Alexander Kluge, Joseph Vogl | Essay |

Begriffskatastrophen

Wirklichkeitszerfall im April 2020

Kluge: Stellen Sie sich vor, Außerirdische kämen zu uns. Die haben keine Erfahrung, sie würden uns umbringen aus Ungeschicklichkeit. So ist es mit diesen Coronaviren, Außerirdische vom selben Planeten. Die kommen aus einer anderen Evolution. Und es ist ein absoluter Zufall, dass sie unsere Lungen anfallen. Die nehmen nicht „Lunge“, „Atmen“, „Mensch“ wahr, sondern „warm“ und „hochinteressante Art von Feuchtigkeit“.

Vogl: Es ist eigentümlich, dass diese Wesen, die weder lebendig noch tot sind, irgendwie lebende Kristalle, dass diese Wesen gerade dadurch herausfordern, dass sie einen Vorsprung an praktischem Wissen zu haben scheinen, dem Virologen, Epidemiologen, Hygieniker, Politiker notgedrungen hinterherlaufen. Die Gegenstände der Natur, die Sachverhalte der Evolution sind alles andere als dumm, sie entwickeln vielmehr eigene Intelligenzen, die allerdings nichts mit unserer, mit menschlicher Intelligenz zu tun haben, also mit der Art und Weise, wie man die Dinge da draußen auf den Begriff bringt. Sie lösen Begriffskatastrophen aus. Und nun haben wir – vorläufig und behelfsweise – bestimmte Umgangsweisen eingeübt. Das betrifft auf der einen Seite eine rechnerische Verarbeitung des Unbekannten, Wahrscheinlichkeitswissen und Statistik, die Fassung von Ungewissheitszonen, die nur zu provisorischen Urteilen führen können, kein wahr oder falsch kennen, in einer Grauzone zwischen mehr oder weniger wahrscheinlich operieren und deswegen auch eine äußerst kurze Verfallszeit haben. Halbwissen, das täglich, stündlich überprüft und angepasst werden muss.

Kluge: Aber es kommt noch etwas hinzu, und das ist, auf der sozialen Ebene, das Entstehen einer Aggression, die jetzt die alte Wirklichkeit wiederherstellen will. Und dazu brauche ich einen Feind, ich muss sozusagen das, was ich nicht verstehe, nicht weiß und nicht aushalte, auslagern, jemandem zuschreiben, einen Schuldigen finden. Die Judenverfolgungen während der Pestepidemien im 14. Jahrhundert, heute die Verschwörungsgeschichten – die Gefahr soll eine Adresse haben.

Vogl: Ja, weil die Seuche ein unbequemes Wahrscheinlichkeitsobjekt ist, ein unscharfes Objekt, dessen Kausalität sich nicht klar nachzeichnen lässt, wo Ursachen- und Begründungsketten brüchig sind. Und an diesen Stellen setzen Erzählungen ein, die klare Kausalitäten haben wollen, direkte Ableitungen, überschaubare Begründungszusammenhänge. Das ist der Stoff von Verschwörungstheorien aller Art: Sie verwandeln Ungewissheiten in determinierte Abläufe, in lineare Geschichten, als wäre der Zufall, die unklare Herkunft schlicht nicht auszuhalten.

Kluge: Da möchte man lieber lügen – ich meine das ja nicht als vorsätzliche Lüge, aber man würde lieber Wirklichkeit neu produzieren, Illusionen wählen und so lange manipulieren, mit Hilfe aller Sinne, bis man wieder so etwas wie ein Wahrscheinlichkeitszutrauen gewinnt. Man braucht diese Haut. Nietzsche kann nicht davon lassen zu sagen, dass wir Illusionssucher sind und keine Wahrheitssucher. Wirklichkeit ist ein sehr eigentümliches Gebilde, und was wir Realität nennen, spinnen wir wie einen Kokon um uns. Auch Phantasie funktioniert so, das ist ein Fluchttier, horcht auf Gefahrensignale. Und dieses Fluchttier wird als Angriffswerkzeug zur Wirklichkeitsbeantwortung, zur Herstellung von kritischem Vermögen verwendet, so wie ein Kavallerie-Pferd erzogen wird zum Angriff, zur Attacke. Aber es ist das absolute Gegenteil, was Pferde als Fluchttiere von ihrem Instinkt her machen. Du musst sie verrückt machen, dass sie nach vorn, von Wahnsinn getrieben, fremde Pferde angreifen, das würden sie der Natur nach nie tun. Seismografisch genaue Gefahrenerkenner, dann flüchten, so schnell die Beine laufen können. Und so ist unsere Phantasie-Ausstattung geartet, das heißt, die Hälfte davon ist gar nicht positiv gerichtet auf die Nähe zur Wirklichkeit, zur Gefahr, sondern auf Abwehr und Flucht. Und diese beiden Richtungen müssten wir verstehen lernen, so dass eigentlich das Erzählen über das Virus jetzt erst langsam, in den nächsten fünf Jahren anfangen kann, auch wenn die Impfstoffe längst erfunden sind.

Vogl: Aber auf der anderen Seite geht der Wirklichkeitszerfall, den wir gerade erleben, auch mit einer erhöhten Beobachterintensität einher, man spaziert zwangsläufig mit geschärften Sinnen durch die Gegend. Schon in Daniel Defoes fiktivem Bericht Die Pest von London von 1722 ist das beschrieben: Die Stadt London ist nicht mehr wiedererkennbar, alle Sinne werden verwirrt und auf die Probe gestellt, das Auge, das Ohr, die Nase, mit verstörenden Gerüchen, Jammern und Schreien überall, menschenleeren Prospekten. Sogar der Tastsinn ist gefordert: Die Kranken, die ihre Pestbeulen betasten, finden sich im eigenen Körper nicht mehr zurecht. Im Grunde beschreibt ein Autor wie Defoe auch einen sensorischen Ausnahmezustand. Zudem hat sich heute die soziale Choreographie verändert, ein Drama der Distanz, ein Tanz der Körper auf Abstand, verbunden mit einem neuen Bewegungsbewusstsein, das sich wiederum mit einer Konzentration von Sinnesaktivitäten kombiniert. Türklinken, Einkaufskörbe, Ellenbogen oder Fußknöchel, Hände mit oder ohne Handschuhe, haptische Alarmzonen, Körperabstände, Minimalbewegungen, Blickrichtungen, akustische Signale wie Husten, Niesen oder Räuspern – all das gehört nun zum Signalement einer neuen sozialen Welt. Diese Sinneswelten und Tänze sind wohl Experimente zur Erprobung eines neuen Kollektivs.

