Moritz Kuhles, Leo Roepert | Veranstaltungsbericht | 19.06.2023
„Behandlungsarten des gegenwärtigen Krisenproblems“
Bericht zur Zweiten Marxistischen Arbeitswoche vom 26. bis 29. Mai 2023 am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main
Als STEPHAN LESSENICH anlässlich seiner Übernahme des Direktoriums des Frankfurter Instituts für Sozialforschung vor knapp zwei Jahren in der Zeitschrift SOZIOLOGIE über die zukünftige Ausrichtung des traditionsreichen Instituts informierte, bezog er sich programmatisch auf Georg Lukács. Dessen Schrift „Geschichte und Klassenbewusstsein“ hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der frühen Kritischen Theorie, darüber hinaus war Lukács prominenter Teilnehmer der „Marxistischen Arbeitswoche“, die 1923 im thüringischen Geraberg stattfand und als das erste Theorieseminar des Instituts gilt. In besagtem Artikel parallelisiert Lessenich die heutige gesellschaftliche Situation mit der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, über die Lukács schrieb, dass „die ‚Probleme des verfaulenden Kapitalismus‘ nicht mehr zu negieren seien“.[1] Und wie dieser distanziert Lessenich sich von einer Kritischen Theorie, welche im Elfenbeinturm eines „Grand Hotel Abgrund“ betrieben wird. Demgegenüber skizziert er seine Vision einer „Petite Auberge Aufbruch“,[2] die ihre Räumlichkeiten gesellschaftskritisch Bewegten öffnen und deren Impulse aufgreifen wolle.
Ganz in diesem Sinne lud das Institut für das Pfingstwochenende vom 26. bis 29. Mai zur Zweiten Marxistischen Arbeitswoche. Auf der Konferenz, die unter dem Titel „Unhaltbare Zustände“ firmierte, sollten in zwölf Hauptveranstaltungen und 45 Workshops „die Behandlungsarten des gegenwärtigen Krisenproblems“ diskutiert werden. Nach Angaben der Organisator:innen folgten etwa 900 Personen dieser Einladung. Neben den „klassischen“ Themen des Marxismus und der Kritischen Theorie wie etwa Kritik der politischen Ökonomie, Klassentheorie, sozialpsychologische Subjekttheorie und Antisemitismus, standen vor allem Rassismus, Geschlechterverhältnisse und der Klimawandel im Fokus der Veranstaltungen.
In seiner Begrüßung nannte Lessenich drei Motive für die Ausrichtung der Konferenz: Erstens wolle man an die historische Marxistische Arbeitswoche erinnern. Zweitens verdeutliche die „Unhaltbarkeit der Verhältnisse“ und das gleichzeitige „Zurückbleiben der Theorie hinter der Krisenkonjunktur“ die Notwendigkeit, über die Anforderungen an eine materialistische Gesellschaftstheorie „auf der Höhe der theoretischen Möglichkeiten“ nachzudenken. Und drittens wolle man den Austausch mit außerakademischen Akteur:innen suchen.
Was bedeutet Marxismus heute?
Beim Auftaktplenum am Freitagabend diskutierten der Marxforscher MATTHIAS SPEKKER, die Aktivistin ALTAIRA CALDARELLA und der Soziologe FLORIAN BUTOLLO die Frage „Was bedeutet Marxismus heute?“. Spekker machte Überlegungen der älteren Kritischen Theorie stark, nach denen die gesellschaftlichen Bedingungen revolutionärer Praxis im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwunden seien. Im Jahr 1923, als sich marxistische Intellektuelle wie Karl Korsch und Georg Lukács zur Marxistischen Arbeitswoche trafen, hatten die Revolutionserwartungen der Gesellschaftskritik noch eine reelle Basis – in den Widersprüchen des Kapitalismus selbst und im Klasseninteresse der Arbeiter:innenbewegung. Heute erscheine Gesellschaftskritik nicht nur als „verschrobenes Hobby“, auch sei die Marx‘sche Theorie selbst „antiquiert“; von ihr lasse sich nur noch lernen, was einmal die Maßstäbe der Gesellschaftskritik und die Voraussetzungen revolutionärer Praxis gewesen seien. Nach der historischen Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, ihrer politischen Integration in den Kapitalismus und der Erfahrung des Nationalsozialismus als regressiver Krisenlösung sei der Marxismus als eine zur unmittelbaren Praxis drängende „Weltanschauung“ vollends fragwürdig geworden.
