Andreas Arndt | Rezension |

Befreiung durch ästhetische Faszination

Rezension zu „Theorie der Befreiung“ von Christoph Menke

Christoph Menke:
Theorie der Befreiung
Deutschland
Berlin 2022: Suhrkamp
720 S., 36,00 EUR
ISBN 978-3-518-58792-8

Am Anfang von Christoph Menkes opus magnum „Theorie der Befreiung“ steht die These, dass wir „in einer Zeit gescheiterter Befreiungen“ leben. Alle Befreiungsversuche hätten sich „in Paradoxien und Widersprüche verfangen“ und dadurch enthüllt, „dass die Befreiung in Wahrheit immer schon der Rechtfertigung von Herrschaft diente.“ (S. 9) Es gehe daher „darum zu verstehen, wie die Befreiung versucht wurde, warum sie gescheitert ist – und wie es vielleicht anders geht.“ (S. 10) Wer nun erwartet, es werde ein Rückblick auf Befreiungsbewegungen etwa des 19. oder 20. Jahrhunderts und die mit ihnen verbundenen Enttäuschungserfahrungen geworfen, sieht sich indessen schnell getäuscht. Es geht nicht um historische Beispiele und auch die Antwort darauf, wie es anders – ohne den Umschlag von Befreiung in erneute Herrschaft – gehen könnte, fällt eher kryptisch aus: Die Politik der Befreiung sei eine Politik der Erziehung; sie solle „einen neuen Menschen schaffen“, indem das Subjekt daran erinnert werde, „wann, wie und worin es sich schon befreit hat.“ (S. 579) Damit verbunden ist die These, dass „radikale Befreiung [...] in der Erfahrung schon wirklich“ sei und „immer – überall, durch jede und jeden, an jedem Ort und in jeder Zeit: in jeder Kultur – verwirklicht werden“ könne (S. 573). Diese These, die wohl an eine Überlegung Adornos anknüpft,[1] unterstreicht, dass es bei der Erziehung nicht um einen geschichtlichen Prozess nach dem Vorbild von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts geht, sondern um die Bildung nach dem Vorbild von Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen: erreicht werden soll der ästhetische Zustand der „Bestimmungsfreiheit“ (S. 554), in dem das Bestimmtwerden durch Andere beziehungsweise Anderes zurückgenommen ist, und von einer ursprünglichen Spontaneität des Subjekts abgelöst wird.

Worum es Menke also geht, ist das Freiheit konstituierende Moment in jedem möglichen Akt der Befreiung und die Frage, wie es festzuhalten ist, damit Befreiung nicht wieder in Unfreiheit umschlägt.

Entsprechend bleiben der Begriff der Befreiung und seine Konnotationen bewusst unscharf. Befreiung ist „sowohl politisch wie ethisch, rechtlich, ästhetisch, ökonomisch, religiös, kulturell“, ohne dass diese Bereiche im Blick auf Freiheit und Befreiung von Menke ausbuchstabiert würden. Vielmehr will die Theorie der Befreiung „ein Moment radikaler Befreiung – das Moment der Spontaneität – verstehen, ohne das es überhaupt keine Befreiung, in keiner ihrer Gestalten, geben kann.“ (S. 577) Worum es Menke also geht, ist das Freiheit konstituierende Moment in jedem möglichen Akt der Befreiung und die Frage, wie es festzuhalten ist, damit Befreiung nicht wieder in Unfreiheit umschlägt. Die Theorie der Befreiung nämlich „ist eine Theorie des Widerspruchs, des Widerspruchs der Befreiung mit sich selbst“ (S. 10), indem sie „durch sich selbst in Herrschaft umschlägt –, ohne ihre Entgegensetzung [gegen die Herrschaft] aufzugeben.“ (S. 11) Insofern sei die Befreiung als „das Prozessieren ihres Widerspruchs“ zu verstehen und nicht als ein „bestimmbarer Gegenstand, sondern, in jedem ihrer Elemente, ein Prozess“ (S. 13).

