Felix Ekardt | Rezension | 11.04.2023
Aus kritischer Perspektive
Rezension zu „Handbuch Politische Ökologie. Theorien, Konflikte, Begriffe, Methoden“ von Daniela Gottschlich, Sarah Hackfort, Tobias Schmitt und Uta von Winterfeld (Hg.)
Umweltprobleme und ihre Zusammenhänge mit dem menschlichen Leben und Wirtschaften sind seit Längerem eines der größten Themen in Wissenschaft und Politik. Ein neues Handbuch möchte einige der vorhandenen Theorien, Konflikte, Begriffe und Methoden in diesem Feld aufarbeiten – und zwar unter dem Label der Politischen Ökologie. Das Buch zielt mit seinen vier Herausgebenden und insgesamt 57 Verfassenden – im Kern mit einem politologisch-soziologisch-geografischen Fachhintergrund – im Stil einer relativ breit gefächerten Grundlegung darauf ab, Themen, Thesen und Zugänge aus dem deutschsprachigen Netzwerk Politische Ökologie einer akademischen wie auch einer allgemein interessierten Öffentlichkeit vorzustellen; es ist entsprechend auch via Open Access verfügbar.
Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte: Ein erster Abschnitt betrachtet Theorien und Zugänge. Ein zweiter widmet sich Handlungs- und Konfliktfeldern. Ein dritter Abschnitt analysiert Begriffe. Und ein vierter fokussiert sich auf Methoden. Dabei werden die verschiedenen Oberkategorien eher offen gehandhabt: Letztlich besteht jeder der Abschnitte aus einer Reihe von – eher punktuellen als erschöpfend konzipierten – Schlagwörtern, zu denen es je ein Kapitel gibt, welches häufig aber auch unter eine oder mehrere der anderen Oberkategorien gepasst hätte. Die auf diese Weise insgesamt 59 bearbeiteten Schlagwörter bewegen sich auf recht unterschiedlichen Abstraktionsniveaus und haben mal mehr, mal weniger mit der originären Umweltdebatte zu tun. Pars pro toto seien die folgenden aufgezählt: marxistische Politische Ökologie; feministische Politische Ökologie; post- und dekoloniale Politische Ökologie; environmental justice; gesellschaftliche Naturverhältnisse; Ernährungssouveränität; Körper und Reproduktion; Biodiversität; Land Grabbing in der Ukraine; Lohnarbeit und Naturverhältnis am Beispiel der Palmölproduktion; (Neo-)Extraktivismus; umkämpftes Wasser; urbane Politische Ökologie; Care; Commons; Externalisierung; Demokratie; Herrschaft und Macht; Konflikt; Natur; sozialer Metabolismus; Diskursanalyse; Erzählungen; Positionalität. Offenbar waren ursprünglich deutlich mehr Schlagwörter angedacht, was unter anderem daran zu erkennen ist, dass ab und zu auf Schlagwörter verwiesen wird, die es in dem Buch so gar nicht gibt, die es aber wohl hätte geben sollen. Die Befunde des Bandes sind bei alledem vielschichtig und naturgemäß kaum in der einer Rezension angemessenen Kürze wiedergebbar.
Schon der Gegenstand des Handbuchs ist nicht ganz leicht zu fassen. Eine gesellschaftliche im Sinne einer nicht-naturwissenschaftlichen Betrachtung der Umweltkrise zum wissenschaftlichen (und politisch-administrativen) Gegenstand zu machen, wird seit Jahrzehnten, teils sogar seit Jahrhunderten – wie etwa im Falle des Umweltrechts – praktiziert.[1] Allein die Existenz zahlreicher Teildisziplinen wie das genannte Umweltrecht, aber auch Umweltökonomik, Umweltsoziologie, Umweltpsychologie, Umweltgeschichte oder Umweltethik verdeutlicht dies, auch wenn neuerdings zunehmend Nachhaltigkeit statt Umwelt als Präfix der Subdisziplinen verwendet wird. Auch Politologie, Kulturwissenschaften, Ethnologie und weitere Fächer widmen sich mittlerweile Umweltthemen. Dementsprechend wird ein großer Teil der humanwissenschaftlichen Umweltthemen im hier rezensierten Handbuch nicht oder nur bedingt behandelt. Die Frage nach der Wirksamkeit bestimmter politisch-rechtlicher Instrumente, gemessen an bestimmten Umweltzielen, die diverse Disziplinen beschäftigt, wird beispielsweise nur punktuell berührt. Auch wird die entsprechende sehr breite Forschung kaum rezipiert.