Kluge: Das bringt mich auf den Begriff der Konstellation. Er wurde einmal von Sergei Eisenstein gebraucht, mit seiner Forderung, man müsse im Film konstellativ montieren. Also „stellar“, wie in einer Anordnung von Sternen, beweglich und nur durch Gravitation zusammengehalten. Die Gestirne sind ja nicht, wie Grandville das gezeichnet hat, über Brücken zusammengehalten und begehbar, von der Erde bis zum Saturn. Weder Schrauben noch Stangen verbinden die Himmelskörper, sondern die Substanz, die Masse selbst ist es, wodurch sie aufeinander bezogen sind und das Ganze in Bewegung bleibt. Oder auf einer Seite bedruckten Papiers: da springen mich zum Beispiel sieben Worte an, über die ganze Seite verteilt. Und wenn ich mich dem jetzt anvertraue und nicht nur einfach lese wie in der Schule, Zeile für Zeile, dann lösen diese Worte, ihre flüchtige Konstellation gewissermaßen einen Subtext aus, der in dem Buch gar nicht steht.

Vogl: Ja, bevor man zu denken beginnt, bevor sich eine klärende Intelligenz in Gang setzt, beginnt man zu lesen, erprobt man Lektüren. Wie man Sternbilder herstellt: Man blickt in den Himmel, erkennt Ähnlichkeiten, und in diesen Ähnlichkeiten liegt eine Urszene des Lesens, eine Zusammenschau von Elementen, Buchstaben, Wörtern. Das Auge geht vom Sehen zum Lesen über, es wird zu einem metamorphotischen Organ, dem sich eine fortlaufende Verwandlung des bloß Sichtbaren zum Schriftlichen aufdrängt. Walter Benjamin hat das einmal in einer „Lehre vom Ähnlichen“ beschrieben. Das heißt das Sammeln von Korrespondenzen, in denen die feinen Bezüge auf dem Spiel stehen, die sich zwischen den Zeichenelementen entspinnen. In dieser Lektüre, die den Konstellationen, der Verteilung der Elemente im Raum folgt, bildet sich eine Sprache vor der Sprache aus, eine Sprache ohne Wörter und ohne Rede, eine Textur und ein Geflecht, das sich allein der Korrespondenz der Schriftfiguren verdankt – ihrer Ähnlichkeit, ihrer Verwandtschaft oder Analogie. Bevor sich ein Sinn erschließt, bevor sich eine Bedeutung erschließt, bevor sich Bedeutungszusammenhänge herstellen, versucht der wandernde Blick mit der Überbrückung der großen Distanzen zwischen verstreuten Punkten eine Wiedererkennung von Figuren.

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                                                       Konstellationen

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Kluge: Jetzt sprechen Sie davon, was alles Schrift sein kann. In einem Buch sind die Buchstaben meist sehr eng gesetzt. Ich mag es aber, wenn man Teile von Sätzen herausrausreißen darf und groß in ein Bild gebracht lesen kann und dann wieder in den Text eintaucht. Das ist etwas anderes als eine Schlagzeile, eher ein Fragment, und dann fange ich wieder am Ganzen zu lesen an. Ich lese auch gern rückwärts, zum Beispiel ein so wunderbares Buch, das mich sehr fesselt und das ich wie eine Kartographie lesen könnte, Auch eine Geschichte der Philosophie von Habermas auf zweitausend Seiten: wenn man sozusagen instinktiv erst mal nachsieht, worauf er hinauswill am Ende, das wird im Schlusskapitel stehen. Und wenn ich den Appendix lese: welche Hauptwörter, welche Namen und Begriffe hat er denn unter A bis Z eingetragen. Langsam pirsche ich mich heran, bohre mich hier und dort ein wie in ein Bergwerk, vertiefe die Etagen und komme dann zum Beispiel in Mesopotamien an. Und diese Art der Suche wäre ebenfalls „konstellati

Vogl: Ja. Aber das heißt ja auch, dass selbst ein systematischer Denker wie Habermas…

Kluge: … der würde nicht billigen, dass man vom Ende des Buches nach vorne liest …

Vogl: … würde es nicht unbedingt billigen, aber selbst er, der es nicht zulassen kann, einen Gedanken nicht von Anfang bis zum Ende zu entwickeln, selbst er bietet die Möglichkeit, nicht-lineare Lektüren einzuräumen, und sei es wider Willen. In jeder Gedankenstrecke steckt ein Moment oder Risiko der Abirrung, der Abdrift oder des Nicht-linearen, und allein in der Folge von Wörtern und Buchstaben regt sich eine Kraft oder ein Widerstand, der leicht übersehen und überlesen wird, aber die Bedingung der Möglichkeit des Lesens, die Bedingung der Möglichkeit des Alphabets und der Schrift überhaupt darstellt, nämlich der Zwischenraum, das Spatium. Der Zwischenraum zwischen zwei Buchstaben, der Zwischenraum zwischen zwei Wörtern hat selbst eigentlich keine Ausdehnung, er ist nicht extensiv, öffnet dennoch aber einen unendlichen Abstand zwischen den einzelnen Elementen, Buchstaben oder Wörtern, also die Voraussetzung dafür, dass sich überhaupt ein Zusammenhang ergeben kann.