Caldarella und Butollo wollten sich dem Abschied von der politischen Praxis aus unterschiedlichen Gründen nicht anschließen. So verwies Caldarella darauf, dass sich „Quietismus“ nur leisten könne, wessen „eigenes Leben nicht bedroht“ sei, und nannte Femizide sowie die Morde von Hanau als Beispiele dafür, dass politisches Handeln für Betroffene und Aktivist:innen auch heute kein Hobby, sondern eine Notwendigkeit sei. Und wenn man die eigene Identität als Zurichtung begreife, könne auch die „falsche Dichotomie“ von Identitätspolitik und Klassenkampf überwunden werden. Butollo verwies darüber hinaus auf die „extreme Spaltung“ der Gesellschaft, die weiterhin zahllose Anknüpfungspunkte für sozialwissenschaftliche Forschung und klassenpolitische Auseinandersetzungen im Marx’schen Sinne biete. So könnten Krisenerscheinungen wie Lieferkettenengpässe und Arbeitskräfteknappheit sowie die weit verbreitete „diffuse Gesellschaftskritik“ durchaus von Gewerkschaften und linken Akteur:innen politisch genutzt werden.
Auch wenn die Diskussion nicht sonderlich stringent verlief, machte sie doch grundlegende Differenzen in der Auffassung über die Ausrichtung und die Möglichkeiten marxistischer Gesellschaftstheorie sichtbar, die durchaus repräsentativ für die verschiedenen Strömungen sind, welche bei der Konferenz zusammenkamen. So können Butollo und Caldarella, die sich beide eher lose-eklektisch auf die Marx‘sche Theorie bezogen, in ihr eine Menge Anknüpfungspunkte für die Gegenwartsanalyse und Inspiration für politische Praxis finden. Für Spekker hingegen, der deutlich näher an Marx‘ Schriften blieb, scheint dessen Programm heute primär ein Mittel historischer Reflexion darzustellen. Die jeweiligen Vorstellungen von Gesellschaftskritik, die sich zwischen gewerkschaftlicher Tarifpolitik (Butollo), zivilgesellschaftlichem Engagement und feministischer beziehungsweise antirassistischer Abwehrkämpfe (Caldarella) sowie Ideologiekritik (Spekker) bewegten, wiesen kaum Schnittstellen auf, die eine sinnvolle Bezugnahme ermöglicht hätten.
Der Zeitkern des historischen Materialismus
Dass die Frage nach einer Veränderung des Verhältnisses von kritischer Theorie und revolutionärer Praxis bereits in den 100 Jahre zurückliegenden Diskussionen eine wesentliche Rolle gespielt hat, hob CHRISTIAN VOLLER in seinem Eröffnungsvortrag über „Die marxistische Arbeitswoche 1923 im Kontext ihrer Zeit“ hervor. Für deren Teilnehmer:innen habe die proletarische Weltrevolution grundsätzlich „noch auf dem Spielplan“ gestanden, zugleich markiere die historische Marxistische Arbeitswoche den Beginn einer Reflexion des Scheiterns der sozialen Revolution. Das Versagen der deutschen Arbeiter:innenbewegung, die Entwicklungen in der Sowjetunion und die Verfestigung der kapitalistischen Verhältnisse führten zur allmählichen Abgrenzung von der bolschewistischen Orthodoxie.
Voller erklärte, dass über die Themen der Arbeitswoche wenig bekannt sei. Es sei aber wahrscheinlich, dass neben einem inhaltlich nicht näher bestimmbaren Input über die „Behandlungsarten des gegenwärtigen Krisenproblems“ von Eduard Ludwig Alexander maßgeblich die im Jahr 1923 erschienenen Schriften „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von Georg Lukács sowie „Marxismus und Philosophie“ von Karl Korsch diskutiert wurden. Beide Arbeiten formulieren eine Kritik am orthodoxen Marxismus und seiner Revolutionstheorie. Während Lukács das verdinglichte Bewusstsein des Proletariats für das Scheitern der Revolution verantwortlich macht, sieht Korsch die Gründe dafür vor allem in den theoretischen Defiziten des orthodoxen Marxismus. Sowohl Lukács als auch Korsch zogen aus ihren Überlegungen die Konsequenz, dass eine „Rückkehr zu Marx“ geboten sei.