Weil dieser Prozess aber nicht als Geschichte der Freiheit beziehungsweise der Befreiung zu verstehen ist, sondern sich jederzeit und überall ereignen können soll, konzentriert sich die Theorie der Befreiung auf deren Ereignischarakter: „Die Befreiung fängt damit an, dass uns etwas fasziniert: dass wir auf etwas treffen, das wir nicht erfassen und bestimmen können und das uns deshalb anzieht und fesselt. Sich zu befreien beginnt damit, dass wir in der Erfahrung befreit werden.“ (S. 14) Solche Faszination bedeutet zweierlei. Zum einen löst sie eine ästhetische Erfahrung aus: Sie begründet das, was Menke schließlich als „ästhetischen Materialismus“ bezeichnet und den er dem „absoluten Idealismus“ Hegels entgegensetzt. Dieser Materialismus verstehe „die gewohnheitsdurchbrechende Erfahrung der Negativität nicht als Staunen, sondern als Faszination“ (S. 216). Faszination wird hier dem aristotelischen thaumázein (Staunen) entgegengesetzt, da in der Faszination das Denken Selbstverständlichkeiten kritisch hinterfrage. Im Umkehrschluss sei das Staunen als idealistisch anzusehen. Zum zweiten durchbricht die Faszination Routinen und Gewohnheiten, die – und das ist für Menkes Theorie entscheidend – unter den Generalverdacht stehen, Unfreiheit zu bedeuten, weil sie das Subjekt als Individuum auf eine Identität festlegten. Die „Befreiung von der Identität der Gewohnheit“ sei „die Befreiung vom Eigenen“ (S. 420). Menke bringt für dieses Verständnis von Befreiung Heidegger ins Spiel, genauer gesagt: die Debatte zwischen Heidegger und Cassirer in Davos, wobei Cassirer für die idealistische, Heidegger für die „ästhetisch-materialistische[] Bestimmung der Freiheit“ stehe (S. 226–229). Tatsächlich kommt ja die pauschale Kritik an Gewohnheiten mit Heideggers Kritik des „Man“ als dem Verfallensein an die Welt überein, dem nur durch das „Sich-befreien der Freiheit im Menschen“ (S. 226, Heidegger-Zitat) zu begegnen sei, durch das also, was in Sein und Zeit als „Entschlossenheit“ vorgeführt wird.[2] Unter Heideggers Marburger Studierenden kursierte das Bonmot, sie seien entschlossen, wüssten aber noch nicht, wozu; diese Vagheit in Bezug darauf, wovon und wozu sich ein Mensch befreit, teilt Menkes ästhetischer Materialismus mit Heideggers Existenzialontologie – es gehe um „die Bejahung der Endlichkeit“ (S. 227).

Das Buch beginnt also folgerichtig mit einer „Ästhetik der Befreiung“ (Abschnitt I, 19–235), stellt dann zwei einander entgegengesetzte und letztlich defizitäre „Modelle“ der Befreiung, Ökonomie und Religion, vor (Abschnitt II, S. 237–469) um schließlich einen „Begriff radikaler Befreiung“ zu entwickeln (Abschnitt III, S. 471–576). Eingerahmt werden diese Abschnitte von einer Einführung (S. 9–18; „Der Kampf der Befreiung“) und einem knappen „Ausblick: Politik“ (S. 577–580).

