Michael Werz, Hannah Schmidt-Ott | Interview |

„Außenpolitik ist in den Vereinigten Staaten innenpolitisch kodiert“

Michael Werz im Gespräch mit Hannah Schmidt-Ott über die US-amerikanische Außenpolitik vor und nach den Präsidentschaftswahlen 2024

Bei den Midterms haben die Republikaner schlechter abgeschnitten als erwartet, gegen Donald Trump läuft eine Vielzahl von Prozessen in verschiedenen Bundesstaaten, dennoch stehen seine Chancen, erneut Präsidentschaftskandidat zu werden, sehr gut. Die Republikanerin Liz Cheney warnt eindringlich vor einer zweiten Präsidentschaft Trumps, sieht gar die amerikanische Demokratie in Gefahr. Sie leben seit über 20 Jahren in den Vereinigten Staaten, arbeiten am Center for American Progress in Washington. Teilen Sie diese Einschätzung?

Liz Cheney ist eine republikanische Politikerin, die immer zum konservativen Flügel der Partei gehörte. Sie kandidiert in einer ländlichen Region und ihre politische Biografie ist eng mit den traditionellen konservativen Positionen verknüpft. Dazu gehören ein sicherheitspolitisch untermauerter Internationalismus, Freihandel, eine kleine Regierung und eine große Aversion gegen progressive Sozial- und Wirtschaftspolitik. Noch bis vor zehn Jahren gehörte Cheney zum Kern der republikanischen Funktionseliten. Die Tatsache, dass sie nicht nur an den Rand der Partei gedrängt wurde, sondern sich nach dem Verlust ihres Mandats im US-Repräsentantenhaus zur offenen Kritik an der gegenwärtigen Republikanischen Partei, an Donald Trump und seiner Kulturkampf-Rhetorik entschlossen hat, zeigt die dramatischen Verschiebungen innerhalb des republikanischen Spektrums: Die Transformation aufgeklärter konservativer Politik in radikale Kulturkampf-Weltanschauungen, wie sie in Ansätzen auch bei den Tories in England zu beobachten ist. Aber auch in anderen westlichen Industriegesellschaften gibt es ähnliche Entwicklungen, so haben sich traditionelle konservative Parteien wie die Democrazia Christiana in Italien oder der Gaullismus in Frankreich schon vor einiger Zeit von der politischen Bühne verabschiedet und sie neuen Akteuren wie Forza Italia oder Front National in Frankreich überlassen. Dies spiegelt eine ambivalente Modernisierung des Konservatismus in westlichen Industriegesellschaften wider, die in den USA besonders radikal verläuft.

Sehen Sie als Folge davon, ebenso wie Cheney, die amerikanische Demokratie tatsächlich in Gefahr oder ist das politische Rhetorik?