Darüber hinaus kommt es in dem Handbuch nicht zu einer sukzessiven Behandlung der verschiedenen Umweltherausforderungen wie Klimawandel, Biodiversitätsverlust, gestörte Nährstoffkreisläufe, Ressourcenknappheit, Schadstoffprobleme, Fragen von Atomenergie und Gentechnik usw. aus humanwissenschaftlicher Sicht. Hochkontroverse Fragen wie die, ob nichtmenschlichen Entitäten eine eigene ethische oder juristische Rechtsposition zukommt, und die damit verbundene (aber nicht identische) Frage, welche Natur konkret geschützt werden soll, werden daher nicht systematisch dargestellt. Stattdessen wird eher vorausgesetzt, dass anthropozentrische Rechts- und Ethikkonzepte kritikwürdig sind. Insoweit wäre eine detaillierte Behandlung interessant gewesen, ist doch „die“ Natur ein in sich sehr heterogenes und kompetitives Geschehen mit keinesfalls auch nur einigermaßen einheitlichen Interessen, die sich über die Jahrhunderte und Orte hinweg weitestgehend entwickelt und verändert. Wie man juristisch in einer liberal-demokratischen Diktion begründen kann, dass die natürlichen Lebensgrundlagen gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen schon heute menschenrechtlich geschützt sind, ohne in die zweifelhafte Anthropozentrik-Ökozentrik-Kontroverse zu geraten, hat beispielsweise die in Kernpunkten erfolgreiche Klimaklage gegen Bundesregierung und Bundestag vor dem Bundesverfassungsgericht durchkonjugiert (die der Rezensent juristisch vertreten hat).[2]
Das eigentliche Kennzeichen der sich so nennenden Politischen Ökologie ist denn wohl auch ein anderes. Es geht nicht um eine gesamthafte, sondern um eine relativ spezifische humanwissenschaftliche, vor allem politik- und sozialwissenschaftliche, Perspektive auf Umweltprobleme. Diese könnte vielleicht umschrieben werden als die Analyse von Umweltproblemen und ihrer Bekämpfung auf Macht- und Herrschaftsfragen hin. Letztlich erscheint dies als eine insbesondere neomarxistisch (und/oder feministisch) inspirierte Perspektive, aus der auf ökologische Fragen geschaut wird. Diesen gehen die einzelnen Stichworte des Handbuchs letztlich nach. So umrissen bietet das Handbuch eine wertvolle Übersicht der in dieser Richtung anzutreffenden Thesen, Denkrichtungen, Argumente und Forschungsbefunde.
Diese im Handbuch meist als „kritisch“ bezeichnete Perspektive kombiniert also eine empirische Schilderung bestimmter Effekte von Umweltproblemen und Umweltpolitik mit deren normativer Ausweisung als kritikwürdig. Allerdings beruhen entsprechende Sichtweisen auf einer Reihe kontroverser normativer Annahmen, die im Handbuch meist mehr vorausgesetzt als begründet werden und die zudem oft implizit bleiben. Dass kritische Sozialwissenschaft ihre eigenen Maßstäbe explizit benennen und zudem entlang der dafür in den normativen Wissenschaften (namentlich praktische Philosophie und Jura, teilweise auch Ökonomik oder Theologie) diskutierten Standards begründen müsste, hat Jürgen Habermas der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung schon in den 1980er-Jahren wiederholt ins Stammbuch geschrieben. Angestrebt wird von den Verfassenden des Handbuchs offenbar eine egalitäre Gesellschaft, da der wesentliche vorgetragene Kritikpunkt an diversen im Buch verhandelten Zuständen die fehlende Gleichheit ist – wobei aber bereits unklar bleibt, ob wirkliche kommunistische Gleichheit oder eher eine Einkommensspanne avisiert wird. Das eine wie auch das andere müsste begründet werden. Ob nach der jahrhundertelangen Diskussion zu sozialen Verteilungsfragen eine solche Begründung jenseits der Rechts- und Chancengleichheit (die bereits ein herausfordernder Begriff ist) gelingen kann, erscheint indes mindestens offen. Denn dazu sind ganz unterschiedliche Positionen gut zu rechtfertigen, anders als hinsichtlich grundlegender Prinzipien, Abwägungsregeln und Institutionen der freiheitlichen Demokratie. Empirisch-historische Betrachtungen zur Genese von Ungleichheit sind zwar wichtig, tragen zur Beantwortung normativer Fragen aber wenig bei, weil sich sonst logisch ein Genesis-Geltungs-Fehlschluss und ein Sein-Sollen-Fehler ergeben würden. An dieser Stelle macht sich bemerkbar, dass die soziologische Ungleichheitsforschung ethische wie rechtliche Diskurse meist allenfalls am Rande zur Kenntnis nimmt.