Dass eine bloße Rückkehr zu Marx nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus jedoch höchst problematisch ist, stellten JAN RICKERMANN, ANNA-SOPHIE SCHÖNFELDER und Matthias Spekker im Workshop über den „Zeitkern des historischen Materialismus“ heraus. Seit den Autoritarismusstudien der Kritischen Theorie wisse man, dass eine krisenhafte Zuspitzung der Verhältnisse nicht automatisch auch deren Kritik beflügle. Vielmehr sei heute mit dem Wunsch nach einer Wiederholung der regressiven Krisenlösung zu rechnen, wie sie in Deutschland mit dem Nationalsozialismus erfolgt sei, und vermittels derer es dem Staat gelungen sei, die Widersprüche zu stabilisieren, von denen Marx noch dachte, dass sie den Kapitalismus zu Fall bringen würden.
Rückkehr zu Marx?
Dass diese Erkenntnis nicht nur für die Frage nach der revolutionären Praxis folgenreich ist, sondern auch die Kritik der politischen Ökonomie selbst tangiert, wurde in den Veranstaltungen deutlich, in denen das Verhältnis von Marx‘scher Theorie und gegenwärtigem Kapitalismus zur Diskussion stand. So wurde im ersten Teil des Workshops zur „Kritik des gegenwärtigen Krisenbegriffs“ von HANS-GEORG BENSCH und MICHAEL STÄDTLER zunächst überzeugend dargelegt, dass Marx kapitalistische Krisen, anders als viele heutige Sozialwissenschaftler:innen, nicht als „Fehlentwicklungen“ des Kapitalismus, sondern als elementaren Bestandteil seines Reproduktionsprozesses begriffen habe. Auch konnte man den Referenten hinsichtlich ihrer Auffassung, dass die technokratische „Bearbeitung“ des Konjunkturzyklus keine Aufgabe der Kritik der Politischen Ökonomie sei, sondern getrost „der VWL überlassen“ werden könne, nur beipflichten.
Doch müsste man sich angesichts der Relevanz der technokratischen Krisenbekämpfung für den heutigen Kapitalismus nicht fragen, ob diese inzwischen vielleicht selbst ein Teil des zu kritisierenden Gegenstands geworden ist? Immerhin wird seit der keynesianischen Revolution der Wirtschaftspolitik jeder Konjunkturzyklus von geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen begleitet, deren antizyklischer Einsatz verhindern soll, dass sich die Widersprüche der kapitalistischen Produktion während der Boomphase so zuspitzen, dass sie sich krisenhaft entladen müssen. Dass dies nicht folgenlos geschieht, zeigt sich daran, dass die Geldkrise, die zu Marx‘ Zeiten noch fester Bestandteil eines jeden Konjunkturzyklus war, seit Mitte des 20. Jahrhunderts nur noch ausnahmsweise den Übergang des Booms in die Rezession vermittelt. Mit dem Verweis auf Marx‘ Bemerkung, dass die durch Überproduktion verursachte Krise durch „keine Bankgesetzgebung beseitigt“ werden könne, verfehlen die Referenten all die staatlichen Maßnahmen, die auf die Verhinderung der Überproduktion selbst zielen.
Im Workshop „Interdisziplinäre Gesellschaftskritik ohne Ökonomiekritik Fragezeichen“ zeigte sich das Problem von seiner anderen Seite. Anhand einer Besprechung von John Maynard Keynes‘ „General Theory“, die Kurt Mandelbaum in den 1930er-Jahren in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht hatte, stellte INGO STÜTZLE die Frage, ob sich die Methode der Kritik der politischen Ökonomie auch auf die postklassische (keynesianische) Volkswirtschaftslehre anwenden lasse. Stützle bejahte dies, weil Keynes in seiner These von der Dominanz des Geldmarkts gegenüber den Waren- und Arbeitsmärkten zwar den monetären Charakter der kapitalistischen Produktion adäquat herausstelle, aber so wenig wie seine klassischen und neoklassischen Vorläufer erklären könne, warum sich die gesellschaftliche Arbeit überhaupt im Geldpreis des Arbeitsprodukts darstelle. Weil er die Geldform unhinterfragt voraussetze, könne auch ihm gegenüber die Marx‘sche Kritik ins Feld geführt werden, die den historischen Charakter des Geldes herausarbeite.