Kluge: Buchstaben und Wörter sind eigentlich Rebellen, sie wollen keinen Sattel des Sinns tragen, Bedeutungen sozusagen instrumental verwalten. Sie wollen vielmehr als Buchstaben oder als Wörter selber auch gewürdigt werden, geliebt werden, und deswegen haben sie die Tendenz, die Sätze aus den Zwischenräumen heraus zu sprengen. Nun gibt es eine Methode, sie zusammenzunähen mit Hilfe von Syntax und Grammatik, man kann Absätze bilden, Kapitel und dann Bücher und dann Bibliotheken. Aber man könnte auch den entgegengesetzten Weg gehen, das Punktuelle des Wortes wiederherstellen und Wortfelder generieren. Wenn ich jetzt anstatt eine Handlung zu erzählen, eine Liebesgeschichte zu erzählen oder einen Balzac’schen Roman zu entwickeln, alle Wörter für Liebe bei den Eskimos, im Russischen, im Französischen, im Lateinischen, bei uns, bei den Griechen der Antike, bei Shakespeare nähme und sie wie Lichtpunkte versammeln würde, bekäme man Wortbäume und Wortstreuungen. Ich würde die Wörter von ihrem Sinnzwang einen Moment erlösen zugunsten der Beziehung zwischen Ähnlichkeiten und ähnlichen Wörtern und vor allem ähnlichen Realitäten, die durch verschiedene Wörter wiedergegeben werden. Also ich habe meinetwegen jetzt Zärtlichkeit, daneben schreibe ich Hautnähe, daneben schreibe ich Sehnsucht, daneben schreibe ich das Wort Liebe (aber da würde ich gerne eine andere Schrift wählen für Wörter, deren bestimmte Bedeutung erst noch zu ermitteln ist). Dann würde ich Liebe als Passion daneben schreiben, das ist ein Buch von Niklas Luhmann. Hier wird der Begriff klarer oder er bezeichnet eine eingegrenzte, historische Form der Liebe. Dann Liebesroman, Fortsetzungsroman, Zuneigung. Jetzt folgt das Wort Freundschaft, das ist ein Cousin der Liebe. Vielleicht ist es sogar eine andere Spezies der Zuwendung. Jetzt: besessene Liebe. Liebe auf den ersten Blick. Und dann die andere Form der Bindung: ein Acker heiratet den anderen. Ich würde im Wortfeld an dieser Stelle übergehen in Sprichwörter. Wenn man das nebeneinander schreibt, entsteht eine Art Landkarte. Die Zwischenräume zwischen den Wörtern und deren Unterschiede gehen mit der Kartographie der Liebe anders um, als es ein Autor mit linearen Romanen macht …

Vogl: … was würde man dann auf dieser Landkarte erkennen?

Kluge: Sie würde die Sprache wieder so reich machen wie in den Sammlungen der Brüder Grimm.

Vogl: Dann wären das wenigstens zwei Dinge, die sich in diesen räumlichen Nähen und Fernen, in diesen Konstellationen abzeichnen könnten.

Kluge: Die Wörter erhielten ihre Würde, ihre Autonomie und auch ihre Vielfalt wieder zurück.

Vogl: Sie würden aber auch ihre jeweiligen Kräfte von Anziehung und Abstoßung aktivieren, ihre affektive Aufladung, die Streuung der Liebes-Wörter würde ein Diagramm von Affekten auffächern, eine Art Gefühlslandschaft mit Höhen und Tiefen, Wellen von Erregungen und Empfindungen, die sich mit den Wörtern assoziieren, verschiedene Dramen der Zuneigung. Und zudem – das wäre den Brüdern Grimm nicht fremd – könnte man damit auch eine Art geologischer Karte skizzieren und unterschiedliche historische Schichten verzeichnen. Durch ‚Minne‘ etwa, hingeschrieben neben ‚Liebe als Passion‘, würde man in eine ganz andere Zeit geworfen, die Konstellation im Raum würde in eine zeitliche Konstellation kippen, an allen Wörtern kleben noch die Spuren ihrer vergangenen Verwendungen, Geschicke von Generationen. Was würde dies für das Erzählen bedeuten?

Kluge: Sehen Sie, lebenslänglich bekümmert mich das Problem, dass man dem Zeitpfeil unterworfen ist und eine vergangene Schuld darum nicht los wird. Es gibt keine Methode wiedergutzumachen, was man falsch gemacht hat. Ich wünschte mir mit ganzem Herzen, mit aller Kraft des Optativs wie im Griechischen, den Zeitpfeil umzudrehen. Das wäre eine Geschichte, in der die Kugel, die schon in der Brust des Hirschen steckt, sich wieder zusammensetzt, die Wunde sich schließt, Rauch, Mündungsfeuer und Geschoss verschwinden im Gewehrlauf, und sogar die Absichten des Schützen lösen sich auf. Wir alle wissen, das gibt es nicht, das kann es nicht geben. Aber in der Natur ist es nicht völlig unmöglich, den Zeitpfeil zu verkehren, in der Quantenwelt kann es geschehen. Und wir könnten mit viel Arbeit, mit unendlich viel Arbeit möglicherweise so etwas auch.

Vogl: Wie Jorge Luis Borges das versucht hat, in der Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen: Man kann Täter oder Opfer, beides zugleich und keines von beiden sein – aber alles muss gleichzeitig erzählt werden?

