Jens Bisky | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im September 2023

Nicht allzu oft wissen Soziologinnen und Soziologen hierzulande Interessantes über Osteuropa zu sagen. Wer etwas über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Polen, der Ukraine, Georgien, im Baltikum oder in Armenien erfahren möchte, wird auf der Suche nach Expertise nicht zuerst an die Türen soziologischer Institute klopfen. Die unzureichende Berücksichtigung der osteuropäischen Staaten durch die deutsche Sozialwissenschaft ist besonders augenfällig, seit die russische Armee im Februar 2022 die gesamte Ukraine angegriffen und damit in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat. Die Auskunftsfähigkeit der hiesigen Soziologie in allen wichtigen Fragen zu dieser großen Region war indes auch vorher schon gering, und das, obwohl diese Wirtschaft, Kultur und Politik der Bundesrepublik entscheidend geprägt hat und prägt. Die wichtigsten deutschsprachigen soziologischen Fachzeitschriften haben zwischen 2018 und 2021 lediglich zwei Artikel veröffentlicht, die sich unmittelbar dem Thema Osteuropa widmen. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kam die an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder lehrende Kulturwissenschaftlerin Susann Worschech, als sie die betreffenden Jahrgänge der Zeitschrift für Soziologie, der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie sowie des Berliner Journals für Soziologie auf die Stichworte „Osteuropa“, „Ukraine“, „Russland“ und „Putin“ hin durchsuchte. Der Befund mag nicht überraschen, bedenkt man die Geschichte der nach dem Zweiten Weltkrieg über viele Jahre hinweg geteilten deutschen Soziologie und die umfangreichen Sprachkenntnisse, die zur Forschung in und über Osteuropa erforderlich sind. Russisch allein genügt nicht. Als akademische Disziplin wird Osteuropaforschung in der Bundesrepublik vor allem an geschichtswissenschaftlichen Lehrstühlen sowie an eigenen Instituten wie dem Deutschen Polen-Institut in Darmstadt oder dem in Marburg ansässigen Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung betrieben. Die Zeitschrift Osteuropa, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, informiert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie interessierte Laien seit Jahren gründlich. Einiges an Expertise ist damit vorhanden. Worin also besteht das Problem der soziologischen Ignoranz gegenüber Osteuropa? Folgt man Worschech, dann bringt das soziologische Defizit die öffentliche wie auch die fachwissenschaftliche Debatte um wichtige Einsichten und sorgt dafür, dass beide verkürzt geführt werden und „Verluste potenzieller Erkenntnisse“ (S. 304) erleiden. So jedenfalls lautet das Fazit ihrer Überlegungen, mit denen sie das Symposion „Soziologische Perspektiven zu Osteuropa“ in Heft 3 der Zeitschrift Soziologie einleitet, das in Heft 4 fortgesetzt werden soll.

Worschech, die insbesondere zur Politischen Soziologie Ostmittel- und Osteuropas forscht, geht es nicht in erster Linie um soziologische Kommentare zum Tagesgeschehen. Sie fragt vielmehr, warum „die sich doch als genuine Krisenwissenschaft verstehende Soziologie den Blick nach Osten und damit auf die Krisen der Transformation, die ganz Europa seit Jahrzehnten prägen, so hartnäckig verweigert“ (S. 303). Und mehr noch: Sie will wissen, welche Leerstellen und blinden Flecken diese Verweigerung zeitigt. Dass es diese Leerstellen gibt, belegen die viel gelesenen, von Worschech nicht erwähnten soziologischen Gegenwartsdiagnosen, in denen die vielfältigen Gesellschaften jenseits der Oder höchstens am Rande vorkommen, die Erfahrungen des europäischen Umbruchsjahrs 1989 kaum eine Rolle spielen. In dieser Hinsicht bleiben die meisten der jüngeren Zeitdiagnosen, was auch immer ihre sonstigen Verdienste sein mögen, „Selbstgespräche auf Bundesebene“ (Friedrich Sieburg).