Nun ließe sich allerdings einwenden, dass die Geldformen selbst sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in einer Weise entwickelt haben, die der Marx’schen Geldtheorie zu widersprechen scheint. So wäre etwa zu problematisieren, dass das Geldangebot seit der Demonetisierung des Goldes hauptsächlich durch die geldpolitischen Erwägungen der staatlichen Zentralbanken reguliert wird. Dagegen reflektieren Marx‘ Ausführungen zu Kurantmünzen und Staatspapiergeld den Zustand des 19. Jahrhunderts, in dem das Geldangebot noch weitgehend durch die privatwirtschaftlichen Kalküle von Goldbesitzer:innen bestimmt war. Wenn Stützle also nahelegt, dass Marx‘ Geldtheorie mit der postkeynesianischen These einer „Hierarchie der Märkte“ konform geht (welche stets die Zentralbank als einzige Schöpferin des gesetzlichen Zahlungsmittels voraussetzt), dann macht er, statt den charakteristischen Erscheinungen des gegenwärtigen Kapitalismus Rechnung zu tragen, dessen wesentliche Differenzen gegenüber dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts unsichtbar.
Von der Integration zur regressiven Krisenverarbeitung
Die Diagnose vom autoritären Staat, der wirtschaftspolitisch interveniert um krisenfreie Akkumulation zu gewährleisten, wird in der Kritischen Theorie ergänzt durch die subjekttheoretische These von der zunehmenden Integration der Menschen in die falschen Verhältnisse. Die Abendvorträge von CHRISTINE KIRCHHOFF und THOMAS EBERMANN behandelten die Deformationen, Bedürfnisse und potenziellen emanzipatorischen Impulse spätkapitalistischer Subjekte. Kirchhoff zog Parallelen zwischen der Praxis der Gesellschaftskritik und derjenigen der Psychoanalyse. Frage man in der Psychoanalyse nach dem richtigen Zeitpunkt für das Ende der Behandlung, dann spräche oftmals viel für eine „unendliche Analyse“. Dass das Institut für Sozialforschung sein 100-jähriges Bestehen „feiert“, zeige, dass auch die Gesellschaftsanalyse der Kritischen Theorie bisher nur „mäßig erfolgreich“ gewesen, ein Ende also trotz der langen Analyse noch nicht in Sicht sei. Zwar gebe es mittlerweile ein allgemeines gesellschaftliches Bewusstsein darüber, dass etwa der Klimawandel nur durch einen radikalen gesellschaftlichen Wandel aufzuhalten sei, der darin bestehen müsste, mit der destruktiven ökonomischen Praxis „aufzuhören und Möglichkeiten ungenutzt zu lassen“. Davon seien die Menschen, mit den Verhältnissen und den Imperativen der Arbeit identifiziert, aber weit entfernt. Der „aktuelle Stand“ der Subjektivität, so Kirchhoffs resigniertes Fazit, sei weitestgehend der des „Immergleichen“.
Ebermann sprach sich dafür aus, dass radikale Gesellschaftskritik zwischen richtigen und falschen Bedürfnissen unterscheiden müsse. Während die falschen Bedürfnisse etwa des „Schnäppchenjägers“, der viel Zeit und geistigen Aufwand in die Optimierung seines Konsums investiert, relativ leicht als solche zu erkennen seien, sei es ungleich schwieriger, richtige Bedürfnisse zu identifizieren. Zu fragen wäre, in welchem Maß Bedürfnisse zur Reproduktion oder Überwindung des Bestehenden beitrügen. Im Gegensatz zur heutigen Linken, die oftmals auf die unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse fixiert sei, habe sich Marx vor allem für die „radikalen Bedürfnisse“ interessiert, Bedürfnisse also, die nach einer anderen Gesellschaft strebten und so über den Kapitalismus hinauswiesen. Zugleich finde sich bei ihm jedoch eine affirmative Haltung zur kapitalistischen Entwicklung der Produktivkraft, welche diese radikalen Bedürfnisse erzeugen solle. Mit der Absage an diese unhaltbare teleologische Konstruktion stelle sich die Frage, wie die radikalen Bedürfnisse nach einer besseren Gesellschaft entstehen sollten, wenn die heutigen Bedürfnisse von der falschen Gesellschaft geprägt seien.