Nein, das ist keine bloße Rhetorik, man muss Cheneys Warnung ernst nehmen. Die zu erwartende Nominierung von Donald Trump als Kandidat, die spätestens in der ersten Märzwoche abgeschlossen sein wird, ist aus mehreren Gründen eine Bedrohung für die amerikanische Demokratie: Trump führt eine dynamische Sammlungsbewegung der Partei im 21. Jahrhundert an. Es gibt zwar einige, die hinter verschlossenen Türen ihr Unwohlsein verkünden, aber das gilt in der Politik nichts. In der Politik gilt nur das, was öffentlich gesagt wird. Und es gibt es nur wenige Stimmen, die sich publikumswirksam gegen Donald Trumps Versuche wehren, die Republikanische Partei auf seine politischen Ziele hin auszurichten. Hinzu kommt, dass seit den letzten Zwischenwahlen viele republikanische Abgeordnete aus dem Lager der Wahlleugner kommen, die 2020 entweder der Zertifizierung der Wahl von Joe Biden nicht zugestimmt haben oder aber mit Trumps Argument, die Wahlen seien gestohlen worden, Wahlkampf führten. Das zielt auf die Fundamente der amerikanischen Republik, des ältesten politischen Gemeinwesens der Welt, in dem seit 233 Jahren friedliche Machtübergaben stattgefunden haben – mit allen Einschränkungen hinsichtlich der Ausschlüsse von Frauen, von PoCs und, in der Frühphase, von jenen, die keine Landbesitzer waren. Wenn gewählte Abgeordneten dem explizit ein Ende setzen wollen, kann sich das zu einer existenziellen Bedrohung für das amerikanische politische System auswachsen, weil es sich in zwei zentralen Punkten von den westeuropäischen parlamentarischen Demokratien unterscheidet. Zum einen konzentriert das Präsidentenamt ungeheuer viel Macht: Der Präsident verfügt über Befugnisse, die mit denen europäischer Kanzler, Premiers oder Präsidenten kaum vergleichbar sind. Zum zweiten, vielleicht noch wichtiger, ist das US-amerikanische politische System wesentlich weniger kodifiziert als seine europäischen Pendants, die ja in der Regel, zumindest in Kontinentaleuropa, in der Folge des Zweiten Weltkrieges und nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Faschismus Sicherungsinstitutionen und -normen eingeführt haben. Stattdessen ist das politische System der USA über die Verfassung und die Bill of Rights kodifiziert. Beide Dokumente sind ein knappes Vierteljahrtausend alt und Produkte ihrer Zeit. Bereits in der ersten Trump-Amtszeit wurde deutlich, dass der Präsident die vielen politischen, normativen und legalen Grauzonen auszunutzen und das Land in eine undemokratische Richtung lenken kann. Außerdem waren viele Institutionen, mit Ausnahme eines Teils des Justizsystems und der Zivilgesellschaft, nicht in der Lage, für diese Verfassungstraditionen einzustehen. Stattdessen gab es eine erschreckende Anzahl von Mitläufern, die willfährig, zum Teil sogar freiwillig in seine Administration eingetreten sind und sich mit dem Regime arrangiert haben, ob aus Karriere- oder aus anderen Gründen. Für mich war das nach zwanzig Jahren hier in den Vereinigten Staaten eine ebenso schockierende wie überraschende Erfahrung.

Auf Checks and Balances sollte man sich bei Einhegung Trumps also nicht verlassen?

Die Checks and Balances bestehen im stark deliberativ ausgelegten US-System zum einen in sehr langen und sehr komplizierten Gesetzgebungsverfahren und zum anderen in vergleichsweise mächtigen Abgeordneten und Senatorinnen und Senatoren. Die große Autoritätsfülle des Präsidenten soll durch starke Parlamentarier und ein unabhängiges Justizsystem kontrolliert und eingehegt werden. Beide Kontrollinstanzen funktionieren aufgrund der Besetzung des Obersten Gerichtshofes mit konservativen Richterinnen und Richtern sowie durch die Einebnung von politischen Strömungen innerhalb der Republikanischen Partei allerdings nur noch eingeschränkt.

Wie ist aktuell die Stimmung bei den Republikanern?

Die Stimmung bei den Republikanern ist gemischt. Es existiert durchaus Unbehagen an der Veränderung der Partei. Aber oft ist auch ein gewisser Fatalismus zu spüren. Wenn Donald Trump der einzige ist, der eine Chance zur Wiedererlangung der Macht im Weißen Haus bietet, dann ergreift man diese eben. Überraschend populär sind seine Forderungen nach der Schwächung von Staatlichkeit – etwa der Abschaffung des Bildungsministeriums, des FBIs, der Umweltschutzbehörde. Gleiches gilt für seine Vorstellung, nach dem Wahlsieg an politischen Gegnern Rache zu nehmen. Man muss das ernst nehmen, weil solche Positionen im konservativen Spektrum mittlerweile oft unwidersprochen hingenommen werden.

Man kann also davon ausgehen, dass die Demokraten dementsprechend alarmiert sind?

