Norbert Trenkle | Essay |

Der andere Marx

Warum es keinen neuen Klassenkampf gibt und die Marx‘sche Theorie dennoch hochaktuell ist

[1] Angesichts der ungeheuren Ungleichheit in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ist sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der medialen und politischen Debatte zunehmend von einer „Rückkehr der Klassengesellschaft“ die Rede. In den Sozialwissenschaften steht dieser Begriff vor allem für die verstärkte Auseinandersetzung mit der sozialen Spaltung und ihren Ursachen, die aus verschiedenen theoretischen und empirischen Perspektiven beleuchtet werden.[2] Auf medialer und politischer Ebene ist darüber hinaus aber auch eine Renaissance des traditionellen marxistischen Klassenbegriffes zu beobachten.[3] Hatte der Investor und Multimilliardär Warren Buffet im Jahr 2006 noch zynisch verkündet: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“,[4] so versuchten in den letzten Jahren linke Politiker wie Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn die „Arbeiterklasse“ wieder gegen „das Kapital“ zu mobilisieren.

Auf den ersten Blick mag diesem Rückbezug auf den marxistischen Klassenbegriff und das Klassenkampfparadigma eine gewisse Plausibilität zukommen, doch bei näherem Hinsehen verfliegt dieser Schein. Denn die sozialen Spaltungslinien von heute haben nur noch wenig mit dem Klassenwiderspruch gemein, wie er von Marx und Engels etwa im Manifest der Kommunistischen Partei postuliert wurde und lassen sich daher auch nicht mehr adäquat mit den Kategorien der marxistischen Klassentheorie begreifen. Doch die war ohnehin immer nur die eine Seite der Marx'schen Theorie. Und wenn sie bis heute deren allgemeine Wahrnehmung prägt, dann liegt das vor allem daran, dass sie es war, die im 19. und 20. Jahrhundert politisch wirkmächtig wurde und so eine gewisse Berühmtheit erlangte. Es gibt aber noch eine andere Seite der Theorie, die Marx vor allem in seinem Hauptwerk Das Kapital und den dazugehörigen Vorarbeiten (Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Zur Kritik der Politischen Ökonomie etc.) entwickelt hat. Der Schwerpunkt liegt hier nicht auf der Kritik des Kapitalismus als Klassengesellschaft, sondern als eines gesellschaftlichen Systems, das auf der Produktion von Waren beruht, die sich gegenüber den Menschen verselbstständigen und ihnen in verdinglichter Gestalt als „zweite Natur“ gegenübertreten. Es ist diese Seite der Marx’schen Theorie, die bis heute – oder vielmehr gerade heute – hochaktuell ist, weil sie nicht nur die fortschreitende Krise der kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch die mit ihr verbundenen sozialen, politischen und ökonomischen Spaltungen plausibel erklären kann. Die andere Seite hingegen, in deren Mittelpunkt das Klassenkampfparadigma steht, ist schon lange obsolet geworden und wenn sie heute eine Renaissance erlebt, ist das mehr auf ein nostalgisches Bedürfnis der Linken als auf ihr analytisches Potenzial zurückzuführen.

Zwei Seiten der Theorie

Um diese These zu begründen, müssen wir uns zunächst noch einmal den Kern der Marx‘schen Klassentheorie vor Augen führen. Ihr zufolge handelt es sich beim Gegensatz von Kapital und Arbeit um einen antagonistischen Widerspruch, also um den unversöhnlichen Gegensatz zweier sich widersprechender gesellschaftlicher Prinzipien, der sich daraus ergibt, dass die Akkumulation von Kapital auf der Ausbeutung der Arbeitskraft beruht. Da nun aber das Kapital dem Zwang zur unaufhaltsamen und endlosen Vermehrung unterliege, verwandele es nach und nach die große Masse der Menschen in Lohnarbeiter und schaffe auf diese Weise selbst die soziale Kraft, die das kapitalistische System letztlich aufheben werde (Marx nannte sie den Totengräber des Kapitalismus). Die Arbeit ist in dieser Perspektive aber nicht nur ein innersystemischer Gegenpol zum Kapital, sondern wird in einem geschichtsphilosophischen Sinne zu einer überhistorischen Macht überhöht, die alle Werte schafft und als das „Wesen“ der menschlichen Geschichte gilt; somit nimmt sie den Platz ein, der bei Hegel dem „Geist“ vorbehalten war. Konsequenterweise wird gesellschaftliche Emanzipation gedacht als das Zu-sich-kommen dieses vermeintlichen Wesens, als die Befreiung der Arbeit von Herrschaft und Ausbeutung und als Verwirklichung einer auf allgemeiner Arbeit beruhenden Gesellschaft. Der Standpunkt der Arbeit ist in dieser Sicht also identisch mit dem Standpunkt der Emanzipation und die Arbeiterklasse repräsentiert „an sich“ schon das Jenseits des Kapitalismus im Kapitalismus selbst.[5]