Es wäre dabei auch eine Auseinandersetzung mit der umfassenden Kritik am Marxismus der letzten 150 Jahre geboten, etwa an der optimistischen Marxschen Anthropologie, dass allein „der Kapitalismus“ die Menschen so gemacht habe, wie sie heute sind, nämlich insbesondere eigennützig und kompetitiv, oder die doch etwas gewagte Vorstellung von menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsgesetzen, die gar die Sein-Sollen-Scheidung zu überwinden vermögen. Auch das typische Einreißen der Scheidung Gerechtigkeit versus gutes Leben sowie die Negierung freiheitsbasierter Menschenrechte stellen die marxistische Tradition vor große Fragen. Unter anderem landet man mit alledem auch bei der schon von John Rawls aufgeworfenen Frage,[3] ob möglichst große materielle Gleichheit am Ende wirklich den ökonomisch Schwächsten am meisten nützt oder ob eine sinnvolle Umverteilung vielleicht doch Grenzen hat.
Im Übrigen ist das Verhältnis zwischen (zudem heterogenen) sozialen und ökologischen Forderungen potenziell sehr viel konfliktträchtiger, als es die heutzutage allgegenwärtige Leerformel von den „sozial-ökologischen“ Belangen erkennen lässt. Beispielsweise sind ökologisch negative Auswirkungen von Umverteilungsprozessen keineswegs von der Hand zu weisen, weil ein steigender Wohlstand mit hoher Wahrscheinlichkeit den Umweltverbrauch erhöht. Und bislang gehören – kaufkraftbereinigt – selbst Menschen in Deutschland mit ALG-2-Bezug ungefähr zum obersten Einkommens-Sechstel im Weltmaßstab.
Interessant wäre gewesen, wenn das Handbuch die Transformationsbedingungen zur Nachhaltigkeit respektive die Bedingungen sozialen Wandels genauer betrachtet hätte. Sie beschäftigen diverse humanwissenschaftliche Fächer und auch naturwissenschaftliche Disziplinen wie die Soziobiologie und die Neurowissenschaften. Die diesbezüglichen Befunde fordern beispielsweise die von Rousseau und Marx inspirierte Vorstellung heraus, Menschen seien von Natur aus überwiegend altruistisch eingestellt und würden nur von Zivilisation und Kapitalismus (respektive Macht und Herrschaft) kompetitiv und eigennützig gemacht. Zur diesbezüglichen empirischen Forschung – einschließlich weiterer menschlicher Verhaltensantriebe wie emotionale Faktoren, Normalitätsvorstellungen oder Pfadabhängigkeiten – wären weitere umwelthumanwissenschaftliche Beiträge sehr zu begrüßen.
Positiv gewendet bietet das Handbuch einen hervorragenden Überblick über eine bestimmte Richtung umwelthumanwissenschaftlicher Forschung, mit dem eingehender auseinanderzusetzen sich lohnt. Das Desiderat, die jeweiligen Befunde der vielen Disziplinen, Denkrichtungen und akademischen Schulen unserer Tage stärker zusammenzuführen und wechselseitiger Kritik auszusetzen, bleibt ungeachtet dessen bestehen.
Fußnoten
- Zum Hintergrund der Aspekte der vorliegenden Rezension auch Felix Ekardt, Sustainability: Transformation, Governance, Ethics, Law, Dordrecht 2019.
- Siehe einige Texte dazu bei http://www.felix-ekardt.eu/de/klimagerechtigkeit.html.
- Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von Hermann Vetter, Frankfurt am Main 1975.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Care Demokratie Gesellschaft Internationale Politik Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Ökologie / Nachhaltigkeit Politik Wirtschaft
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