Menke beginnt mit einer Folge von Thesen, welche die gängige Bestimmung von Freiheit als Abwesenheit von Nötigung aufnehmen und wie folgt zuspitzen: Die Freiheit des Anfangens sei die Negation der Unfreiheit (These 1), es könne diese Freiheit aber nur geben, indem „sie nicht ist, sondern wird“ (These 2), so dass die Unfreiheit nicht nur das Andere der Freiheit, sondern als dieses Andere auch „der Anfang der Freiheit sei“ (S. 28). Die Freiheit gebe es demnach nicht, „bevor sie negiert und im Widerspruch gegen ihre Negation hervorgebracht wird“ (S. 29). Menke betont, dass alles darauf ankomme, wie diese Konstitution der Freiheit durch eine doppelte Negation verstanden wird (ebd.). Solchen Paradoxien begegnen wir bei der Lektüre nicht zufällig auf Schritt und Tritt, denn es sind „Paradoxien, die uns faszinieren“ (S. 530) und damit auch die Befreiung von gewohnten Vorstellungen in Gang setzen können. Das Freiheit und Unfreiheit aufeinander verweisen und sich wechselseitig negieren leuchtet ebenso ein wie die Folgerung, Freiheit sei kein Zustand, sondern immer im Werden, da sie sich stets gegen Unfreiheit zu behaupten habe. Die daraus gefolgerte Paradoxie des Anfangens jedoch bedarf in der Tat einer gründlichen Erörterung, denn die zu negierende und den Anfang der Befreiung machende Unfreiheit setzt ja auch umgekehrt die Freiheit voraus, so dass Freiheit ebenso der Anfang der Unfreiheit ist wie Unfreiheit der Anfang der Freiheit.

Menke bearbeitet diese Paradoxie genealogisch, indem er die Herkunft des Theorems der Freiheit als Befreiung in der griechischen Antike verortet, von wo aus es die ganze westliche Kultur geprägt habe. Die für die europäisch-westliche Welt maßgebende Verbindung von Freiheit und Selbstbewusstsein sei ebenfalls Produkt dieser Epoche, wobei „die Knechtschaft, gegen die sie sich richtet, in anderer, neuer Gestalt: in der Gestalt des Subjekts, das diese Befreiung hervorbringt“ reproduziert wurde (S. 30 f.). Die Frage nach dem Ursprung wird anhand zweier entgegengesetzter Forschungspositionen diskutiert. Die eine (Raaflaub) besagt, dass Freiheit als Selbstbehauptung gegenüber einer äußeren Bedrohung (Perserkriege) entdeckt wurde: „Und weil dies bedeutet, sich selbst beherrschen zu können; weil ‚Freiheit‘ also Selbstbeherrschung heißt, beansprucht der Freie, auch über andere zu herrschen.“ (S. 41) Die andere Position (Patterson) besagt, dass es die in der Tragödie verarbeitete Empathie mit dem Schicksal versklavter Frauen sei, die der Erfahrung der Unfreiheit zugrunde liege. Es handle sich hier insofern um eine „Befreiung der Befreiung“, als die Verbindung der Freiheit als Privileg mit der Herrschaft aufgekündigt werde. Doch auch hier gelte: „Die westliche Freiheitsidee wird dieses Problem nicht los; die Knechtschaft kehrt im Inneren der Freiheit wieder“ (S. 45). Die griechische Auffassung der Freiheit besteht demnach darin, sich als Subjekt zu verstehen, das selbstbestimmt handeln kann, was für Menke jedoch zugleich auch bedeutet, dass die Befreiung zum Subjekt in einer (Selbst-)Disziplinierung gründet (S. 63). Hierin liege so etwas wie eine tiefere Schicht von Herrschaft, die die griechische (und ihr folgenden westliche) Freiheitsauffassung nicht reflektiere, weil Knechtschaft immer als Beherrschtwerden durch einen Anderen verstanden werde: nämlich die „Erfahrung der Knechtschaft als Gewohnheit und der Gewohnheit als Knechtschaft“ (S. 65), die der griechischen Freiheit immanent sei, „indem sie die Freiheit an das Bewusstsein und damit an das Subjekt bindet“ (S. 66).

Wie aber kann eine nicht religiöse ästhetische Erfahrung befreiend wirken?