Im 19. Jahrhunderts mochte diese These zwar noch plausibel erscheinen, doch im Grunde war sie schon damals verfehlt, wie sich im historischen Rückblick zeigt. Denn erstens war der Gegensatz von Kapital und Arbeit noch nie ein antagonistischer Widerspruch zweier unversöhnlicher Prinzipien, sondern immer schon ein immanenter Interessengegensatz innerhalb eines gesellschaftlichen Bezugssystems, der sich zudem bis zu einem gewissen Grad regulieren ließ, wie insbesondere die Ära des fordistischen Booms, von der weiter unten noch die Rede sein wird, gezeigt hat. Und zweitens ist auch der zentrale Stellenwert der Arbeit in der Gesellschaft als „Schöpferin aller Werte“ keinesfalls ein überhistorisches Prinzip von Gesellschaft überhaupt, sondern ein historisch-spezifisches Wesensmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise.[6]

Was diese Produktionsweise grundsätzlich von allen anderen bisherigen unterscheidet, ist – auf einer ganz basalen, analytischen Ebene betrachtet – zuallererst die Zersplitterung der Gesellschaft in voneinander isolierte Individuen, die nur äußerlich, durch die Produktion von Waren miteinander in Beziehung treten.[7] Anders ausgedrückt: die Menschen stellen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang her, indem sie in privater Form Dinge für anonyme Andere herstellen. Dadurch aber erhält ihre privat verausgabte Arbeit einen ganz besonderen Stellenwert: Für die vereinzelten Einzelnen ist sie das Mittel, um sich auf spezifische Weise zu vergesellschaften. Was sie an ihrer Arbeit interessiert, ist nicht primär deren konkret-stoffliche Seite, also die Herstellung eines bestimmten Gebrauchswerts, sondern die abstrakte Seite, welche die abstrakte Allgemeinheit der Arbeit als gesellschaftlicher Vermittlung repräsentiert und die sich im Tauschwert der Waren darstellt. Dabei ist es grundsätzlich betrachtet zunächst einmal sekundär, ob sie diese Waren selbst herstellen oder ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen und dafür deren Wert in Gestalt des Lohnes erhalten.

Wesentlich ist, dass die Reichtumsproduktion im Kapitalismus eine historisch-spezifische Form annimmt. So wie die Einzelnen jeweils nur an der abstrakt-gesellschaftlichen Seite der von ihnen verausgabten Arbeit interessiert sind, so ist auch die gesamtgesellschaftliche Produktion nur an dieser im Wert dargestellten Abstraktion orientiert. Es handelt sich mit anderen Worten um die Produktion von „abstraktem Reichtum“, von Reichtum, der gänzlich von allen stofflich-konkreten Eigenschaften der produzierten Dinge und den damit verbundenen Produktionsbedingungen abstrahiert. Setzen aber die Individuen ihre Arbeit als Mittel dafür ein, andere Waren zu erwerben, gilt auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene eine andere Logik. Hier ist der Zweck der Produktion ganz unmittelbar der Wert selbst. Produziert wird, um aus einer bestimmten Summe Wert noch mehr Wert zu machen oder anders gesagt, um Kapital zu akkumulieren; denn das Kapital ist nichts anderes als der auf sich selbst bezogene Wert, Wert, der sich nur erhält, wenn er immer wieder neu in den Wirtschaftskreislauf geworfen wird, um sich dort zu vermehren. Auf diese Weise verselbstständigt sich also der in den Waren dargestellte Wert gegenüber seinen Produzenten und gewinnt eine gewaltige Macht über sie und den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhang. Das ist es, was Marx den Fetischismus der Warenproduktion nennt.

Die Arbeit ist also eine zentrale Wesenskategorie der kapitalistischen Gesellschaft. Sie steht der Kategorie des Kapitals nicht äußerlich gegenüber, sondern liegt ihr zugrunde und ist auf einer grundsätzlichen Ebene sogar mit ihr identisch. Denn der Wert ist nichts anderes als die verdinglichte Gestalt vergangener abstrakter Arbeit, was zwar eine Verrücktheit, aber eben eine gesellschaftlich-reale Verrücktheit ist. Damit soll der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit nicht negiert werden, es ist allerdings wichtig zu betonen, dass er innerhalb eines gemeinsamen gesellschaftlichen Verhältnisses verortet und daher nicht antagonistisch im Sinne des traditionellen Marxismus.