Kluge: Ja, ein kugelförmiges Erzählen mit geschwächten Konsequenzen und Kausalketten. Der Zeitpfeil dreht sich wie eine Kompassnadel, Abdriften entstehen, und durch eine Veränderung des Winkels kommt man in einer anderen Realität als der an, von der man ausgegangen ist. Wenn wir also an der Fülle des Konjunktivs festhalten, der ja immer kugelförmig ist, weil alle Möglichkeiten darin enthalten sind, wenn die Sinne damit umzugehen lernen und die Arbeitskraft sich daran gewöhnt, dann würden wir ganz konkret an der Nicht-Linearität bauen, wie Bauleute an einer utopischen Architektur. In der Musik gibt es das übrigens, in den Obertonreihen, man hat nicht nur den linearen Fortgang. Also wenn man den Ton C und dann den Ton E anschlägt, dann schwingt auf beiden eine Obertonreihe mit, die ist ziemlich unendlich, irgendwann hört man sie nicht mehr. Aber im Grunde wurde die Fülle aller Töne gleichzeitig angeschlagen, und darin kann sich ein guter Komponist bewegen. Das wäre eine kugelförmige Dramaturgie. Und so könnte auch ein polyphones, mehrstimmiges Denken möglich sein...

Vogl: ...das sich nicht einfach in Begriffsmustern fortbewegt. Man vertieft sich in Besonderheiten, die vervielfältigen sich, und mit lauter solchen fußgroßen Bestandteilen geht man auf die Reise.

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Irrfahrt einer verseuchten britischen Flotte im Krimkrieg

Eine schwarze Wolke soll sich am Nachmittag mehr als eine Stunde lang über der britischen Flotte bewegt haben, die auf der Reede von Balzcik dümpelte. Die Seeleute der BRITANNIA hielten diese Himmelserscheinung nicht für das Vorzeichen, sondern für die Ursache der Todesfälle, die sie in den folgenden zwei Nächten dermaßen erschreckten. Die Erkrankten ließen Wasserpfützen unter sich, durch die Kleidung hindurch, die nicht schnell genug abzulegen war. Rasch eintretender Schockzustand. Keiner der Schiffsärzte hatte bis dahin Erfahrung mit Cholera gehabt.

Die TOTEN starben an Nebenfolgen wie Nierenversagen. In vielen Fällen laufen die Lungen voll. So wusste eigentlich niemand, wie die Krankheit von sich aus ihr Ende finden sollte. Literweise Flüssigkeitsaustritt aus dem After. Das konnten die Schiffsärzte der britischen Flotte im Schwarzen Meer bestätigen. »Wie eine frisch gekochte Reissuppe mit Schleimflocken.« Die Ärzte hielten dieses »Wasser« für giftig. Die Matrosen, wie gesagt, verdächtigten die dunkle Wolke.

In Panik stach die Flotte in See. Unter Nordostwind legten die sieben Schiffe 18 Seemeilen in Richtung Südost zurück. Das war der Tag, bevor, in der vierten Nachtstunde beginnend, sich der schlimmste Ausbruch der Krankheit ereignete. Wie gejagt segelten die Schiffe dahin. 58 Matrosen wurden in Säcke gepackt und ins Schwarze Meer geworfen. Viel Fahrtwind. Die Seefahrzeuge durchpflügten zügig das Meer. So legte das Geschwader auf seiner Irrfahrt weitere 32,2 Seemeilen in Richtung Kleinasien zurück, ohne dass für die dortige Küste eine Landeabsicht bestanden hätte.

Der Surgeon Dr. Rees, Schiffsarzt auf dem Flaggschiff BRITANNIA, zog gegen den Glauben der Mannschaft, der sich auf die dunkle Wolke richtete, zu Felde. Es sei kein Fluch, auch keine Absonderung einer Wolke, die den Tod über die Flotte gebracht hätte. Das Gefährliche an dem Aberglauben schien Rees, dass in diesem Falle nur eine helle Gegenwolke und nicht Menschenhand die Rettung hätte bringen können. Dr. Rees, in dritter Generation Flottenarzt, bekannte sich zu den Maximen der schottischen Aufklärung. Von den Wegen, welche sich die Vibrionen in den Körpern der Befallenen bahnten, wusste der junge Aufklärer nichts.

Zu seiner Sicherheit (und der seiner zwei ärztlichen Helfer) hatte er sein »Klinikum« im Schiffsheck abgesperrt und eine Wache vor den Eingang des Lazaretts stellen lassen. Wie oft hatte sich schon der von Furcht eingegebene Zorn einer verzweifelten Crew gegen die Heiler gewandt, wenn deren Kunst offensichtlich nichts ausrichtete? Mehr als die Krankheit fürchtete Dr. Rees den Lynchmord. Bei einer Meuterei in der Karibik hatte er eine solche Szene beobachtet.

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Kluge: Also noch einmal: ‚Begriffskatastrophen‘, das Wort ist vorhin gefallen. Tatsächlich ist ja die Intelligenz des Virus, wie gesagt, von unserer Intelligenzart, von der empathischen Intelligenz völlig verschieden. Deren in der Evolution erfolgreiches Verhalten findet in einer stochastischen Masse, in Billionen-Schwärmen von Viren statt. Die darin enthaltene Intelligenz hat ihre Wurzel in Kopierfehlern, in den Unfällen, die bei ihren raschen Mutationen entstehen. Sogenannte Identität wäre das Letzte, was ein Virus beherrscht. Ein Virus existiert in permanenten Variationen und Abwandlungen: eine Evolution im Zeitraffer. Das läuft wie ein Film. Und es ist ein Angebot an die Umwelt, die darüber entscheidet, welche der Mutationsketten für die Vermehrung günstig sind und welche nicht. Wie es die Virologin Karin Mölling sagt: es entsteht Schrott, vielleicht aber auch ein Viren-Mozart … Und in diesem Prozess der Innovation und Intelligenz sind gleicherweise tätig das RNA-Programm des Virus, dessen Mutationen und die Antwort der Umwelt. Diese Form evolutionärer Intelligenz hat immer diese drei Wurzeln zugleich.

