiful object or state of affairs unifies a manifold in an especially satisfying way. The beautiful harmonizes finite things with other finite things. The sublime escapes finitude, and therefore both unity and pluralitiy.” Richard Rorty, Pragmatism as Anti-Authoritarianism, edited by Eduardo Mendieta, Cambridge, MA / London 2021, S. 1.
  2. Hans Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis. Lebensthemen, neu herausgegeben von Rüdiger Zill, Berlin 2022.
  3. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 2002, S. 261.
  4. Auf diese Reaktivität kommt auch Koschorke zu sprechen: „Kurz gesagt ist diejenige Sprecherposition stark, die sich aus einer glaubhaften Opferperspektive ableitet. Man hat den Eindruck, dass sich in diesem Diskurs alle Teile der Gesellschaft wechselseitig in die Defensive versetzen.“ (S. 475) Bemerkenswert ist das allenthalben zu beobachtende Manöver, die Stärke einer Sprecherposition gerade aus ihrer erklärten Defensivität zu gewinnen. Ganz auf der Linie von Reemtsmas Sondierungen heißt es weiter: „Aus einer defensiven Selbstwahrnehmung, die sich darauf gründet, verletzlich, marginalisiert und in ihren legitimen Ansprüchen zurückgewiesen zu sein, leitet sich so ein offensiver Partikularismus ab, der vor allem auf die Verletzung von Identitätsschranken mit gesteigerter Empfindlichkeit reagiert.“ (S. 475 f.)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Affekte / Emotionen Gesellschaft Kommunikation Lebensformen Öffentlichkeit Psychologie / Psychoanalyse Rassismus / Diskriminierung

Martin Bauer

Martin Bauer, M.A., ist Philosoph, Literatur- und Religionswissenschaftler. Er war bis 2022 geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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