Um dies näher zu begründen, wendet Menke sich der Knechtschaft durch die Gewohnheit in der jüdischen Erzählung vom Exodus zu. Diese mache deutlich, dass das Bewusstsein des Subjekts von der eigenen Handlungsfähigkeit „nicht die Kraft“ habe, „die knechtische Existenz zu verwandeln“ (S. 75). Im vergleichenden Rekurs auf Frantz Fanons Beschreibung der kolonialen Erfahrung wird betont, dass das Subjekt in der Gewohnheit ohnmächtig gegenüber dem Gesetz seiner Identität und damit gegenüber sich selbst sei: „Sein Können ist zugleich sein Müssen, seine Freiheit eine Notwendigkeit“ (S. 85). Dies sei die jüdische Erfahrung: sie „entdeckt die Knechtschaft im Innern des Subjekts, dessen Freiheit die griechische Erzählung feiert.“ (S. 87) Dem sei ein radikales Konzept von Befreiung entgegenzusetzen, das Menke mit Hannah Arendt als „Freiheit des Neuanfangens“ charakterisiert, wobei „‚neu‘ heißt: jenseits meiner Fähigkeiten, meiner Gewohnheiten“ (S. 99), eine „Befreiung zur Spontaneität“, die „unableitbar aus der menschlichen, ersten wie zweiten Natur“ sei (S. 106). Sie könne daher auch nicht in einem Wissen oder Selbstbewusstsein verankert werden, sondern entspringe einer ästhetischen Erfahrung, „die dem Denken vorhergeht, nicht ins Denken aufgehoben und nicht als subjektives Wissen angeeignet werden kann.“ (S. 108)

Dass Befreiung mit einer ästhetischen Faszination beginnt, lehrt die Geschichte des Exodus, in der Moses den brennenden und doch nicht verbrennenden Dornbusch sieht und aus ihm schließlich den Aufruf Gottes zur Befreiung seines Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft vernimmt. Wie aber, so ist zu fragen, kann eine nicht religiöse ästhetische Erfahrung befreiend wirken? Diese „Faszination ohne Gott“ (S. 147) wird im Hinblick auf die Fernsehserie Breaking Bad und den Surrealismus ausführlich erörtert; im Ergebnis hält Menke fest, dass die Befreiung „zugleich eine selbstbewusste Tat jenseits der Erfahrung sein müsse (weil die Befreiung in der Erfahrung dem Gewöhnlichen verfällt) und eine solche selbstbewusste Tat nicht sein könne (weil die Befreiung nur [...] als Erfahrung beginnen kann“); dieser Widerspruch könne nicht aufgelöst, sondern nur „ausgehalten beziehungsweise ausgetragen werden“ (S. 175). Befreiend ist die Faszination, indem sie über sich hinaus zur Entscheidung treibt, die Entscheidung beendet aber nicht die Erfahrung, sondern bejaht sie „als Befreiung in der Erfahrung“ (S. 182). Sie durchbricht das Wiedererkennen der Gewohnheit und kehrt dadurch zur Erfahrung zurück, über die sie mit der Entscheidung zugleich hinausgeht. Unter dieser Voraussetzung ist Denken „Eingedenken der Erfahrung“ und dieses Denken ist es, das Menke „ästhetischen Materialismus“ (S. 195) nennt. Ihn konfrontiert er mit dem „absoluten Idealismus“ (S. 196) Hegels, welcher im Staunen (thaumázein) immer nur die Begegnung des unendlichen Denkens mit sich selbst zu erkennen vermag: „Wir befreien uns, indem wir uns erinnern, dass wir schon frei sind. Im Staunen kommt uns die Freiheit des Denkens, des vermittelnden Setzens von Bestimmungen, von außen entgegen.“ (S. 214 f.) Dies könnte aber, so Menkes Einwand, nur dann gelingen, wenn sich alle Bestimmungen „als Resultat ihrer Vermittlungen mit anderen Bestimmungen“ einsichtig machen ließen: „Wir können aber niemals alle Vermittlungen – alle Vermittlungen zugleich – erfassen, aus denen eine Bestimmung resultiert“ und wiederholten damit einen Großteil der Bestimmungen, die uns begegnen, nur „gewohnheitsmäßig“, wodurch der Idealismus zu einer „Halbierung der Freiheit“ führe (S. 215). Statt die Freiheit als unendlich zu denken, erliege der Idealismus der Endlichkeit, die der ästhetische Materialismus von vornherein zur Geltung bringe, weil seine Freiheit sich „dem Anderen des Denkens“ verdanke (S. 217).