Vogl: Aber damit stecken besondere Qualitäten in diesen eigentümlichen Wesen, nämlich auf der einen Seite eine überaus große Fähigkeit, Fehler zu produzieren, Kopierfehler zu produzieren, sich selbst unähnlich zu werden; und auf der anderen Seite die Macht des Zufalls zu nutzen, denn jede Mutation ist im strengen Sinn des Wortes kontingent: Sie trifft auf eine Umwelt, stößt mit einer Umgebung zusammen, wird darin vorangebracht oder vernichtet. Die Macht des Überlebens liegt im Vermögen, Zufälle zu multiplizieren.

Kluge: Praktische Intelligenz, nicht mit den Mitteln des Denkens hergestellt.

Vogl: Und das zwingt uns, etwas zu denken, was unserem Denken grundsätzlich widerstrebt, nämlich dass diese Naturwesen keinerlei Ziel und keinerlei Zweck verfolgen.

Kluge: Außer ihrer Vermehrung.

Vogl: Aber Ziele oder Zwecke werden wir erst nachträglich entdecken, feststellen oder hineininterpretieren können. Zum Beispiel die Anpassung an eine bestimmte Umwelt. Wir müssen uns damit abfinden, dass die Welt, die uns jetzt umgibt, diese Infektionslage beispielsweise, einer Übersetzung in unsere Begriffe widerstrebt. Sie stört unser Denken, sie stört dessen Verfahren, dessen Kausalideen und Ordnungsversuche auf unbequeme Weise. Sie fordert das Denken heraus, nötigt es, tut ihm Gewalt an. Es gibt keine natürliche Neigung des Denkens zu diesem Draußen, viel eher besteht eine tiefe Feindschaft zwischen der Welt und den Begriffsinstrumenten, mit denen wir uns mehr oder weniger komfortabel einrichten.

Kluge: … einrichten und abgrenzen. Dem Virus aber nicht ganz unähnlich. Wenn ein Virus, erzählte mir Karin Mölling, sie war Virologin am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik und Professorin an der Universität Zürich, wenn ein Virus eingedrungen ist in eine Lungenzelle zum Beispiel, dann macht es hinter sich zu, es baut mit Zellmaterial zur Hälfte von sich selbst und zur Hälfte vom Wirt, eine Mauer und versiegelt den Eingang, durch den es eingedrungen ist. Nachfolgende Viren sollen ihm den Lebensraum nicht streitig machen. Das ist der Grenzziehung Orbans in Ungarn oder der Mittelmeer-Politik der EU ähnlich. Das Virus sichert sich ab, damit es den ganzen Reichtum der Wirtszelle für sich hat. Das hat mich sehr verblüfft, dass Viren intelligenten Egozentrismus betreiben, Geiz produzieren... „Abstrakte Gewinnsucht und Geiz“. Festungsbau.

Vogl: Aber es ist durchaus bemerkenswert, wie Sie darüber sprechen, nämlich von Festungsbau beispielsweise, von der Befestigung von Grenzen, von der Sicherung von Territorien. Bewegt man sich mit solchen Formulierungen nicht in einer gewissen Hilflosigkeit und müsste konzedieren, dass das nichts als Metaphern sind? Dass es Metaphern für Angelegenheiten sind, für die kein Begriff zur Verfügung steht? Die Rhetorik hat dafür einen Terminus, das nennt sich Katachrese. Katachresen sind Ausdrücke für Sachverhalte, für die kein Begriff existiert. Einfachstes Beispiel wäre das Stuhlbein: Das Stuhlbein ist kein Bein, sondern eine Metapher für das, worauf ein Stuhl steht. Wir sind also auf die metaphorische, bildliche Produktivität der Sprache angewiesen und betreiben zwei Dinge zugleich – nämlich etwas in ein verständliches, nachvollziehbares Bild zu rücken und die Sache zugleich zu verfehlen.

Kluge: Mich erinnert das an das Prinzip des Kasperle-Theaters. Der Kasper tut nie, was nach Ansicht der Kinder, die ihm zusehen, richtig wäre. Also wenn das Krokodil hinter ihm erscheint, sieht er das Krokodil nicht. Die Kinder geraten in hohe Aktivitätsstufe. Sie rufen dem Kasper zu, was er machen soll. Wenn der Kasper wie in einem DDR-Propaganda-Film das Richtige selbst vorschlagen und durchführen würde, dann könnten die Kinder das ihre nicht hinzugeben. Man produziert hohes Amüsement, wenn man dicht daneben liegt. Im Vergreifen produziert man Witze, und diese sprachlichen Kräfte liegen nicht in der Eindeutigkeit einer Information, sondern in der luxuriösen Produktion von Differenzen und Verfehlungen.

Vogl: Das ist die komische Seite des Denkens, wo Begriff und Missgriff zusammenspielen wie Kasper und Krokodil. Aber vielleicht gibt es dabei auch eine andere, weniger komische als bösartige Seite, wenn es um die Bewältigung des Zufalls durch das Denken geht. Man könnte an eine Erzählung erinnern, die seltsamer Weise mit einer Seuche und einer Infektion beginnt und das Zufällige oder Zugefallene bereits im Titel enthält. Das wäre die Erzählung mit dem Titel Der Findling von Kleist. Sie spielt in Italien, ein wohlhabender Kaufmann ist mit seinem kleinen Sohn auf Reisen unterwegs, gerät in eine Gegend, wo eine pestartige Seuche ausgebrochen ist. Aus Mitleid nimmt er einen infizierten Waisenjungen in die Kutsche, wird von der Polizei angehalten, in Quarantäne gebracht, wo sein Sohn stirbt, der Findling aber gesund wird und überlebt. Er nimmt dieses Kind mit nach Hause, adoptiert es. Das Kind wächst heran, und nach einer Reihe unübersichtlicher Verwechslungen, Zufälligkeiten, Täuschungen und falscher Ähnlichkeiten hat dieser Findling und Stiefsohn die Familie und den Kaufmann ruiniert. Und der durch die Seuche zugefallene und zufällig überlebende Pseudo-Sohn ist am Ende bösartig nicht bloß durch moralische Schwächen, sondern als Verkörperung reiner Zufälligkeit, ein Böses jenseits von Gut und Böse.