Der Workshop von ALEXANDRA SCHAUER und SEBASTIAN TRÄNKLE entfaltete anhand eines Textes aus dem Nachlass von Adorno die Diagnose, dass die „anthropologische Deformation“ des Menschen heute in einem „überwertigen Realismus“ und „Phantasieverlust“ zum Ausdruck komme. Das Subjekt, das zwischen „Allzuständigkeit und Ohnmacht“ schwanke, betrachte die Gesellschaft trotz ihrer Krisenerscheinungen als unveränderbar und sei zugleich davon überzeugt, dass es aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten irgendwie durchkommen werde. Diskutiert wurde dann unter anderem, wie sich die These von zunehmendem Realismus und schwindender Phantasie zur Realitätsleugnung, den Souveränitätsphantasien und Verschwörungsmythen der neuen autoritären Strömungen verhalte. Denn diese Phänomene lassen sich kaum als Ausdruck verstärkter Anpassung deuten, sondern verweisen auf gesellschaftliche Desintegrationstendenzen. Weiterführende Hinweise zu dieser Frage bot der Workshop „politische Regression“ von HELGE PETERSEN und HANNAH HECKER. Die autoritäre oder faschistische Agitation reagiere vor allem auf Krisenentwicklungen und ein zunehmendes Gefühl von diffusem Unbehagen. Statt aufzuklären oder emanzipatorische Praxis zu befördern, verfahre die Propaganda wie eine „umgekehrte Psychoanalyse“ (Leo Löwenthal), indem sie regressive Identitätsangebote mache, die reale gesellschaftliche Krisenursachen ausblende und stattdessen zur Rebellion gegen projektiv aufgeladene Feindbilder aufrufe.
Mit dem mörderischsten und bis heute wirkmächtigsten Krisenmythos der bürgerlichen Gesellschaft, dem Antisemitismus, beschäftigten sich CHRISTINE ACHINGER und OLIVER DECKER in einem Podiumsgespräch. Beide stellten den aktuell zunehmenden Antisemitismus in einen Zusammenhang mit den Krisenentwicklungen der Gegenwart (Finanzkrise 2008, Klimawandel, Corona-Pandemie). Der Antisemitismus, so Achinger, sei in seinen offenen, aber auch in seinen chiffrierten Formen attraktiv, weil er die schwer fassbaren, desintegrierenden Entwicklungen der Gegenwartsgesellschaft in „den Juden“ personalisiert, gegen die er das Bild einer harmonischen Gemeinschaft entwirft. Decker verwies auf die spezifische „autoritäre Dynamik“ in Nachkriegsdeutschland. Nach dem Ende des Nationalsozialismus und dem allgemeinen Bedeutungsverlust der väterlichen Autorität sei die wirtschaftliche Stärke, das „Wirtschaftswunder“, für die Deutschen zu einem identifikatorischen Ersatzobjekt geworden. Damit lasse sich erklären, dass der manifeste Antisemitismus mit dem Kriseneinbruch von 2008 messbar angestiegen sei.
Das Podium thematisierte zudem die besorgniserregende Tendenz in weiten Teilen der zeitgenössischen Linken, den Antisemitismus auszublenden oder in Teilen selbst antisemitischen Deutungen zuzuarbeiten. Symptomatisch sei etwa das neue Buch von Nancy Fraser, das den dezidierten Anspruch erhebt, alle Herrschaftsverhältnisse, Widersprüche und Krisendimensionen des gegenwärtigen Kapitalismus in einer umfassenden Analyse abzudecken, den Antisemitismus jedoch mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen werde ein populistisches Gesellschaftsbild entworfen, demzufolge eine kapitalistische Elite (die „1 %“) den Rest der Menschheit unterdrücke. Die Affinität von großen Teilen der Linken zu solchen personalisierenden Herrschaftsdeutungen lasse sich dadurch erklären, dass sie ermögliche, die Ambivalenzen und Verstrickungen sowie die Ohnmacht der eigenen Position auszublenden und an einer reinen und guten linken Identität festzuhalten.
Keine Nebenwidersprüche: Rassismus und Geschlechterverhältnis
Einen großen Teil des Haupt- und Workshopprogramms nahm die Auseinandersetzung mit Themenfeldern ein, die im frühen Marxismus und von der ersten Generation der Kritischen Theorie kaum behandelt wurden: koloniale und rassistische Herrschaftsverhältnisse sowie die patriarchale Geschlechterordnung.