Das Ende des Interessenausgleichs

Dass dieser Interessengegensatz dennoch oftmals mit harten Bandagen – und immer wieder auch gewaltsam – ausgefochten wurde, liegt in der Logik der Sache. Denn da das Kapital in seinem Drang zur Verwertung auf die umfassende Vernutzung der Ware Arbeitskraft angewiesen ist, ist es in seinem Interesse, deren Wert (ausgedrückt im Lohn) möglichst herabzudrücken. Umgekehrt wollen die Lohnarbeitenden ihre Ware, die Arbeitskraft, natürlich möglichst teuer verkaufen. Denn nur mit einem ausreichenden Lohn erhalten sie Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum, können sich also die Konsumgüter kaufen, die sie zum Leben benötigen. Letztlich handelt es sich also um einen Verteilungskonflikt, um eine Auseinandersetzung darüber, wie der in den Waren dargestellte Wert zwischen den beiden Parteien Kapital und Arbeit aufgeteilt wird.

Da nun aber dieser Konflikt in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Bezugssystem angesiedelt ist, haben beide Parteien trotz aller Gegensätze zugleich auch das gemeinsame Interesse, die Produktion abstrakten Reichtums zu erhalten. Deshalb respektieren sie im Allgemeinen auch die von dieser Reichtumsform diktierten Spielregeln. Dazu gehört in erster Linie, dass die Akkumulation von Kapital in Gang bleiben muss. Denn andernfalls kann weder das Kapital seinem Selbstzweck nachkommen, Geld in mehr Geld zu verwandeln, noch verfügen die Arbeitskraftverkäufer über das nötige Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese basale Gemeinsamkeit ist der Grund dafür, dass der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit den Kapitalismus keinesfalls gesprengt hat, sondern im Laufe des 20. Jahrhunderts Mittel und Wege gefunden wurden, zwischen den verschiedenen Interessen zu vermitteln und ihr Verhältnis politisch zu regulieren.

Historisch gesehen verortet sich der Höhepunkt des regulierten Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit in der Ära des Fordismus. Das ist kein Zufall, denn in dieser Ära expandierte das Kapital in einem historisch einmaligen Tempo und benötigte daher ständig neue Arbeitskräfte. Umgekehrt erlaubte das den Arbeitskraftverkäufern, relativ gute Bedingungen für den Verkauf ihrer Ware auszuhandeln und in bisher nicht vorstellbarem Maße am Warenreichtum zu partizipieren. Der Bruch in dieser historischen Konstellation fand nicht erst mit dem Zusammenbruch des sogenannten Sozialismus statt, wie es heute zumeist behauptet wird. Vielmehr ist er zeitlich schon gut anderthalb Jahrzehnte vorher zu verorten. Ausgelöst wurde er durch das Ende des fordistischen Booms und den Beginn der Dritten Industriellen Revolution, die einen qualitativen Sprung in der Produktivkraftentwicklung nach sich zog. Mit ihr verschob sich, ganz so, wie es Marx bereits in den Grundrissen prognostiziert hatte,[8] der Schwerpunkt von der Produktivkraft Arbeit hin zur Produktivkraft Wissen, was eine massenhafte Verdrängung von Arbeit aus der Produktion zur Folge hatte. Das verbesserte zwar die Machtposition des Kapitals, das die Löhne drücken und die Arbeitsbedingungen verschlechtern konnte, doch gleichzeitig ging ihm mit der Massenarbeit in der Produktion auch die Grundlage für die eigene Verwertung verloren. Die Konsequenz daraus war eine tiefgreifende Krise der Kapitalverwertung, die sich bis weit in die 1980er-Jahre hineinzog.[9]