Kluge: Und wenn am Ende der empathische Retter dieses Kindes, der Vater, der ihn aufnimmt an Sohnes statt, ihn zum Schluss ermordet, daraufhin zum Tod verurteilt wird und bei der Hinrichtung vom Papst Absolution erhalten soll, dann nein sagt und die Absolution verweigert – dann tut er dies aus einem einzigen Grund: nämlich um diesem zufälligen Sohn und Findling in die Hölle nachzufahren und seine Rache dort weiter zu verfolgen. Über den eigenen Tod hinaus... Ich muss ganz ehrlich sagen, das ist die entschiedenste Form, in der man erzählen kann. Wäre das eine Katachrese?

Vogl: Ja, in der Struktur der Erzählung: was reiner Zufall und also begrifflos ist, wird nachträglich mit Bedeutung ausgestattet. Die Suche nach einem Zusammenhang, nach einer geraden Linie, nach Grund und Ursache, nach einer Plausibilität im Denken, dieser Denkzwang ist die Täuschung schlechthin und hält das Katastrophengeschehen in Gang, bis ins Jenseits.

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Wie Hegel der Kalkgrube entkam

Am Samstag noch Präsenz des Philosophen bei den anstehenden Examina in der Universität. Abends Schwächeanfall, eiskalte Gesichtshaut. Exzessive Übelkeit und Erbrechen. Aus dem After bricht Wasser hervor, eine schmähliche, flockige Suppe, welche die Kleidung durchdringt. Nach 30 Stunden der Tod.

Ärzte und Hausfrau waren bemüht, die Todesursache zu verschleiern. Marie Hegel küßte vor Zeugen die Augenlider ihres Mannes. Sie scheute sich nicht, ihn anzufassen. Sie suchte zu beweisen, daß dieser tote Leib nicht ansteckend war, daß es sich nicht um die Cholera handelte. Die Seuche, sagte sie, flaue in der Stadt bereits ab. War es ein Diätfehler? War es ein Schlagfluß? Es durfte irgend etwas sein, nur kein Hindernis für eine geordnete Bestattung. Kein häßlicher Massentod, keine Beerdigung im Massengrab! Die Ärzte unterstützten den kommunikativen Kurs der Witwe. Dr. Rust, hochrangiger Regierungsarzt, tat es zusätzlich, weil er sich schuldig fühlte. Er war am Sonntag zu spät gekommen.

Insgeheim wurde geprüft, was der GROSSE MANN in den letzten Tagen in sich gebracht hatte. Sogleich nach Bekanntwerden der Seuche hatte der Philosoph einen Verteidigungsring um sich errichtet, sich unerreichbar gemacht für Gäste. Aus der Stadt war er entwichen in die frische Luft. Milchprodukte mied er. Sie wurden verdächtigt, die Krankheit zu übertragen. Er gedachte, die Gefahr auszusitzen. Sein Magen-Darm-Trakt war stets schon im chaotischen Zustand. Keine Diät, die Marie versuchte, bekam ihm. Dann wiederum überfiel ihn wilder Appetit. Magenschmerz nahm er in Kauf.

Am Donnerstag hatte Hegel in abruptem Entschluß und unter Verzicht auf alle Vorsicht eine größere Menge Weintrauben gegessen. Danach klagte er, die Früchte hätten ihm »den Magen verkühlt«. Die Trauben waren in kaltem Wasser gewaschen worden. Entweder hatten die Cholerakeime auf der Außenhaut der Trauben gesessen und dem Wasser widerstanden, oder sie waren im Waschwasser versteckt und so auf die Trauben geraten. Hegels System der Verteidigung gegen die Seuche erwies sich als löcherig.

Wenn wir aber schon über die Schuld an Hegels Tod sprechen, so trifft diese die preußische Medizinalverwaltung als ganze. Traditionsgemäß unterstanden die Charité und die Leitung aller Abwehrmaßnahmen gegen die Seuche dem Militär. Die Haltung des Chefs des Heeresmedizinalwesens, Dr. Rust, war polizeilich, also negativ-abwehrend. Kein Akzent auf der Erforschung der Seuche, keine Suche nach Gegenmitteln, sobald sie ausbrach, keine Aufmerksamkeit auf Lagerung und Behandlung der Erkrankten, sondern Maßnahmen an den Grenzen des Landes, daß sie nicht hereinkäme. Die Abriegelung blieb unvollständig. Zwar wurden alle Briefe, die ins Land gelangten, durchlöchert und durchräuchert. Strenge Körperkontrollen aller Einreisenden in den Zollstationen. Man hatte aber die Flußläufe und die Kanäle vergessen. Über die Bootsmänner kam die Ansteckung nach Berlin.