Ein Podium mit LISA YASHODHARA HALLER und BARBARA UMRATH diskutierte die Frage „Was ist materialistischer Feminismus?“. Haller betonte, dass die zentrale Auseinandersetzung heute zwischen einem liberalen Feminismus, der sein Aufstiegsversprechen gegenüber Frauen an die Zurückweisung oder das kluge Management von Care-Anforderungen binde, und einem Konservatismus stattfinde, der die geschlechtliche Arbeitsteilung aufrechtzuerhalten versuche. In diesem Konfliktfeld habe es ein materialistischer Feminismus schwer, eigene Positionen zu formulieren. Zwar ließen sich bei Marx nur wenige Anhaltspunkte für feministische Theorie ausmachen, man könne jedoch seine Formanalyse heranziehen, um zu untersuchen, in welcher Weise Carearbeit heute in der Familie, in staatlichen Institutionen und als kommodifizierte Dienstleistung organisiert werde, wobei vor allem die grundlegende Transformation des Geschlechterregimes durch den Wohlfahrtsstaat zu untersuchen sei. Denn auch wenn die Sphären von Produktion und Reproduktion noch immer geschlechtlich konnotiert seien, habe sich einiges verändert. Umrath stellte fest, dass die patriarchale Kleinfamilie in der frühen Kritischen Theorie zwar eine zentrale Rolle gespielt habe, eine weitergehende Analyse geschlechtlicher Arbeitsteilung aber ausgeblieben sei. Lernen könne ein materialistischer Feminismus aber vom Herrschafts- und Gesellschaftsverständnis der Kritischen Theorie. So sei etwa mit Blick auf die Gegenwart zu untersuchen, ob und wie sich die Folgen der „doppelten Vergesellschaftung“ (Regina Becker-Schmidt), also die gleichzeitige Einbindung von Frauen sowohl in Erwerbs- als auch in Care-Arbeit, intensiviert hätten und inwieweit auch Männer davon betroffen seien. Sowohl Haller als auch Umrath betonten zudem, dass eine feministische Perspektive heute notwendig eine globale sein müsse und die Verflechtungen von geschlechtlichen und rassifizierten Zuschreibungen zu reflektieren habe. Das betreffe etwa den Zusammenhang zwischen der zunehmenden Arbeitsmarktintegration von Mittelschichtsfrauen in den kapitalistischen Zentren und den rassifizierten Care-Ketten, in denen migrantische Arbeitskräfte Pflegedienstleistungen für weiße Mittelschichtsfamilien übernähmen, wodurch an anderer Stelle – etwa in deren eigenen Familien – „Care-Lücken“ entstünden. Die Umverteilung der Reproduktionsarbeit, so wurde festgehalten, sei eine notwendige Voraussetzung für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen.
Während bei der Podiumsdiskussion und in den Workshops, die sich mit dem Geschlechterverhältnis beschäftigten, deutlich wurde, dass es in der feministischen Theoriebildung schon seit langem produktive Bezüge auf Marx und die Kritische Theorie gibt, verhärten sich bei den theoretischen und öffentlichen Debatten um Rassismus und Kolonialismus seit geraumer Zeit die Fronten: Analysen, die sich dezidiert auf die frühe Kritische Theorie berufen, widmen sich in der Regel dem Antisemitismus, auch in seinen neueren codierten Formen, und betonen die Spezifik des Antisemitismus und der Shoah in Abgrenzung zum (kolonialen) Rassismus und den Kolonialverbrechen. Die in der Debatte zuletzt einflussreicher gewordenen postkolonialen und rassismuskritischen Ansätze, die ihr erkenntnis- und sozialtheoretisches Fundament häufig aus dem Poststrukturalismus beziehen, fokussieren sich hingegen auf den Rassismus, den sie als Ausdruck der „Kolonialität“ der Moderne verstehen. Der Antisemitismus wird in der Regel dem Rassismus subsumiert und seine Spezifik negiert. Gleichzeitig zeigt sich in weiten Teilen des Postkolonialismus die Tendenz zu einem als „Antizionismus“ etikettierten Antisemitismus, der Israel als rassistischen und genozidalen Kolonialsiedlerstaat denunziert.
Wie FLORIS BISKAMP und MATTI TRAUßNECK zu Beginn ihres Workshops „Kritik und Handgemenge“ erwähnten, hatte diese Konfliktlinie auch im Vorfeld der Marxistischen Arbeitswoche für Auseinandersetzungen gesorgt. Die Veranstaltung war als Gelegenheit gedacht, den Streit argumentativ auszutragen. Dazu kam es allerdings nicht. Sowohl in Biskamps Inputvortrag als auch bei der Marxistischen Arbeitswoche insgesamt blieben Rassismus- und Antisemitismuskritik als unterschiedliche „Perspektiven“ nebeneinander stehen. Angesichts der Schärfe, mit der die Diskussion andernorts geführt wird, kann das durchaus erstaunen. Gleichzeitig darf bezweifelt werden, dass sich der Konflikt mit dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ beilegen ließe, da hinter den Positionen unvereinbare politische Haltungen und theoretische Prämissen stehen.