Die Soziologie, so sie sich denn weiter als Krisenwissenschaft verstehen und zukünftig auch die Entwicklungen Europas mit Sachverstand begleiten will, steht Worschech zufolge vor zwei Aufgaben: Erforderlich seien eine „Dekolonialisierung auch des soziologischen Blicks“ (S. 305) und eine „stärkere theoretische Orientierung […] an Ambivalenz, Gleichzeitigkeit und Konflikt“ (S. 306). Gute Gründe sprächen zudem dafür, sich endlich vom Begriff „postsowjetisch“ und der damit verbundenen Kennzeichnung der osteuropäischen Gesellschaften zu verabschieden. So verfestige diese Raumkonstruktion nicht nur eine binäre Unterscheidung in das Andere und das Nicht-Andere, sondern entfalte zudem eine „vereinheitlichende Wirkung“, die „der empirischen Realität weder in Gegenwart noch in Geschichte gerecht“ werde (S. 305).

Der „postsowjetische Raum“ sei verstanden worden als „Raum der Imitation, der aufholenden Modernisierung, der politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konvergenz, die erst noch zu leisten sei“ (S. 303). Die Gesellschaften Osteuropas, so die mit dem Konzept verbundene Deutung, seien noch nicht wie die des Westens, befänden sich aber auf dem mehr oder weniger unvermeidlichen Weg dorthin. Westeuropa sei über all die Jahre hinweg immer der – mal implizit, mal explizit – vorausgesetzte Referenzrahmen gewesen, während Osteuropa, so eine treffende Formulierung Worschechs, „in einer schier ewigen Pfadabhängigkeit“ (S. 304) gefangen geblieben sei: immer „post-sozialistisch“, stets auf dem Weg der Angleichung.

Worschechs kritische Bestandsaufnahme konstatiert ein lange vernachlässigtes analytisches Defizit. Tatsächlich haben die Etiketten der „postsowjetischen“ beziehungsweise der „post-sozialistischen“ Gesellschaft nie hingereicht, die Widersprüchlichkeiten der realen Entwicklungen zu erfassen. Um wenigstens die Rückwirkungen der Transformationen im Osten auf die Wirtschaften und Gesellschaften des Westens zu erfassen, sprach der Historiker Philipp Ther 2014 von „Ko-Transformation“. [1] 2019 veröffentlichten die Politikwissenschaftler Ivan Krastev und Stephen Holmes unter dem Titel Das Licht, das erlosch eine „Abrechnung“ mit den enttäuschten Hoffnungen der Zeit nach 1989. Mit grobem Pinsel skizzierten sie ein Panorama der zurückliegenden dreißig Jahre,[2] dem zufolge die Länder Osteuropas zunächst die liberale Ordnung des Westens nachgeahmt, sich dann aber von diesem Vorbild abgewandt hätten. Aber auch dieses Buch, das die Abkehr von der lange Zeit verfolgten Strategie der Imitation schildert, folgt weitgehend der Logik von Zentrum und Peripherie, erfasst nur selten die innere Widersprüchlichkeit in den sehr unterschiedlichen osteuropäischen Gesellschaften.

Der 24. Februar 2022, der Tag, an dem der russische Großangriff auf die Ukraine begann, war daher auch ein Tag der blamierten Expert:innen. Trotz des Überfalls auf die Krim und die Ostukraine im Jahr 2014 hatten nur wenige Beobachter:innen mit dem Versuch einer Vollinvasion gerechnet und noch weniger die Erfolge der ukrainischen Verteidigung für möglich gehalten. In dem bereits erwähnten Symposion der Soziologie spricht die ukrainische Soziologin und Philosophin Valeria Korablyova in diesem Zusammenhang von einem epistemischen Schock: „the inconsistency between reality on the ground and expert predictions became increasingly obvious and incontrovertible” (S. 309). Man mag sich an den 11. September 2001 oder an die Pleite von Lehman Brothers am 15. September 2008 erinnern. Auch an diesen Tagen erschütterte ein im Rückblick nicht unwahrscheinliches, im Vorfeld jedoch kaum für möglich gehaltenes Ereignis die üblichen Normalitätserwartungen und Deutungsroutinen. Dass eine Reihe von Expert:innen und Teile der Öffentlichkeit bis heute viel Energie darauf verwenden, die mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine verbundene Zäsur zu leugnen, um ihre lieb gewonnenen Weltbilder zu erhalten, kann nicht überraschen. Der Historiker Karl Schlögel konstatierte schon 2014 ein zähes Festhalten an einem Post-89-Harmonismus.