In der Demokratischen Partei werden andere Diskussionen geführt. Den meisten ist vollkommen klar, dass Joe Biden kein starker Kandidat für die Wahlen 2024 ist, dass seine Kandidatur wegen seines Alters und seiner sichtbaren Verschleißerscheinungen ein Risiko bedeutet. Die Demokraten haben durchaus gute Leute, die zwischen 50 und 60, Gouverneure, Senatoren oder in anderen Politikbereichen erfolgreich sind und als potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten gelten könnten. Aber die Biden-Administration ist davor zurückgeschreckt, ihn zu einem Lame-Duck-Präsidenten zu machen. Hätte er im Oktober oder November vergangenen Jahres gesagt, dass er nicht mehr kandidieren würde, hätte ihn das politisch viel Kapital gekostet. Zudem haben die Kandidaturen von Hillary Clinton und Joe Biden eine ganze Generation von Politikerinnen und Politikern blockiert. Bei dem entstandenen Personalstau wären in den Vorwahlen wahrscheinlich ein gutes Dutzend Kandidatinnen und Kandidaten aufgelaufen, was auch riskant gewesen wäre. Die Demokraten hätten am Ende mit einem Kandidaten oder einer Kandidatin dastehen können, der oder die gegen einen Gegner wie Donald Trump vielleicht nicht besonders gut positioniert gewesen wäre. Beide Strategien sind also riskant. Innerhalb der Demokratischen Partei herrscht dementsprechend ein hohes Maß an Nervosität.

In den letzten Meinungsumfragen zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Joe Biden und Donald Trump ab …

Es ist noch zu früh, um die Situation realistisch einzuschätzen. Die ersten verlässlichen Daten wird es erst nach der Sommerpause geben – mit den seit 2016 bekannten Fehlermargen. Aber man spürt die Anspannung bereits jetzt. Es besteht die berechtige Sorge, dass jüngere Latinos und schwarze Männer, insbesondere aus den unteren Mittelschichten, anfällig sind für Donald Trumps Machogehabe und seine aggressive Rhetorik. Es ist möglich, dass die Demokratische Partei in diesen wichtigen Bevölkerungsgruppen Stimmen verliert. Das aktuell größte Problem für Joe Biden besteht in der massiven Kritik sehr vieler junge Leute an seiner pro-israelische Position im Gaza-Konflikt. Die Entrüstung in den Aktivistengruppen ist groß. Man muss sich vor Augen halten, dass insbesondere Erst- und Zweitwählerinnen und -wähler für den Wahlsieg 2020 entscheidend gewesen sind. Diese Gruppen mobilisieren Wählerstimmen innerhalb der Familien, auch weil sie ihre Tanten und Großmütter zur Wahlurne schleppen. All das führt dazu, dass unabhängig davon, was sich auf der republikanischen Seite abspielt, den Demokraten ein sehr schwieriges Wahljahr bevorsteht.

Ist es ein neues Phänomen, dass die klassischerweise pro-israelische Position der USA von zivilgesellschaftlicher Seite dermaßen angefochten wird?

Die Vereinigten Staaten sind pro-israelisch in dem Sinne, dass das Existenzrecht des Staates Israel außer Frage steht und die Verteidigung Israels zu den höchsten politischen Prioritäten im Land gehört. Man muss das von einer Position unterscheiden, die die Likud-Politik unterstützt, auch wenn das in der gegenwärtigen Gemengelage schwerfällt. Die US-amerikanische Pro-Israel-Position entspricht jedenfalls nicht dem Klischee, das oft in Europa und selbst innerhalb der Vereinigten Staaten anzutreffen ist. In der Vergangenheit waren gerade Republikaner Israel-kritisch, etwa wenn es um israelische Militäraktionen ging oder um den Gaza-Konflikt. Das reicht bis in die Reagan-Zeit zurück. Die traditionell stärker pro-israelische Fraktion in der Demokratischen Partei, das gilt insbesondere für jüngere Aktivisten aus dem progressiven Spektrum, steht der Likud-Regierung natürlich sehr kritisch gegenüber. Das gilt sowohl für Benjamin Netanjahus freundschaftliches Verhältnis zu Donald Trump wie für die Tatsache, dass mit dem anhaltenden Siedlungsbau in der Westbank eine Zwei-Staaten-Lösung de facto verunmöglicht wurde. Teile der Demokratische Partei distanzieren sich daher von der aktuellen israelischen Regierungspolitik. Die US-amerikanische Diskussion zu diesem Thema ist allerdings komplexer als das in Teilen Europas der Fall ist. Das macht es für Joe Biden nicht einfacher: Er musste entscheiden, ob die USA Israel nach dem Terrorangriff der Hamas militärisch unterstützen – und entschied zurecht dafür. Im Weißen Haus glaubte man offensichtlich, dass man nach einer Phase der bedingungslosen Unterstützung den Druck auf Benjamin Netanyahu und seine Regierung erhöhen könnte, was zum Ende des Militäreinsatzes führen würde. Das hat sich bisher als Illusion erwiesen. Entsprechend hat sich die Position der US-Regierung gegenüber der Likud-Regierung in den letzten Wochen merklich verändert. Dieser Prozess wird uns noch eine ganze Weile beschäftigen – nicht nur, aber auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen.