Ein Ausweg aus dieser Krise konnte trotz aller brachialen neoliberalen Maßnahmen zur Schwächung der gewerkschaftlichen Macht und zur Deregulierung der Arbeitsbedingungen nicht in der Erneuerung der produktiven Grundlage der Kapitalverwertung bestehen. Das war nicht möglich, da sich ein einmal erreichtes Niveau der Produktivkraftentwicklung nicht mehr zurückdrehen lässt. Daher kann es auch keine Rückkehr zu einer Konstellation geben, in der sich das Kapital auf der Grundlage von Massenarbeit in der Produktion verwertet. Stattdessen öffnete die neoliberale Deregulierung und Transnationalisierung der Finanzmärkte das Tor für eine neue Ära der Kapitalakkumulation, die nicht mehr primär auf der Kapitalverwertung beruhte. An die Stelle der Vernutzung von Arbeitskraft und der Abschöpfung des Mehrwerts in der Warenproduktion trat nun die Akkumulation von fiktivem Kapital.[10]

Die Ära des fiktiven Kapitals

Fiktives Kapital ist nichts anderes als Vorgriff auf zukünftigen Wert, also auf Wert, der erst noch produziert werden muss, aber bereits im Hier und Heute wirksam wird. Das technische Mittel dazu sind Finanztitel (Aktien, Anleihen, Futures etc.), die den Anspruch auf eine bestimmte Summe Geld und ihre Vermehrung durch Zinsen oder Dividenden verbriefen. Die massenhafte „Produktion“ solcher Finanztitel und ihr Handel an den Finanzmärkten erlaubt es dem Kapital seit nunmehr fast vier Jahrzehnten sich weiterhin zu vermehren, obwohl die Basis für eine ausgedehnte Mehrwertproduktion längst nicht mehr gegeben ist. Insofern ist also die grundlegende Krise der Kapitalverwertung, die ihren Ursprung in den 1970er-Jahren hat, nie gelöst worden. Vielmehr wurde und wird sie durch die massive Akkumulation fiktiven Kapitals an den Finanzmärkten, durch eine „Kapitalakkumulation ohne Wertverwertung“,[11] überspielt und verdrängt. Dieser Vorgriff auf zukünftigen Wert lässt sich zwar nicht endlos fortsetzen, denn das ungeheure Auftürmen von ungedeckten Zukunftsversprechen führt zu immer gewaltigeren Finanzkrisen mit verheerenden Auswirkungen auf die „realwirtschaftlichen“ Kreisläufe und die öffentliche Versorgung. Dennoch war er der Motor für eine ungeheure kapitalistische Expansionsdynamik, die zur endgültigen Durchsetzung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise auf dem gesamten Planeten führte.

Zugleich hat sich in dieser Ära des fiktiven Kapitals aber auch das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit so fundamental verändert, dass selbst der immanente Interessengegensatz zwischen den beiden Kategorien seine zentrale gesellschaftliche Stellung verloren hat. Auf den ersten Blick mag diese Aussage erstaunen, denn ganz offensichtlich ist die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung heute so sehr von Lohnarbeit und Warenproduktion abhängig wie nie zuvor in der Geschichte. Paradoxerweise ist aber zugleich das Kapital weitgehend unabhängig von der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft geworden, eben weil sich der Schwerpunkt der Akkumulation in die Sphäre des fiktiven Kapitals verlagert hat. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass keine Ausbeutung von Arbeitskraft mehr stattfände. Das wäre absolut kontrafaktisch. Aber die Produktion von Mehrwert stellt schon lange nicht mehr den Motor der Kapitalakkumulation dar, sondern ist selbst zu einer Variable geworden, die von der Dynamik des fiktiven Kapitals an den Finanzmärkten abhängt.[12] Nirgendwo wird das deutlicher als im Bausektor, dem dynamischsten „realwirtschaftlichen“ Sektor der Gegenwart. Investiert wird hier nur, solange die Immobilienspekulation, die ein zentraler Bezugspunkt für die Akkumulation fiktiven Kapitals ist, in Gang bleibt. Nur dann haben Menschen die Möglichkeit, ihre Arbeitskraft dort zu verkaufen. Die Kehrseite allerdings ist, dass sie sich in vielen Regionen, insbesondere in den großen Städten und Ballungsräumen, das Wohnen nicht mehr leisten können, weil die Immobilienpreise explodieren.