Das bisher Entwickelte wird im zweiten Abschnitt des Buches anhand zweier „Modelle“ weiter erläutert, die als „Grundmodelle einer Theorie der Befreiung“ verstanden werden (S. 239): Ökonomie und Religion. Beide gingen davon aus, dass die Befreiung durch eine Bestimmung von außen – durch die Natur oder durch Gott – zu vollziehen sei. Die ökonomische Befreiung versteht Menke als „Befreiung zur Selbständigkeit“ (S. 243), die er in einer teilweise atemberaubenden Engführung der Story von Breaking Bad mit den ökonomischen Freiheitsfantasien Friedrich August von Hayeks vorstellt. Freiheit bedeute demnach, „mit der sozialen, anteiligen Existenz zu brechen und Verantwortung für sich zu übernehmen (oder selbständig zu werden)“ (S. 309). Die ökonomische Befreiung scheitere jedoch daran, dass sie an den wirtschaftlichen Prozess gebunden bleibe, „der der Dynamik beständig verändernder [...] Serialisierung unterliegt“ (S. 334) und damit die Individualisierung scheitern lasse. Das zweite Modell – „Befreiung als Gehorsam“ – ruft noch einmal die Exodus-Erzählung auf, die hier mit Malcom X’s Bestrebungen in den 50er- und 60er-Jahren verbunden wird, eine schwarze „Nation of Islam“ von der weißen Bevölkerung in den USA abzuspalten. Die religiöse Befreiung befreit im Gehorsam „vom Eigenen, von der Identität der Gewohnheit“ (S. 420). Aber auch sie schlägt in ihr Gegenteil um, indem die Erinnerung an die Befreiung zum gesetzlichen Gebot und damit „autoritär“ (S. 441) wird. Mehr noch: „Es hat sich, wie alle Sittlichkeit, zu einem Instrument der Herrschaft gemacht“ (S. 443). Die Mystik entwickelt hier eine andere Form des Eingedenkens; sie versteht „die Bejahung der Befreiung durch ihre Erinnerung [...] als Erinnerung nach vorn“ (S. 455). Sowohl die Serialität der Ökonomie als auch das Gesetz ließen die Befreiung „an der Macht des Sozialen“ scheitern (S. 468), aber nicht auf gleiche Weise. Die Serialisierung der ökonomischen Existenz könne – wie in Breaking Bad – als lustvoll erfahren werden und damit über sich hinausweisen, während die Mystik dieses Potenzial verwirklichen könne, indem sie vom Gesetz zu der ursprünglichen Erfahrung der Faszination zurückkehre. Hier habe ein radikaler Begriff der Befreiung anzusetzen.