Gibt es noch andere außenpolitische Positionen, denen Sie eine ähnlich große Bedeutung im Wahlkampf zumessen würden?

Da ist zum einen die indopazifische Konkurrenz mit China, die gerade von republikanischer Seite forciert wird. Das geschieht zuweilen in einem Maße, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, die Leute wollten einen Konflikt herbeireden und wären auf der verzweifelten Suche nach neuen Feindbildern. Harsche China-Kritik gibt es auch in der Demokratischen Partei, insbesondere der linke Parteiflügel beharrt auf Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere mit Blick auf die uigurische Minderheit oder den demokratischen Selbstbestimmungskampf der Studierenden in Hongkong. Auch gegen den zunehmend autoritären Führungsstil von Xi Jinping gibt es Widerstand. Aber das Weiße Haus hat im vergangenen Herbst entschieden, die Betriebstemperatur in der Auseinandersetzung mit China deutlich abzusenken. In kurzen Zeitabständen sind John Kerry, der Klimabeauftragte, Janet Yellen, die Finanzchefin, und Gina Raimondo, die Wirtschaftsministerin, nach China gereist. Das waren drei politisch hochrangige Besuche. Und dann folgte vor einigen Wochen das Treffen zwischen Xi Jinping und Joe Biden in Kalifornien. Das zeigt, dass sich die Biden-Administration, auch mit Blick auf das Wahljahr, entschieden hat, Kooperation und strategische Auseinandersetzung in den Beziehungen zu China besser auszutarieren und Konfliktrisiken zu minimieren.

Ein anderes wichtiges Thema ist der Migrationsdruck an der US-mexikanischen Grenze. Das ist kein originär außenpolitisches Feld, wird für die Republikaner aber eine zentrale Rolle im Wahlkampf spielen. In der ersten republikanischen Fernsehdiskussion der Kandidatinnen und Kandidaten antwortete Ron DeSantis, der Gouverneur von Florida, auf die Frage nach seiner Position zu China, dass die US-mexikanische Grenze gesichert werden müsse. Inzwischen wird in der Republikanischen Partei diskutiert, ob man Spezialeinheiten der US-Militärs autorisieren solle, auf mexikanischem Staatsgebiet gegen Drogenkartelle vorzugehen, gegebenenfalls sogar mit Luftschlägen. Donald Trump sagte kürzlich, er wolle nach seiner Wiederwahl für einen Tag Diktator sein, um die Grenze zu Mexiko zu schließen. Die Migrationsfrage wird, was auch in Europa nicht ungewöhnlich ist, als politische Waffe genutzt. Sie ist ein wichtiges Mobilisierungsmoment für die Trump-Kampagne, das die Demokraten bereits jetzt in die Defensive bringt. Entgegen der in Europa weit verbreiteten Wahrnehmung besteht die Wählerbasis der Republikaner nicht in erster Linie aus Hillbillies im mittleren Westen, die wir häufig euphemistisch als Modernisierungsverlierer bezeichnen. Donald Trump wurde 2020 von 74 Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern gewählt, die zum großen Teil aus den gebildeten, prosperierenden Mittelschichten stammen und sich mit den Kulturkampf-Themen wie Migration, gleichgeschlechtliche Ehe und Schwangerschaftsabbrüche, mobilisieren ließen. Darum ist zu erwarten, dass dem Umgang mit der Grenze zu Mexiko ein zentraler Stellenwert in der republikanischen Kampagne zukommen wird.