Die Abhängigkeit der realwirtschaftlichen Aktivitäten und damit der Arbeitsverausgabung von der Dynamik der Finanzmärkte ist in der Ära des fiktiven Kapitals jedoch ein universales Phänomen. Sie gilt für die industrielle Produktion genauso wie für den tertiären Sektor, der nur deshalb heute überall auf der Welt den größten Teil der Arbeitsplätze stellen kann, weil er aus den Einkommen und Gewinnen gespeist wird, die überwiegend vom fiktiven Kapital durch den Vorgriff auf zukünftigen Wert generiert werden. Der Preis, den die Arbeit für diese Abhängigkeit zahlen muss, ist freilich ein hoher. Weil das Kapital in seiner Akkumulationsbewegung nicht mehr primär auf die Arbeitskraft angewiesen ist, kann es deren Verkaufsbedingungen weitgehend diktieren. Das ist der maßgebliche Grund für die allseitige Prekarisierung und Verdichtung der Arbeit, die mit einem weitreichenden Machtverlust der Gewerkschaften und Arbeiterparteien einhergeht.[13] Parallel dazu kommt es zu einer ungeheuren Konzentration des Reichtums in immer weniger Händen, weil das fiktive Kapital sich an den Finanzmärkten im unmittelbaren Bezug auf sich selbst vermehren kann, ohne den lästigen Umweg über die Ausbeutung von Arbeitskraft in der Warenproduktion nehmen zu müssen.

Ungeachtet dieser Verlagerung der Akkumulationsdynamik von der Verwertung in der Produktion an die Finanzmärkte schreitet die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in beschleunigtem Maße voran. Das liegt zum einen schlicht an der Globalisierung und der allgemeinen Durchsetzung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise auch in Regionen, die bis vor drei oder vier Jahrzehnten noch zur kapitalistischen Peripherie zählten.[14] Zum anderen treibt gerade die enorm gesteigerte Produktivität im Gefolge der Dritten Industriellen Revolution die Vernutzung der natürlichen Lebensgrundlagen an. Das ist nicht auf die neuen Technologien als solche zurückzuführen, sondern auf die massenhafte Verdrängung der Arbeitskraft aus den Kernsektoren der industriellen Produktion, die im Widerspruch zu den Imperativen der abstrakten Reichtumsproduktion steht. Denn die massive Reduktion der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zur Produktion der je einzelnen Ware führt auch zur Verringerung des in den Waren dargestellten Wertanteils, wie etwa am Preisverfall vieler Produkte, die früher exklusiven Charakter hatten, ablesbar ist. Der materielle Aufwand für die Produktion dieser Ware ist davon jedoch unberührt und bleibt tendenziell gleich oder steigt sogar. Da aber der Wert, also der abstrakte Reichtum, der einzige Zweck der kapitalistischen Produktion ist, versuchen die Unternehmen diese relativen Einbußen durch eine absolute Vergrößerung des Warenausstoßes zu kompensieren und müssen dafür immer größere Mengen an Ressourcen verschleißen. Es bedarf also eines rasant wachsenden Materialeinsatzes, um das bisherige Niveau der abstrakten Reichtumsproduktion auch nur halten zu können. Die Produktivitätspotenziale, die unter anderen gesellschaftlichen Umständen genutzt werden könnten, um die Arbeitszeit massiv zu reduzieren und die Produktion bedürfnisgerecht zu organisieren, verwandeln sich unter den Bedingungen der abstrakten Reichtumsproduktion in eine Gefahr für die Menschheit. Denn während sie einerseits die ökologische Zerstörung noch beschleunigen, machen sie andererseits immer mehr Menschen „überflüssig“, verunmöglichen ihnen den Verkauf ihrer Arbeitskraft und stürzen sie damit ins Elend.[15] Die großen Migrationsbewegungen der Gegenwart sind nur ein Ausdruck dieser Entwicklungen.