Intellektuell interessanter und allemal produktiver ist es, die eigene Aufmerksamkeit jenen zuzuwenden, die sich von unerhörten Ereignissen noch provozieren, aus der Fassung bringen lassen. „Why is Ukraine important?“, fragt Korablyova in ihrem Essay, und wartet mit zwei Antworten auf. Zum einen, so die erste Antwort, weil dort etwas geschieht, das den friedlichen Lebenswelten der EU-Bürger zu nah ist, um es ignorieren zu können, für das aber noch keine überzeugenden Erklärungen und Interpretationen existieren. Um diese geben zu können, müssten „colonial and Cold War legacies in European social sciences“ (S. 309) erkannt und überwunden werden. Dieses Erbe präge die Strukturen der Wissensproduktion ebenso wie kulturelle Hierarchien und die Formen der akademischen Arbeitsteilung. Die Ukraine gelte in den eurozentrischen Sozialwissenschaften als „epistemologically ,secondary‘“ (S. 309), als geopolitisch weniger wichtig. Meist sei sie durch die russische Brille betrachtet worden. Korablyova berichtet von Gesprächen, in denen ihr seit 2014 wiederholt gesagt worden sei: „Sorry, we sympathise, but Ukraine is not important.“ Auf ihre Gegenfrage, ob Russland denn wichtig sei, habe sie mehrfach gehört: „Russia is somewhat important. It raises in importance once it makes troubles.“ (S. 312) Betrachte man die Ukraine nicht länger aus der russischen Perspektive, verabschiede man sich von der aus dem Kalten Krieg überkommenen „three world epistemology“, und dekonstruiere man die Unterscheidung in entwickelte und sich entwickelnde Länder, dann, so Korablyova, ließen sich Erkenntnisse zu „popular agency, grassroots mobilisation, and extra-institutional democratisation“ (S. 309) gewinnen. Seit dem Euro-Maidan sei die Ukraine nicht nur „a unique laboratory of hybridity and diversity”, sondern darüber hinaus auch „a functional example of adhocracy and extra-institutional democracy” (S. 318). Was das im Einzelnen heißt, welche Konflikte damit verbunden sind und wie sich die Gesellschaft im Krieg verändert, wäre Stoff für eine ganze Reihe an Studien. Der Essay wirbt für eine Doppelbewegung: „grounding the European and universalising the local“ (S. 317). Für die akademische Arbeitsteilung würde dies bedeuten, das Verhältnis von Regionalstudien und generalisierenden Disziplinen, etwa Philosophie und Soziologie, neu zu organisieren.