Dieser Begriff ist Gegenstand des dritten Abschnitts, der mit einem systematischen Rückblick beginnt (S. 476 ff.). Beide Modelle – Ökonomie und Religion – berührten sich, wenn ihre „Dialektik“ betrachtet werde. Die Wahrheit der ökonomischen Befreiung sei dabei in ihrer positiven Bedeutung zu bestimmen, was im Kontrast zum „Sozialismus“ geschehe, der die ökonomische Befreiung nur als Unfreiheit ansehe: „Die sozialistische These lautet: Die Befreiung kann (und darf) niemals radikal sein; die Befreiung und die Freiheit sind sozial“ (S. 506). Dem hält Menke (unter Verweis auf Breaking Bad) als „Gegenthese zur sozialistischen Kritik“ entgegen: „Die Serialisierung ist nicht das Scheitern, sondern ein Element der Befreiung; die Serialisierung zu genießen ist die Lust an der Freiheit.“ (S. 507) Die „Dialektik der Religion“ (S. 508 ff.) beziehe sich dagegen auf das Gebot, welches „das Selbst aus der sozialen Ordnung unter Gesetzen“ herausruft und ihm gebietet, das Gebot zu hören und sich vor ihm zu verantworten: „Das heißt, die Anrede [durch das Gebot, A.] macht das Selbst normativ“ (S. 509). Widersprüchlich werde das Gebot dadurch, dass es sich gegen die Gefahr richte, vergessen zu werden, wodurch es sich selbst vergesse und zu einem Gesetz mache, dessen Herrschaft es beenden wollte (S. 515). Die Mystik sprenge diese „paradoxe Verklammerung von Gebot und Gesetz“ dadurch auf, dass sie das Gebot als „in sich gespalten zwischen Gebot und Nichtgebot, nomisch und antinomisch, personal und anonym, normativ und anormativ“ erkenne (S. 517). Sie führe „hinter das Gebot in seinen anonymen Grund der Faszination“ zurück (S. 519) und treibe damit über die Religion hinaus. Hier, jenseits der Religion im Rahmen von Gebot und Gesetz, treffe sich die mystische Bewegung der Befreiung mit der ökonomischen: „beide koinzidieren darin, dass sie an ihrem Ende die ästhetische Faszination in ihrer Reinheit wiederentdecken, ohne die sie gar nicht hätten beginnen können, die beide aber bereits in ihrem allerersten Schritt vergessen und verstellt haben“; diese Faszination sei die „Faszination der Lebendigkeit“ (S. 520).

Tatsächlich treibt Menke die Paradoxien auf die Spitze, weil für ihn Befreiung und Unterdrückung, Freiheit und Knechtschaft nie voneinander zu trennen sind und nur in ihrer Gegensätzlichkeit existieren.

„Lebendigkeit“ steht für die Befreiung „von der Subjektivität, Praxis und Gesellschaft“ und den „Rückgang hinter die Gewohnheit“ (S. 526). Die Verwirklichung der Befreiung vollzieht sich für Menke in drei Schritten: „von dem Ereignis der Befreiung in der ästhetischen Erfahrung zurück zu dem Spalt, der sich durch die subjektivierende Gewöhnung in der Existenz des Menschen öffnet, und dadurch voran zu der Praxis der Befreiung, die ein neues Gesetz errichtet.“ (S. 529) Dies scheint Subjektivität, Praxis und Gewohnheit wiederherzustellen; tatsächlich treibt Menke hier die Paradoxien auf die Spitze, weil für ihn ja Befreiung und Unterdrückung, Freiheit und Knechtschaft nie voneinander zu trennen sind und nur in ihrer Gegensätzlichkeit existieren. So ist dann auch die Befreiung durch Faszination im radikalen Sinn zwar „Befreiung von der Gewohnheit“, zugleich gilt jedoch: „Es gibt aber kein Jenseits der Gewohnheit; die Gewohnheit ist alles, was es gibt.“ (S. 535) Die Befreiung kann daher nur in der Gewohnheit erfolgen, indem wir die Befreiung nicht als (momentanen) Bruch verstehen, sondern der „Befreiung, die wir in der Faszination erfahren, treu [...] bleiben“ (S. 537). Dies geschieht einerseits, indem wir sie denken und den Menschen „als das Wesen, das die Erfahrung der Faszination macht und dadurch frei ist“, bestimmen (S. 538). Andererseits wahren wir die Treue darüber, unser Bestimmen zu verändern und „nach einer – anderen, neuen – Weise des Bestimmens zu suchen, die die unbestimmte Bestimmbarkeit erinnert und wiederholt“ (S. 538).

Paradox erscheint auch die Subjektivierung, durch die aus dem natürlichen Individuum der „Teilnehmer einer normativen oder symbolischen Ordnung wird“ (S. 541). Damit dies durch die „Anrede“ von außen geschehen kann, muss das Individuum aber schon „in seiner Natur negativ“ und „die natürliche Negation seiner natürlichen Einheit“ sein (S. 549), so dass die Natürlichkeit entweder bleibende Voraussetzung ist oder die Existenz des Subjekts in das Subjekt und den Menschen entzweit ist (S. 550). Die Faszination macht demnach deutlich, dass die „Anrede“ und damit die ganze normativ-symbolische Ordnung eine natürliche Unbestimmtheit schon immer voraussetzt. Die Faszination setzt das Subjekt in den Zustand der Bestimmungsfreiheit zurück.