Sie haben Russland gar nicht erwähnt.

Ja, ich erwarte, dass Russland im Wahlkampf letztlich eine sekundäre Rolle spielen wird. Die Demokraten werden verzweifelt versuchen, die Ukraine-Finanzierung und -Solidarität aufrechtzuerhalten, die auch unter den eigenen Wählern inzwischen nicht mehr unumstritten ist, und die beste Strategie wird darin bestehen, das Thema nicht übermäßig stark zu betonen. Von republikanischer Seite werden die bekannten populistischen Argumente zu hören sein, die Donald Trump in Vorwahlkampfveranstaltungen bereits erfolgreich einsetzt: „Warum geben wir so viel Geld für die Ukraine aus und nicht für Amerika? Ich habe ein gutes Verhältnis zu Wladimir Putin und kann den Krieg innerhalb von einem Tag beenden, wenn ich wollte.“ Allerdings ist das Thema Russland für keine der Parteien ein Winning-Ticket, weshalb die bestimmenden Themen andere sein werden. Die USA befinden sich in einer Phase der gesellschaftlichen Introspektion: Es gibt eine Abwendung von der Welt und die ist in der Republikanischen Partei stärker ausgeprägt, aber auch unter den Demokraten deutlich zu spüren. Politische Themen werden mit Blick auf die eigene Gesellschaft, mit Blick auf die amerikanische Wirtschaft, auf Benzinpreise, Wirtschaftswachstum, Inflation, Nahrungsmittelpreise gesetzt. Die Frage ist, welche die entscheidenden Mobilisierungs-Themen werden. Auf der konservativen Seite sind die Kulturkampf-Themen gesetzt, für die Demokraten werden vor allem Frauenrechte eine große Rolle spielen, das heißt das Abtreibungs-Thema, das sich politisch als wichtiger Mobilisierungsfaktor erwiesen hat, sowie das Argument, dass man die amerikanische Demokratie nicht nach 233 Jahren einfach per Wahlakt abschaffen sollte.

Wie gestaltet sich die geopolitische Situation, welche Rolle kommt den USA zu?

Der geopolitische Wandel, dem die USA als global agierende Macht ausgesetzt sind, speist sich für Washington aus drei zentralen Dynamiken: Da das Ende des Ölzeitalters absehbar ist, wird der Nahe Osten ungeachtet des aktuellen Krieges weiter an strategischer Bedeutung verlieren. Zweitens, und diese Dynamik wird häufig übersehen, schreitet die vertikale Integration Nordamerikas, also von Kanada, Mexiko und den USA, rasch voran. Sie ist bereits stärker ausgeprägt als die der Europäischen Union in ihrer Frühphase. Das heißt, dass eine Beschleunigung des ökonomischen und kulturellen Zusammenwachsens zu erwarten ist. Drittens wird der Pazifik für die USA zum magnetischen Kraftfeld des 21. Jahrhunderts werden und dies nicht nur aufgrund der Herausforderungen durch China, sondern auch, weil die asiatischen Alliierten – und das sind nicht nur Südkorea, Taiwan und Japan, sondern inzwischen auch Neuseeland, Australien, die Philippinen, bis hin zu Vietnam und Indonesien – in Washington Schlange stehen, weil sie Sicherheitsgarantien von den Vereinigten Staaten erwarten. Diese tektonischen Verschiebungen in der Welt bilden den Rahmen für die künftige amerikanische Außenpolitik.