Auch in den Veranstaltungen, die Rassismus und Kolonialismus aus einer materialistischen und marxistischen Perspektive thematisierten, wurde dieser Konflikt umschifft. Ein von IVO EICHHORN und JOCHEN SCHMON organisierter Workshop zu „Black Marxism(s)“ versuchte, dem Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus nachzugehen. Vorgestellt wurden Stuart Halls an Althusser und Gramsci orientierte Überlegungen, denen zufolge sich Rassismus je nach „hegemonialer Konstellation“ und zugrundeliegender Produktionsweise unterschiedlich „artikuliere“. Es handelt sich dabei allerdings eher um methodologische Postulate als um einen inhaltlich bestimmten Begriff von Rassismus. Anschließend ging es um Cedric Robinsons Begriff des Racial Capitalism. Robinson attestiert einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Rassismus und Kapitalismus, beschränkt sich dabei jedoch auf einen äußerst dünnen, transhistorischen Rassismusbegriff, der im Grunde nicht mehr aussagt, als dass in allen Gesellschaftsformen Arbeitsteilung und Klassenstruktur durch kollektive Identitäten bestimmt sind. Wie sich der Rassismus zu den spezifisch bürgerlichen Formen von Staat, Kapital und Wissenschaft verhält, bleibt in beiden Ansätzen unklar.
BAFTA SARBO kritisierte bei der Vorstellung des von ihr mit herausgegebenen Buches „Die Diversität der Ausbeutung“ den liberalen Antirassismus, der Rassismus als individuelles Vorurteil begreife und glaube, ihn durch eine stärkere Repräsentation der rassistisch Ausgegrenzten bekämpfen zu können. Der Rassismus verschwinde jedoch nicht, wenn in Dax-Vorständen oder der Polizei ein höherer Anteil an nicht-weißen Menschen beschäftigt sei. Sie problematisierte aber auch antirassistische Konzepte wie Intersektionalität und „Allyship“, weil diese identitäre Festschreibungen reproduzierten und Solidarität untergraben würden. Eine materialistische Analyse müsse zeigen, dass Rassismus nicht einfach ein „Bewusstseinsphänomen“, sondern in den gesellschaftlichen Strukturen verankert sei. Er diene der Herstellung, Rationalisierung und Legitimierung des ökonomischen Verhältnisses von Ausbeutung und ihrer Steigerung, der „Überausbeutung“. Der moderne Rassismus entstehe im Kontext der „ursprünglichen Akkumulation“ (Marx), also dem Prozess der gewaltsamen Aneignung von Produktionsmitteln und der Enteignung der feudalen Produzent:innen, der nicht nur in Europa, sondern auch in den Kolonien die Voraussetzungen für die kapitalistische Produktionsweise schuf. Gewalt und Zwangsarbeit wurden dort durch die „Natur“ der Kolonisierten legitimiert. Weil der globale Kapitalismus auch heute noch auf Überausbeutung angewiesen sei, werde Rassismus immer weiter reproduziert.
JANINA PUDER und JAKOB GRAF versuchten in einem Workshop, den Begriff der Überausbeutung theoretisch näher zu bestimmen. Während „reguläre Ausbeutung“ auf dem vertraglich abgesicherten Tausch von Arbeitsleistung gegen einen mindestens existenzsichernden Lohn beruhe, reichten die Löhne in überausbeuterischen Verhältnissen nicht zur Reproduktion aus, so dass sich die Betroffenen ihren Lebensunterhalt noch aus weiteren Einnahmequellen beziehen müssten. Darüber hinaus komme es zu einer physischen und psychischen „Übernutzung“ der Arbeitskraft durch schlechte Arbeitsbedingungen und einer Entgrenzung der Arbeitszeit. Ausbeutung und Überausbeutung seien „zwei Seiten einer Medaille“ (Puder) und stünden in einem funktionalen Verhältnis. Sie lassen sich im Verhältnis von regulierten Ausbeutungsregimen im globalen Norden und ungesicherten Überausbeutungsverhältnissen im globalen Süden, aber auch im Verhältnis von regulärem Arbeitsmarkt und dem prekären Status migrantischer Arbeitskräfte innerhalb der Ökonomien der Zentren beobachten.