Diese „Rückkehr zum Natürlichen“ aber „ist die Wiederholung des ersten normativen Akts [...]. Die Bewegung der radikalen Befreiung biegt sich also in sich zurück“ (S. 556). Dies scheint die radikale Befreiung in einen unlösbaren Widerspruch zu verstricken: Die Befreiung von der Praxis des „gewohnheitsmäßigen, identitären Bestimmens“ (ebd.) innerhalb der normativen Ordnung führt nur zur Wiederholung der normativen Anrede. Dem hält Menke entgegen: „Der Akt der normativen Anrede ist selbst noch nicht normativ und subjektiv (oder sozial).“ (S. 557) Die Anrede setze vielmehr „das Subjekt in seinen vorsubjektiven, natürlich-gegennatürlichen Nullzustand wirkender Triebe und Kräfte“ zurück (S. 564) und spalte daher „die Normativität in sich auf oder von sich ab: Sie stellt die Äußerlichkeit des Normativen im Normativen wieder her“ (S. 565) und befreie so von unserer „sittlich-gesetzlichen Identität, als Subjekte“ (S. 570). Am Anfang steht auch hier nicht das Hören eines Gebots, sondern die Faszination des Sehens, wie in der Geschichte vom brennenden Dornbusch im Buch Exodus (S. 570 f.). Hieraus resultiere die Universalität der Befreiung, die „überall, jederzeit, von allen“ verwirklicht werden könne (S. 575). Eine Politik der Befreiung könne daher auch nur in einer ästhetischen Erziehung zur Faszination bestehen (S. 579).

Darstellungsform und Inhalt der Theorie der Befreiung kongruieren.

Menkes Theorie der Befreiung stellt eine herausfordernde Lektüre dar, denn der verschlungene Argumentationsgang ist nur mit viel Geduld nachzuvollziehen. Immer neue Paradoxien werden aufgerufen, deren Funktion offensichtlich darin besteht, Lese- und Denkgewohnheiten zu durchbrechen und so das Denken der Befreiung im Nachvollzug selbst zu befreien. Darstellungsform und Inhalt der Theorie der Befreiung kongruieren. Tatsächlich gelingt es Menke, beim Lesen – wenn man sich denn einmal auf die Mühsal des Nachvollzugs einlässt – eine eigentümliche Faszination zu erzeugen und vermeintliche Gewissheiten immer wieder in Frage zu stellen. Zweifellos handelt es sich um einen brillanten philosophischen Entwurf, der durch die Radikalität seiner Fragestellung die Leser:innen einlädt, die Probleme der Freiheit und Befreiung neu zu denken.

Dennoch bleibt – jedenfalls beim Rezensenten – am Ende ein Unbehagen zurück. Wenn es um die Verwirklichung der Befreiung im gesellschaftlich-politischen Kontext geht – und das Interesse an dieser Frage dürfte bei den meisten Leser:innen im Vordergrund stehen – gelangt Menke nur zu einem vergleichsweise bescheidenem Schluss, einem Remake von Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795): „Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb [...] an einem [...] Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“[3] Vielleicht ist das nicht oder nicht ausschließlich so gemeint, aber die ästhetische Erziehung ist das letzte Wort der Theorie der Befreiung und die Unbestimmtheit der Rede von einer Befreiung, die „überall, jederzeit, von allen“ vollzogen werden könne, lässt eine andere als eine ästhetische Realisierung der Befreiung auch nicht in den Blick kommen. Jede gesellschaftlich-politische Befreiung wäre von historischen Realisierungsbedingungen abhängig, die Menke überhaupt nicht thematisiert. Im Gegenteil – die von ihm gedachte Befreiung ist ja nicht zuletzt immer auch eine Befreiung von der Sozialität beziehungsweise „Sittlichkeit“.