Welche konkreten außenpolitischen Folgen könnte ein Wahlsieg Trumps unter diesen Bedingungen zeitigen?

Es ist schwierig vorherzusagen, wie sich diese Bedingungen in konkrete Politik übersetzen. Als autoritärer Charakter schmiegt sich Trump an jene an, von denen er sich Anerkennung erhofft und die er als stark wahrnimmt. Das waren in der ersten Amtszeit vor allem in Wladimir Putin und Kim Jong-un. Trump mag Schlaumeier, die Regeln brechen und damit davonkommen. Wie Viktor Orbán, den Trump häufig in Reden erwähnt und kürzlich auf einer Wahlkampfveranstaltung in einer Freud‘schen Fehlleistung zum Führer der Türkei beförderte. Sollte Donald Trump gewählt werden, ist – mehr noch als in seiner ersten Amtszeit – eine weitere Personalisierung der Außenpolitik zu erwarten. Damals war die Inkompetenz im Weißen Haus so groß, dass man gut zweieinhalb Jahre brauchte, bis man wusste, wie in Washington die Machthebel bewegt werden. Das wird nicht noch einmal passieren, inzwischen ist das Trump-Team besser vorbereitet.

Aber auch in der Bevölkerung herrscht hinsichtlich der US-amerikanischen Außenpolitik eine andere Stimmung als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten. Die letzten drei Präsidenten, Obama, Trump und Biden, haben mit dem Versprechen kandidiert, global weniger zu intervenieren. Das ist also eine übergreifende Tendenz. Alles in allem handelt es sich um eine komplizierte Gemengelage aus objektiven geopolitischen Veränderungen, der gesellschaftlichen Stimmung, die eine introvertiertere Politik favorisiert, und der hemmungslosen autoritären Orientierung von Donald Trump. Allerdings muss man auch festhalten, dass es im Moment so aussieht, als ob Joe Biden recht gute Chancen auf den Sieg hat und die transatlantische Apokalypse noch ein wenig auf sich warten lässt.

Die Außen- und Sicherheitspolitik der USA wird von sehr professionellen und ausdifferenzierten Strukturen getragen. Kann man davon ausgehen, dass deren schiere institutionelle Trägheit drastische Änderungen vielleicht nicht aufhalten, aber doch behindern würde?