Der Tote lag sorgsam gebettet. Lebhafte Verhandlungen mit der Polizeibehörde. Eine Genehmigung war versprochen für ein Begräbnis auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, vorausgesetzt, die behandelnden Ärzte waren bereit, einen Totenschein auszufertigen, in dem von keiner Cholera die Rede war. Wenn tatsächlich diese Furie (nur sie tötet in nur wenigen Stunden) den Denker dahingerafft hätte, argumentierte Marie Hegel, dann läge er nicht mit entspannter Miene da. Sie schrieb in alle Winde, wie verklärt und ruhig, also in schöner Haltung und nicht gräßlich würgend und das Bett verunreinigend, ihr Geliebter entschlafen sei. »Entschlafen« war kein medizinischer Terminus für den Totenschein. Es war jetzt schon im akademischen Gespräch, daß die Cholera mit einem ihrer letzten Schläge Preußen den großen Gelehrten entrissen hätte. Solche Formulierungen wurden in der Universität hin und her gereicht. Zuletzt aber, da die Mitglieder der wissenschaftlichen Körperschaft durch ihre Schweigepflicht gebunden waren, hatte man sich auf einen Trauerzug verständigt, die Seuche geleugnet und bei der Polizeidirektion eine Grabstelle in der Nähe von Fichtes Grab zugestanden erhalten. Viel Kalk im Sarg um die Leiche herum aufgeschüttet. Marie Hegel hatte sich durch keine ihrer demonstrativen Selbstversuche angesteckt, sie hatte den Leichnam vor aller Augen mehrfach umarmt, ihn eigenhändig gewaschen und gekleidet, ihn auch geküßt. Sie hatte an seinem Bette die Nacht verbracht. Das nahmen die beamteten Entscheider als Beweis dafür, daß der mysteriöse Tod einen anderen als einen infektiösen Grund gehabt habe. Es handele sich um eine Singularität, sagten sie. In der Woche, in der Hegel bereits unter der Erde lag, war es dann möglich, der Nachwelt die WAHRHEIT Stück für Stück zuzugestehen, das ELEND eines so zufälligen Endes (lasche Trauben, von denen er gar nicht angenommen hätte, daß er sie wirklich essen wollte).

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Kluge: Wenn man hier einmal diese beiden Elemente nebeneinander hält: das Ausgrenzende der Intelligenz und der Begriffsbildung, kein Zuviel an Realität, ich sortiere die Realität so, dass sie in meinen Kopf passt; und die hingebende Methode, die des Fischernetzes, so viel Realität einfangen, wie ich kann – dann sind das ja keine Alternativen, die absolut gelten, ich kann beides ins Absurde führen, vielmehr muss man wohl beide wie Systole oder Diastole abwechseln...

In Bezug auf das Virus habe ich mich gefragt: Es sind ja enorme Intelligenz-Massen in den Laboratorien, in der Politik, auch in der öffentlichen Diskussion im Moment mobilisiert, die sich mit der Frage beschäftigen, wie verhalten wir uns, außer dass wir Abstand halten, außer dass wir uns die Hände waschen und ein Lied dazu singen, das lang genug ist für das Händewaschen, wie verhalten wir uns? Da gibt es eine große kollektive, summende Anstrengung eigentlich auf dem ganzen Planeten. Die chinesische Kommunistische Partei mit ihrem Denkapparat bekommt plötzlich eine neue Aufgabe, eine plausible Aufgabe. Und vor dem Hintergrund dessen, was wir gerade diskutiert haben, mit der Frage nach den verschiedenen Arten der Intelligenz und der intelligenten Texte, den Versuchen, Unterscheidungsvermögen auszudrücken und also zu erzählen: nehmen wir zunächst das Ausgrenzende, wie Macron und andere, wenn sie sagen, das ist Krieg, das ist ein Kriegszustand. Aber auch wenn man alles mobilisiert, alle Desinfektionsideen zusammennimmt, alle Gegenmaßnahmen konzentriert, endlich einen Impfstoff einsetzt, den Kampf fortsetzt, um den Sieg ringt, dann wird er dennoch nicht endgültig oder absolut sein. Jetzt könnte man aber auch den umgekehrten Weg nehmen, mit Empathie eine Annäherung an das Virus versuchen. Was ist dessen Natur? Ich studiere es. Habe ich etwas vom Virus in mir? Nun habe ich das ganz gewiss… 51 Prozent meines Genoms sind ehemalige Viren, sie sind Patrioten meines Körpers geworden und sie bauen mein Immunsystem, beschäftigt mit der Bekämpfung von entsetzlichen Krankheiten von vor 45 Millionen Jahren bis heute. Aber wie kann man sich mit ihnen verständigen? Karin Mölling nennt die Viren Analphabeten. Deren RNA-Programm spricht nicht wie unsere DNA. Wie kann man sich mit Analphabeten verständigen, wenn das Erbgut nur biologische Schriften verstehen? Durch Zeichen? Durch Mimik?

Vogl: Zunächst durch einen experimentellen Bezug auf eine Sinneswelt, die nicht mit der unseren koinzidiert. Wir haben keinen gemeinsamen Sinn, keinen gemeinsamen Kanal, um uns verständigen zu können. Das fordert die Wissenschaft heraus. Sie geht ins Anästhetische, dorthin, wo sich das Leben für uns nicht spüren, nicht direkt wahrnehmen, nicht fühlen lässt, wofür wir selbst keine Sinne haben. Offenbar reichen unsere Sinnesorgane nicht dafür aus, das eigene Leben zu erfassen. Und was sich in Sinnesreize übersetzt, betrifft nicht unbedingt die elementaren Lebensprozesse, auch wenn sie zuweilen Behaglichkeit oder Schmerzen bereiten. Dieses Leben und seine Physiologie sind wesentlich breiter, größer und mächtiger als das, was in das Gefäß eines menschlichen Wesens passt. Und gerade die Bedrohung des Lebens, dieses organischen Geschehens ist geradezu paradoxal: Die Krankheit, die Infektion, der Ansturm von Viren führt zu einem Aufruhr, in dem sich nicht ein Weniger an Leben sondern ein Mehr an Leben manifestiert. Da werden Vitalkräfte hervorgerufen, die förmlich explodieren und an einem bestimmten Punkt kaum mehr vom Sterben unterscheidbar sind. Das Leben produziert selbst den eigenen Tod.