„Die Gegenwart des östlichen Europa“ skizziert im Rahmen des Symposions Andreas Langenohl, der eine Soziologie-Professur mit Osteuropa-Bezug an der Justus-Liebig-Universität Gießen innehat. Er blickt zurück auf die Hochzeit der Transformationsforschung, deren Reiz darin bestanden habe, „über diese Gesellschaften als Ganze sprechen zu können“, wobei jedoch Transformation selten „als Prozess mit offenem Ende“ gedacht worden sei (S. 320). Das Ergebnis der zu beobachtenden und zu erklärenden Entwicklungen habe daher in gewisser Weise immer schon festgestanden. Am Beispiel Polens skizziert Langenohl eine „Gegenwartsdiagnose jenseits nationaler Container und jenseits der Europäischen Union“ (S. 322). Er nennt mehrere aufschlussreiche Beispiele für „transgesellschaftliche Prozesse“ (ebd.), etwa die in Deutschland arbeitenden polnischen Pflegerinnen, von denen in der Bundesrepublik „ständige Verfügbarkeit und Deutschkenntnisse“ erwartet würden, während ihnen von polnischer Seite vorgeworfen werde, „die eigenen Familien im Stich zu lassen“ (S. 323). Vor allem im Zusammenhang mit Migration entstünden „extrem heterogene, in unterschiedliche transnationale Richtungen gezogene Sozialräume“ (S. 324). Dass die PiS-Regierung während der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 die Aufnahme von Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Nordafrika ablehnte, ist bekannt. Aber, so Langenohl, „diese konfrontative Logik wird durch geopolitische Erwägungen und zivilgesellschaftliche Aktivitäten kompliziert“ (S. 323). Als die belarussische Regierung 2021 die illegale Einreise von Geflüchteten nach Polen zu fördern versuchte, reagierte die polnische Seite mit einem härteren Grenzregime, trotz der Proteste zivilgesellschaftlicher Initiativen. Während sich an Polens harter Haltung in dieser Frage nichts geändert hat, nahm das Land nach dem Beginn des russischen Angriffs gegen die Ukraine aus historischen und geopolitischen Erwägungen heraus jedoch viele Schutzsuchende aus dem Nachbarland auf, insgesamt weit über 960 000. Den vielfältigen Migrationsbewegungen und den komplexen Verflechtungen der osteuropäischen Staaten mit der von den Regierungen in Warschau und Budapest gern im „postkolonialen Kritikmodus“ attackierten EU gerecht zu werden, erfordert in der Tat eine Neubestimmung wichtiger Begriffe und Konzepte. Das Symposion über „Soziologische Perspektiven zu Osteuropa“ hat mit kritischen Bestandsaufnahmen und programmatischen Vorschlägen einen Anfang gemacht. Für den zweiten Teil kündigt Susann Worschech die „Skizze eines soziologischen Forschungsprogramms“ (S. 307) an. Der Abschied vom Postsowjetismus, soviel scheint gewiss, wird noch lange dauern.

Ein Beispiel dafür, dass nicht besonders überzeugende und vielfach kritisierte Konzepte dennoch über Jahre, bisweilen gar über Jahrzehnte hinweg genutzt werden, bietet das in einem anderen Kontext beheimatete Extremismusmodell. Es liegt der verborgenen Arbeit der Verfassungsschutzämter zugrunde und taucht in der öffentlichen Berichterstattung immer dann auf, wenn Bedrohungen der demokratischen Ordnung beschworen werden. Für die Extremismustheorie steht dabei nicht die politische Unterscheidung von „rechts“ und „links“ im Vordergrund, für sie ist vielmehr der Gegensatz zwischen „extremistisch“ und „demokratisch“ entscheidend, wie einer ihrer wichtigsten Vertreter, der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse, immer wieder erklärt hat. [3] In Heft 3 der Kritischen Justiz fasst Tim Wihl unter dem Titel „Die verfassungsrechtliche Aufklärung des Extremismusmodells“ die wissenschaftliche Kritik daran zusammen und gibt einen Überblick über die Rechtsprechung zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“. Wihls Kritik hat es in sich, fordert er doch nicht weniger als den Abschied von der Extremismustheorie. Denn, so lautet die zentrale Botschaft, die Judikatur entziehe „dem administrativen Extremismusmodell nämlich den verfassungsrechtlichen Boden“ (S. 291).

Kanonisch ist der ideengeschichtliche Einwand gegen die Extremismustheorie, sie setze verschiedene politische Richtungen gleich und suggeriere damit eine Symmetrie in Bezug auf links- und rechtsextreme Strömungen. Zugleich werde, so Wihl, der autoritäre Liberalismus ignoriert: „Da der Liberalismus im Extremismusmodell die unproblematische ideelle Mitte verkörpert, hat das Modell keinen Begriff von dem unter Umständen autoritär auflösbaren Spannungsverhältnis zwischen ,freiem Markt‘ und Demokratie.“ (S. 293) Es atme zudem „tiefe Provinzialität“, verabsolutiere Revolutionsaversion. Wer Extremismus beschwöre, entkomme „letztlich nicht einer Sicherheitslogik der Konservierung des Status quo“ (S. 294). Das Neue möge bitte „stets wohldosiert kleinschrittig“ (S. 294) eingeführt werden, weshalb man auch allzu oft Bewegungen demokratischer Bürger:innen misstraue.