Der Begriff der Überausbeutung stieß allerdings auch auf Kritik. Es wurde eingewandt, dass der Begriff der Ausbeutung bei Marx den Umstand beschreibe, dass sich Kapitalist:innen den von den Arbeiter:innen produzierten Mehrwert aneignen und keine Aussagen über das quantitative Ausmaß dieser Aneignung treffe; die Unterscheidung zwischen einer normalen Ausbeutung und einem „dirty capitalism“ mit Überausbeutung sei weder analytisch noch politisch sinnvoll. Noch grundlegender ließe sich die Auffassung, dass Rassismus als Legitimationsideologie für (Über-)Ausbeutung diene, als funktionalistischer Fehlschluss kritisieren. Es ist richtig, dass die Unterschiede in der Produktivität verschiedener Weltregionen oder Arbeitsverhältnisse mittels rassistischer Begründungen nachträglich zur natürlichen Eigenschaft von Gruppen erklärt wurden. Den Rassismus auf seine ökonomische Funktionalität zu reduzieren steht jedoch in einem eklatanten Widerspruch zu all seinen Momenten, die gerade nicht auf Ausbeutung, sondern auf Ausschluss oder Vernichtung der als „Andere“ identifizierten Menschen zielen. Sarbo selbst hatte darauf verwiesen, dass koloniale Genozide und die rassistische Forderung „Ausländer raus!“ nicht mit dem Ausbeutungsinteresse des Kapitals vereinbar seien. Wie sich diese „gegenläufigen Tendenzen“ zur Diagnose der Überausbeutung verhalten, blieb jedoch unklar. Insgesamt scheint die richtige „materialistische“ Feststellung, dass Rassismus kein bloßes Bewusstseinsphänomen sei, die marxistischen Rassismuskritiker:innen zu dem falschen Schluss zu führen, dass er überhaupt nichts mit Bewusstsein und Subjektivität zu tun habe.
Weder „Pfingstwunder“ noch „stinknormales Workshopprogramm“
Die Zweite Marxistische Arbeitswoche wird weder als „Pfingstwunder“ (Voller) der kollektiven Reflexion gesellschaftlicher Krisen auf der „Höhe der theoretischen Möglichkeiten“ in die Geschichte eingehen, noch handelte es sich um ein „stinknormales Workshopprogramm“, wie Lessenich mit ironischem Unterton in seiner Begrüßung konstatierte. Letztlich führt jeder Vergleich mit der historischen Namensgeberin in die Irre. Während 1923 in Geraberg eine Handvoll Personen acht Tage lang über drei zeitdiagnostische Inputs bedeutender marxistischer Gesellschaftstheoretiker diskutierte, waren hier während einer für drei Tage angesetzten Veranstaltung knapp 1000 Personen angehalten, mehr als 50 nur lose miteinander verknüpfte Themen zu erörtern. Für wirklich produktive Diskussionen und Textarbeit waren die Workshops mit einer Dauer von jeweils 90 Minuten viel zu kurz angesetzt, so dass nur in Ausnahmefällen der Anspruch erhoben wurde, begriffliche Probleme vertiefend zu diskutieren. Die meisten hatten eher den Charakter von Einführungen in oder Selbstvergewisserungen über einen bestimmten theoretischen Bestand, wobei es stets darum ging, „alle mitzunehmen“. Auch die Workshops, die auf konkrete gesellschaftspolitische Problemstellungen zielten, waren klar in der Minderheit, zudem verliefen die Podiumsdiskussionen und Vorträge wenig kontrovers. Allerdings gelang es der Zweiten Marxistischen Arbeitswoche, das Gros der Themen abzubilden, die in den verschiedenen Strömungen der theoretischen und aktivistischen Linken, welche sich auf die Kritische Theorie beziehen, gegenwärtig diskutiert werden. Auch wenn die ganz großen Erkenntnisse ausgeblieben sind, so ist an den vorgestellten Behandlungsarten der gegenwärtigen Krisenprobleme doch immerhin sichtbar geworden, woran weitere begriffliche Arbeit zu leisten wäre.
Fußnoten
- Stephan Lessenich, Petit Auberge Aufbruch, Zu den Möglichkeitsräumen kritischer Sozialforschung heute, in: Soziologie 51 (2022), 2, S. 119.
- Ebd., 115.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Arbeit / Industrie Feminismus Gesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Macht Philosophie Politik Politische Ökonomie Soziale Ungleichheit
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