Damit ist ein weiterer Punkt benannt, der Unbehagen verursacht. Auch wenn Freiheit gewiss kein Zustand ist, sondern immer als Prozess und insofern auch als Befreiung gedacht werden muss, so ist Befreiung doch nicht ohne einen Begriff von Freiheit zu denken. Hierfür reicht es nach meiner Auffassung nicht, Freiheit allein im Gegensatz zu Knechtschaft beziehungsweise Herrschaft zu verstehen, denn dann verfestigt sich ein negatives Freiheitsverständnis, das sie als bloße Abwesenheit von Fremdbestimmung ansieht und letztlich nur vereinzelte Einzelne in den Blick bekommt. Menkes durchgängige Perhorreszierung von Gewohnheiten und sozialen Bindungen als Elemente von Knechtschaft deuten ebenfalls in diese Richtung. Freiheit wird dann in der Konsequenz – auch ohne Rekurs auf atomistische Vergesellschaftungstheorien – zu einer Art persönlichem Besitz gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen hypertrophiert, wodurch sie sich autoritär gegen Andere wendet, also in Herrschaft umschlägt.[4] Das ist nicht Menkes Position, aber seine Theorie der Befreiung klammert die Problematik stillschweigend aus, wie Befreiung gesellschaftlich zu vollziehen wäre.

Hier wäre meines Erachtens in zwei Hinsichten von Hegel, der im Buch nur als idealistischer Vollender der griechisch-westlichen Auffassung von Befreiung erscheint, in zu lernen.[5] Tatsächlich ist das, was Menke ihm als „Halbierung der Freiheit“ ankreidet, wohl eher Hegels Realismus geschuldet, denn dass das Denken alle realen Bestimmtheiten aus sich heraus zu setzen vermag, behauptet Hegel gar nicht. Das Resultat des reinen Denkens, die absolute Idee, ist zwar der Begriff der Freiheit, aber die gesellschaftlich-politische Realität der Freiheit ist damit nicht identisch, da der objektive Geist als endlicher dem Begriff gegenüber in gewissem Maße immer äußerlich bleibt. Befreiung verwirklicht sich daher für Hegel nur geschichtlich nach Maßgabe objektiver Möglichkeiten – dieser Aspekt einer Geschichte der Freiheit findet in Menkes zeit- und ortloser Thematisierung von Befreiung systematisch keinen Ort. Und auch ein anderer Gesichtspunkt, der für Hegel entscheidend ist, fällt der Interpretation der Gewohnheit als Unfreiheit zum Opfer: Freiheit bedarf der Institutionalisierung, welche das soziale Miteinander in Freiheit und Freiräumen sichert, die nicht täglich und stündlich neu erkämpft werden müssen. Wie unkonkret Menkes Vorstellung von Freiheit auch bleiben mag: Gemessen an dem vorgetragenen Anspruch radikaler Befreiung, mag die institutionalisierte nur die halbe Freiheit sein – aber vielleicht ist sie ja wirklich nur als Einsicht in die Notwendigkeit und damit als Stückwerk zu haben?

  1. Vgl. Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt am Main 2006, S. 249, wo es heißt, er – Adorno – möchte fast denken, dass es „im Gegensatz zu der gesamten dialektischen Tradition von Hegel und von Marx [...] eigentlich immer möglich gewesen wäre, daß es in jedem Augenblick möglich gewesen wäre“, die Freiheit zu verwirklichen.
  2. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, 305 ff. (§ 62).
  3. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, München 1993, Bd. 5, S. 667.
  4. Vgl. dazu Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des Libertären Autoritarismus, Berlin 2022.
  5. Vgl. dazu näher Andreas Arndt, Freiheit, Köln 2019.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Kritische Theorie Kunst / Ästhetik Philosophie

Andreas Arndt

Andres Arndt ist emeritierter Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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