Nein. Das hat bereits in der vorherigen Administration nicht funktioniert – entgegen der Legende, dass sich die adults in the room klug verhalten und wenn nötig Widerstand leisten. Das sind zum großen Teil Selbststilisierungen von Leuten, die ganz bewusst während der Präsidentschaft Donald Trumps in die Administration eingetreten sind, jeden Tag ins Büro gingen, um für den Präsenten der Vereinigten Staaten zu arbeiten, und hinterher behaupteten, dass sie das Schlimmste verhindert hätten. Das ist nicht glaubwürdig. Für mich persönlich war diese Erfahrung des Opportunismus und des Mitläufertums die erschütterndste dieser vier Jahre, weil sich die starke libertär-demokratische und antiautoritäre Tradition nicht in demokratisches Handeln übersetzte und sich erschreckend wenige Individuen, ob in der Wirtschaft, der politischen Bürokratie oder der öffentlichen Arena, entschieden und sichtbar auf die Seite von Verfassungstradition und Demokratie stellten. Der Rückblick auf diese vier Jahre erinnert auf unangenehme Weise an Raul Hilbergs Analyse zu Tätern, Opfern und Zuschauern. Hilberg beschreibt, dass es die Indifferenz war, die in den 1930er-Jahren die faschistischen Gesellschaften in Europa kennzeichnete. Ohne die Situationen historisch gleichsetzen zu wollen, sticht diese Ähnlichkeit ins Auge: Auch heute herrscht Indifferenz angesichts von Grausamkeit. Die Zuschauer rechtfertigen ihre Gleichgültigkeit und Passivität mit Verweis auf vermeintlich überhandnehmende Probleme. Das können heute der politische Islam und der Terrorismus sein oder die Migration und die vielen Mexikaner oder die politische Korrektheit, gleichgeschlechtliche Ehen und Identitätspolitik. Die Themen sind verhandel- und oft austauschbar. Selektive Empathie hat das Spiel mit Grausamkeit gegen andere, mit der Verletzlichkeit von Schwachen oder Minderheiten ebenso ermöglicht wie die Trump Ära bewiesen hat, dass man Regeln brechen kann und damit davonkommt. Ich glaube, das macht für die gebildeten Mittelschichten die uneingestandene Attraktivität des Trumpismus aus.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Trumps Aufrufe zu Gewalt gegen Journalisten. Das allgemeine Ressentiment gegen die sogenannte Lügenpresse und die verbreitete Behauptung, Journalisten würden ihre eigene Agenda verfolgen, haben unglaubliche Resonanz erzeugt und zum Teil Handgreiflichkeiten auf Wahlkampfveranstaltungen nach sich gezogen. Nie vergessen werde ich Trumps Medienauftritt direkt an der Grenze zu Mexiko, nachdem die Errichtung der Mauer begonnen hatte. Es war ein sehr heißer Tag und er sagte vor laufenden Kameras, dass die Stahlträger, aus denen die Barriere maßgeblich bestand, mit schwarzer Farbe lackiert worden seien, damit die Migranten sich, wenn sie darüber klettern wollen, die Hände verbrennen. Die Reaktion war allgemeine Erheiterung unter seinen Mitarbeitern und den anwesenden Grenzschutzbeamten. Solche Enthemmung, das rhetorische Spiel mit Grausamkeit hat auch den Sturm auf das Kapitol befördert. Zum Glück hat das FBI nach dem 6. Januar entschieden reagiert, über 900 Strafverfahren eröffnet und, zum Teil mit Erfolg, hohe Gefängnisstrafen gefordert. Aber die zentrale Erfahrung der Zeit ist, dass Mitläufer und Zuschauer ebenso zahlreich wie indifferent sind gegenüber der Zerstörung demokratischer Traditionen.

Auf den Punkt gebracht, würden Sie sagen, Trumps Erfolg beruht auch auf der Ermöglichung von Grausamkeit?

Ja.

Woher rührt dieser Wunsch nach Grausamkeit?

Das läßt sich in Kürze nicht hinreichend beantworten, hat aber mit der Verfasstheit der modernen amerikanischen Gesellschaft zu tun. Es gibt einige Aspekte, über die sich das Nachdenken lohnt: Selbst in gut situierten Mittelschichten grassieren oft Verarmungsängste. Die USA sind ein Land mit schwachen Gewerkschaften, in dem Risiken stärker noch als in Europa individualisiert werden. Selbst Leute, sehr gut verdienen, haben oft 60 oder 90 Tage Kündigungsfrist, und sobald sie arbeitslos werden, können sie ihren Kredit für das Haus und das College für die Kinder nicht mehr zahlen und verlieren obendrein die Krankenversicherung. Daher existieren viele irrationale, zum Teil jedoch nachvollziehbare Existenzängste, auch unter den Wohlhabenden. Zudem sind das Sozialwesen, die Gesundheitsversorgung und der Bildungssektor stark kommerzialisiert, was den Druck auf die Einzelnen massiv erhöht. Vor diesem Hintergrund ist es attraktiv, vereinfachend zu fragen: „Wer ist schuld, wen kann ich dafür zur Rechenschaft ziehen, dass ich mich unwohl fühle in dieser Gesellschaft?“ Donald Trump gelingt es, diese Affekte auf effiziente Weise zu kanalisieren und politisch Nutzbar zu machen. Er hat es geschafft, einen primordialen Urschrei weißer Mittelschichten zu initiieren, die sich gegen den Verlust ihrer illegitimen Privilegien aufbäumen. Darin besteht im Moment die größte politische Herausforderung der amerikanischen Gesellschaft. In Europa gibt es Dynamiken, die denen in den USA nicht ganz unähnlich sind, wie die Erfolge von Vox in Spanien, der gegenwärtigen Regierung in Italien oder auch die Transformation des politischen Systems in Ungarn zeigen.