Während Liberale aufgrund ihrer normativen Überzeugungen Nonkonformismus und Außenseitertum begrüßen sollten, suggeriere das Extremismusmodell, „die politischen ,Ränder‘ seien das Problem“ (S. 295). Menschenfeindliche Einstellungen der sogenannten Mitte würden auf diese Weise verschattet und die „bürgerliche Mitte“, was immer damit auch gemeint sein soll, pauschal entlastet, als gäbe es nicht genug Beispiele dafür, dass autoritäre Kräfte und demokratiefeindliche Parteien gerade von hier erheblichen Zuspruch erfahren. Seit einiger Zeit, so Wihl weiter, operierten die Verfassungsschutzämter mit einer neuen Kategorie – neben „links, rechts, religiös, ausländisch“ –, die man an der Verachtung des Staates und seiner Repräsentanten erkennen und als eine „Art ideologisch heimatloser ,Staatsfeindschaft‘“ (S. 295) bezeichnen könne. Angesichts dieser in seinen Augen bedenklichen Entwicklung erinnert Wihl daran, dass „jeder alles Recht“ habe, „je bestehende Institutionen oder Politiker zu verachten“ (S. 295). Zwar habe niemand das Recht, einen gewaltsamen Umsturz zu planen, aber verteidigt werde die Demokratie gewiss am besten in der Öffentlichkeit, mit politischer Bildung und wissenschaftlicher Expertise, statt mit ad hoc erfundenen Extremismusformen, die nur administrativen Erfordernissen genügten, aber kein analytisches Potenzial besäßen.

Der Aufsatz führt noch weitere Einwände gegen die Extremismusformel an, die er mit rechts- und geschichtswissenschaftlichen ebenso wie mit wissenschafts- und demokratietheoretischen Gründen untermauert. In einem sehr knappen, dicht argumentierenden Abschnitt wendet sich Wihl dagegen, die „Suche nach einem Gemeinwillen als gesellschaftlicher Allgemeinheit, ja die Suche nach politischer Wahrheit per se“ (S. 299) als totalitär oder freiheitsfeindlich zu brandmarken. Er will die politische Moderne als auf die Ausweitung und Vertiefung von „Gleichfreiheit“, also von „gleicher Freiheit“ gerichtete Bewegungsform verstanden wissen. Dieser Emanzipationsprozess sei nicht abgeschlossen, vielmehr kehre ein Muster dabei immer wieder: „Forderungen der radikalen Linken von einst“ würden „das zu bewahrende Gemeingut der Politik von heute“ (S. 299). Man denke etwa an die Demokratie als Staatsform, an die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen, betriebliche Mitbestimmung oder die „Ehe für alle“. „Demokratisch“ so Wihl, sei immer nur „ein gesellschaftliches Werden, nie ein im Ganzen identifizierbares Sein“ (S. 299), auch nicht eine zu sich gekommene „Grundordnung“.

Die jüngere Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Begriffsbestimmung der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ rekapituliert Wihl im zweiten Teil seines Aufsatzes. Er zeigt, wie in den zurückliegenden zwanzig Jahren die Kritik an der Extremismustheorie aufgegriffen wurde, indem das Gericht „den Stellenwert der politischen Freiheit gestärkt“ und „dem Grundgesetz überdies nun eine antinationalsozialistische Stoßrichtung“ zugeschrieben habe (S. 301). Der Überblick beginnt mit dem Junge-Freiheit-Urteil von 2005, dem zufolge die Zeitung nicht mehr als rechtsextreme Publikation im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen erwähnt werden durfte. Im Urteil heißt es zur Begründung: Es sei zu berücksichtigen, „dass Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso erlaubt ist wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern“ (hier S. 302). Gegenwärtig ist die sich marxistisch nennende Tageszeitung Junge Welt Berichtsgegenstand des Verfassungsschutzes. Man mag gegen diese Zeitung viel einzuwenden haben, der Verfassungsschutzbericht ist für Wihl jedoch die falsche Stelle, das Presseorgan zu kritisieren. Bloße Meinungsäußerungen reichten nach dem Urteil von 2005 nicht hin, um sie als „verfassungsfeindlich“ zu labeln.