Kluge: Das hier ist sozusagen das Bergwerk unter dem Ich, eine Katakombe, zu der sich das Bewusstsein wie eine oberirdische Ruine verhält. Und der Aufruhr, der Vulkan in uns, baut eine Verständnisbarriere zu dem, wie die Zellen miteinander sprechen. Zunächst die Hirnsynapsen, die bilden ja ein pausenloses Konzert. Und während wir sprechen, zwitschern die – wie ein Hirnforscher einmal erklärte – wie kleine Vögelchen, wie Vogelstimmen klingt das, was die in ihrer Sprache, die keine Menschensprache ist, miteinander austauschen. Während wir unter Menschen sprechen, äußern sie sich in Kürzeln, parallel dazu, die etwas ganz Gedankenfremdes aber Systematisches haben. Unter dem Zwitschern der Synapsen liegen die elektrischen und chemischen Prozesse im Gehirn und in den Nerven. Die verstehen die Zellen, aber die Synapsen wiederum nicht. Zu dem, was wir am Ende Bewusstsein nennen, gehören also (von der Psychologie bis zur Zelle) massive gegeneinander abgeschottete Schichten, ähnlich wie in der Geologie. Und in diesem Zusammenhang sollten wir unser kommunikatives Problem mit dem Virus sehen. Ich frage mich, ob man dem mit Musik oder Malen dem nahe kommen könnte?

Vogl: Eine Frage dieser Art hat sich Gilles Deleuze einmal gestellt: Wäre es nicht die Aufgabe der Malerei, Kräfte sichtbar zu machen, die selbst nicht sichtbar sind? Und die Aufgabe der Musik, Kräfte hörbar zu machen, die nicht hörbar sind? Es ginge also darum, all die unspürbaren Kräfte einzufangen, die die Körper, die Organismen, die Zellen durchziehen. Für Deleuze ist das etwa in der Malerei von Francis Bacon passiert: Deformationen, Abwandlungen und Metamorphosen von Körpern, auf die alle möglichen Kräfte – Druckverhältnisse, Fliehkräfte, Kontraktionen, Drehmomente etc. – eingewirkt haben. Und all das wäre zugleich ein Manifest unerhörter Vitalität.

Kluge: Also Verzicht auf herrschende Begriffe und auf den Imperativ: Du sollst meinem Verständnis gehorchen. Aber man könnte ja auch sagen, ich streichele dich, ich locke dich, du bist ein schönes Reh und hast schöne Augen, so könnte ich zu den kleinsten Teilen der Welt sprechen.

Vogl: Aber da gibt es wohl zwei unterschiedliche Vektoren. Der eine Vektor ist mit einem Satz angesprochen wie: „Wir befinden uns im Krieg“. Das heißt: ein Satz, eine komprimierte Erzählung, eine Handlungsform mit klaren Protagonisten und Instrumenten, Freund und Feind, Mobilisierung, Kampf und Triumph. Solche Erzähldestillate produzieren Kenntlichkeit, Überschaubarkeit, weil sie Bekanntes und Erzählschablonen aufrufen. Man könnte auch sagen: Sie machen einen Stein, der da vor uns liegt, schlicht und einfach steinig, ähnlich mit sich selbst. Es gibt aber einen umgekehrten Weg, nämlich durch eine Erzählung und durch die Annäherung an den Gegenstand nicht dessen Ähnlichkeit, Vertrautheit hervorzuholen, sondern …

Kluge: … Gebirge fließen. Ebbe und Flut ergreifen das Meer; aber auf eine behutsame Weise, die sehr viel feinteiliger und nicht so einfach zu sehen ist, fließen bei Ebbe und Flut durch die Mondkräfte auch der Himalaya und der Pamir.

Vogl: Und über Jahrmillionen hinweg betrachtet, ist dieser Stein ein flüssiger Gegenstand, der all seine Bewegungen und Wandlungen, Kompressionskräfte, Kristallisationskräfte, Hitze und Abkühlung noch in sich trägt.

Kluge: Im innersten Kern eine Verwandlung. Wie bei Ovid in den Metamorphosen: die Götter verstehen nichts von den Menschen, sie gehen willkürlich mit ihnen um. Was diese selbstverliebte Liebesgöttin Venus macht mit Aeneas, ihrem Sohn, wie sie den verzieht, sie tötet praktisch die Schwiegertochter Dido. Und ob die Gründung Roms so ein besonders guter Göttereinfall ist, das weiß man auch nicht. Man ertappt die Götter dabei, wie ungeschickt sie mit den Menschen umgehen. Die Menschen aber, sagt Ovid, dürfen nicht ohnmächtig sein. Und wenn Apoll, der Gott des Algorithmus, heute der Gott von Silicon Valley, nach der Nymphe Daphne greift, nicht wie ein dicker Filmproduzent und schwitzend, nein, stattlich, göttlich, schmal, Alabasterhaut – die Nymphe will ihn trotzdem nicht. Und jetzt packt er sie und sie wird unter seinen Händen zu Holz. Aber dabei lässt Ovid es nicht bewenden. Die Erzählung soll den Menschen Mut machen. Deswegen entsteht aus dem Holz der Daphne der Lorbeerbaum. Überall an den Küsten des Mittelmeeres ist er zu finden. Millionen von Lorbeerbäumen an den Küsten, und noch auf dem Kopf des Tyrannen Cäsar, drei Tage vor seinem Tod, findet sich das nicht welkende Blatt des Lorbeers. Aber Entstehungsgrund war eine Vergewaltigung. Wären solche Metamorphosen ein Erzähltypus für das 21. Jahrhundert?

Skype-Gespräche, geführt am 11.4.2020 und am 8.7.2020; eine Kurzversion erscheint in: Alexander Kluge / Joseph Vogl, Senkblei der Geschichten. Gespräche, Zürich/Berlin (diaphanes) 2020. Die Redaktion dankt dem Verlag diaphanes für die Genehmigung dieser Publikation.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Gesundheit / Medizin

Alexander Kluge

Alexander Kluge ist deutscher Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller, Drehbuchautor und promovierter Jurist. Zuletzt erschien Ferngespräche. Über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft (mit Rainer Stollmann).

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Joseph Vogl

Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Zuletzt erschienen Der Souveränitätseffekt (2015), Das Gespenst des Kapitals (2010), Soll und Haben. Fernsehgespräche (mit Alexander Kluge, 2009), Über das Zaudern (2007) und Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen (2002).

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