Die Außenpolitik spielt also nur eine untergeordnete Rolle?

Außenpolitik ist in den Vereinigten Staaten sehr stark innenpolitisch kodiert. Das war nicht immer so: die innenpolitischen Rahmenbedingungen beeinflussen die Außenpolitik heute sehr viel stärker, als das in der Phase des Kalten Krieges der Fall war. Das ist eine qualitative Veränderung, die mit langer zeitlicher Verzögerung, das endgültige Ende des Kalten Krieges indiziert und eine neue Ära einleitet, von der wir noch nicht genau wissen, nach welchen Logiken sie sich global konstituieren wird. Deshalb muss man, wenn man heute amerikanische Außenpolitik verstehen will, sehr viel besser gesellschaftspolitisch und gesellschaftsgeschichtlich informiert sein als noch vor 30 Jahren.

Verschärfend kommt hinzu, dass in der deutschen meinungsbildenden Presse, insbesondere der Springer-Presse, aber auch beim Spiegel, ein deutlicher Qualitätsverlust der US-Berichterstattung zu verzeichnen ist. Oft fehlen gesellschaftsgeschichtliche und soziologische Grundkenntnisse über die amerikanische Gesellschaft. Es ist bizarr, dass immer wieder Journalisten, Politikerinnen oder Diplomaten aus Washington in den mittleren Westen fahren um „das wirkliche Amerika“ zu verstehen. Ganz so, als ob man mit einem Ausflug von Berlin nach Hoyerswerda ganz Deutschland begreifen könnte. Natürlich mögen solche Ausflüge interessante ethnologische Erfahrungen sein, aber die Fokussierung auf die verarmten unteren Mittelschichten im Mittleren Westen, auf die von den Demokraten enttäuschten Weißen, die Donald Trump wählen, erzeugen ein verzerrtes Bild. Wenn es hoch kommt, macht diese Gruppe vielleicht 13 oder 14 Millionen Stimmen aus – von 74 Millionen Menschen, die 2020 für Trump gestimmt haben. So geht der Blick auf das verloren, was gesellschaftspolitisch wirklich gefährlich ist: eine breite Abwanderung von gebildeten Mittelschichten an den rechten Rand der Kulturkampf-Partei, in die Trump die GOP verwandelt hat. Ich nenne diese Gruppe virtuelle Emigranten, die sich aus der amerikanischen Tradition verabschiedet haben.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Demokratie Gesellschaft Internationale Politik Macht Politik Staat / Nation

Michael Werz

Dr. Michael Werz ist Senior Adviser für Nordamerika und multilaterale Angelegenheiten bei der Münchner Sicherheitskonferenz und Senior Fellow am Center for American Progress in Washington, wo sich seine Arbeit in den letzten 15 Jahren auf den Nexus von Klimawandel, Migration und Sicherheit sowie auf Schwellenländer, insbesondere die Türkei, Mexiko und Brasilien, konzentriert. Er ist ein Non-Resident Fellow am Center on Contemporary China and the World an der Universität Hongkong und Co-Direktor von Nexus25. Zuvor war er Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund und arbeitete zu transatlantischer Außenpolitik und der Europäischen Union. Zudem war er als Public Policy Scholar am Woodrow Wilson Center in Washington, D.C., und als John F. Kennedy Memorial Fellow am Minda de Gunzburg Center for European Studies in Harvard tätig. Werz hat zahlreiche Artikel und mehrere Bücher veröffentlicht, die sich mit einem breiten Spektrum wissenschaftlicher und politischer Themen befassen, darunter Rasse und Ethnizität im 20. Jahrhundert, westliche Sozial- und Geistesgeschichte, Minderheiten in Europa und den Vereinigten Staaten, ethnische Konflikte, europäische Politik und Antiamerikanismus. Er promovierte am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt am Main und ist ehemaliger Professor an der Universität Hannover sowie ehemaliger und außerordentlicher Professor am Center for German and European Studies der Georgetown University.

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Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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