In der Wunsiedel-Entscheidung von 2009 – die Rudolf-Heß-Gedenkmärsche dürfen verboten werden, eine Sonderbestimmung gegen Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der NS-Herrschaft ist zulässig – erkennt Wihl eine grundsätzliche Weichenstellung. Demnach sei es die „Wendung gegen den NS“, in der das Gericht „das entscheidende Fundamentalprinzip des GG“ gesehen habe (S. 303). Darauf folgte 2013 die Ramelow-Entscheidung: Darin erklärte das Bundesverfassungsgericht die Überwachung des Linken-Politikers Bodo Ramelow für verfassungswidrig. Die bloße Mitgliedschaft in einer Partei mit vermeintlich verfassungsfeindlichen Strömungen, „Kontaktschuld“ also, reichte den Richtern in Karlsruhe nicht aus, um die gezielte Beobachtung des damaligen Fraktionsvorsitzenden der Linken-Landtagsfraktion und heutigen Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen zu rechtfertigen.

Das im Januar 2017 ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren versteht Wihl schließlich als Zäsur. Es habe die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ – die berühmte fdGO – „auf ein neues, demokratisch-menschenrechtliches Fundament gestellt“, indem es den Rechtsbegriff auf die drei Elemente Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat reduziert habe. Die Extremismusformel dagegen sei auf ständige Erweiterung angelegt gewesen. Nun aber gelte: „Die fdGO ist etatismuskritisch und menschenrechtlich angelegt, der Staat eine bloße Funktion der Menschenwürde und nur kollektiv realisierbaren gleichen Freiheit. Er muss sich ausnahmslos ,von unten‘ vor dem Maßstab demokratisch auszufüllender gleicher Freiheitsrechte begründen. Die Inhalte des Rechtsstaates sind daher irreduzibel politisch und stehen in der demokratischen Kontroverse.“ (S. 307)

Diese Bestimmungen sind klarer, liberaler, offener als das im politischen Alltag so beliebte Gerede von vermeintlich verbindlichen Werten. Sie sind, wie Wihl hervorhebt, mit antikapitalistischen Positionen vereinbar, nicht jedoch mit Vorstellungen von einem autoritären Staat, und knüpfen darin an wichtige liberaldemokratische Traditionen an. Im September 2024 wird womöglich die Alternative für Deutschland (AfD) bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg – im weitesten Sinne „postsowjetischen“ Regionen – die meisten Stimmen gewinnen. Welche Folgen das für die Bildung der Landesregierungen und die Bundespolitik, für die gesellschaftliche Atmosphäre und die Öffentlichkeit haben wird, ist nicht abzusehen. Schwerlich werden es gute sein. Zur Vorbereitung auf diesen demokratischen Ernstfall gehört die Vergewisserung dessen, was auf dem Spiel steht und zu verteidigen ist. Tim Wihls Aufsatz mit seiner Verschränkung sozialwissenschaftlicher, historischer und juristischer Argumente unterbreitet ein überzeugendes Angebot, für welche Grundordnung in den kommenden Monaten politisch zu streiten wäre.

  1. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.
  2. Ivan Krastev / Stephen Holmes, Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, übers. von Karin Schuler, Berlin 2019.
  3. Vgl. Eckhard Jesse, Der Begriff „Extremismus“ – Worin besteht der Erkenntnisgewinn?, Bundeszentrale für politische Bildung, 29.01.2015.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Demokratie Europa Gesellschaft Internationale Politik Methoden / Forschung Normen / Regeln / Konventionen Recht Wissenschaft

Jens Bisky

Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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