Kritik und Emanzipation

Ebenso wie der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital seine zentrale gesellschaftliche Stellung eingebüßt hat, sind auch die traditionellen Emanzipationskonzepte, die auf dem Standpunkt der Arbeit beruhten, in die Krise geraten. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein konnten sich die sozialen Kämpfe tatsächlich noch um die Kategorie der Arbeit zentrieren. Denn auch wenn sie nicht, wie es die Theoretiker des traditionellen Marxismus behaupteten, über den Kapitalismus hinauswies, war sie doch wesentlich für den Kampf um Anerkennung der Arbeitskraftverkäufer als vollgültige Warensubjekte innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Mit der allgemeinen Durchsetzung der Warenproduktion ist nun aber der Verkauf der Ware Arbeitskraft zum gesellschaftlichen Normalfall geworden und der Arbeitsmarkt stellt den wichtigsten Bezugsrahmen dar, in dem sich die allgemeine Konkurrenz bewegt. Damit ist zwar der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit nicht verschwunden, er wird jedoch in starkem Maße überlagert von der Konkurrenz der Arbeitskraftverkäufer untereinander, die um ihren Anteil am Warenreichtum wetteifern. Verschärfend kommt noch hinzu, dass die Menschen zunehmend darum kämpfen müssen, sich überhaupt noch in diesem Bezugsrahmen bewegen, also die eigene Arbeitskraft verkaufen zu dürfen, um nicht gänzlich als „überflüssig“ zu gelten. Damit verliert die Arbeit zunehmend ihre zentrale Stellung als Kategorie zwangsweiser, gesellschaftlicher Integration und Vereinheitlichung und gerät zu einer Triebkraft gesellschaftlicher Desintegration. Angesichts dessen verliert aber die emphatische Anrufung des „Standpunkts der Arbeit“ und der „Arbeiterklasse“ jeden Bezugspunkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Die so entstandene Krise der traditionellen Kapitalismuskritik hat eine Leerstelle hinterlassen, die bisher noch nicht von einer neuen Perspektive auf gesellschaftliche Emanzipation gefüllt werden konnte. Doch dieser Umstand sollte nicht dazu verleiten, die altehrwürdige Klassentheorie wieder aus der Abstellkammer zu holen. Sie ist ja ganz zu Recht dort gelandet, weil sie keine adäquaten Antworten auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüche und Krisen mehr hatte. Es hilft auch nicht, den Begriff des Klassenkampfs so weit aufzublähen, dass er tendenziell alle gegenwärtig relevanten sozialen Konflikte und Bewegungen umfasst, vom Widerstand gegen das Landgrabbing in Lateinamerika über Mieterproteste und queer-feministische Kämpfe in den kapitalistischen Zentren bis hin zur globalen Klimabewegung.[16] Denn so wird der Klassenbegriff bis zur Unkenntlichkeit überdehnt und verliert jede analytische Schärfe. Richtig ist allerdings, dass es eine Gemeinsamkeit zwischen all diesen, der Sache nach sehr unterschiedlichen Kämpfen und Konflikten gibt. Doch sie besteht nicht in einem übergeordneten, gemeinsamen Interesse (und schon gar nicht in einem „Klasseninteresse“), sondern lässt sich nur negativ, aus der Kritik heraus bestimmen. Protest und soziale Bewegungen entstehen auf je unterschiedliche Weise entlang von Konfliktlinien, die von der imperialen Dynamik des abstrakten Reichtums gezogen werden. Dieser Zusammenhang bleibt allerdings unsichtbar, wenn es keinen kritischen Begriff von dieser historisch-spezifischen Form der Reichtumsproduktion gibt. Denn deren Auswirkungen und Effekte sind in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Dimensionen, empirisch betrachtet, höchst unterschiedlich.

Derzeit sind in den kapitalistischen Zentren vor allem vier Konfliktlinien virulent: Die Überteuerung des Wohnraums, die Klimaveränderung, die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen und die Immigration. Sie alle resultieren direkt aus der spezifischen Verlaufsform der abstrakten Reichtumsproduktion in der Ära des fiktiven Kapitals und dem Versuch, das Erreichen der Grenzen, an die die kapitalistische Produktionsweise gezwungenermaßen stößt, noch einmal für eine Zeit hinauszuschieben. Wer hingegen versucht, alle diese Konflikte auf den gemeinsamen Nenner eines übergreifenden Interesses zu bringen, muss scheitern, denn es existiert schlicht und einfach nicht. Im Gegenteil: die Interessen entlang der verschiedenen Konfliktlinien stehen sich sogar in vielen Fällen diametral entgegen. So etwa, wenn die Prekarisierten in den kapitalistischen Zentren befürchten, dass sich aufgrund der Immigration die Arbeitsbedingungen weiter verschlechtern und die Wohnungspreise zusätzlich ansteigen. Oder wenn klimapolitische Maßnahmen wie eine CO2-Steuer Arbeitsplätze bedrohen und die Kosten für Benzin, Heizung und Strom in die Höhe treiben. Kritik und Gegenwehr werden auf diese Weise nicht zusammengeführt, sondern geraten miteinander in Konflikt.

Eine wichtige Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie besteht daher heute darin, aufzuzeigen, wie die verschiedenen Konfliktlinien und Widersprüche aus der entfesselten Dynamik der abstrakten Reichtumsproduktion resultieren, um sie damit auf einen gemeinsamen, negativen Nenner zu bringen. Wenn das gelingt, ergeben sich daraus Orientierungspunkte für eine emanzipatorische Praxis, welche die scheinbar disparaten Konfliktlinien zusammenführen und einen grundlegenden Transformationsprozess initiieren kann, in dessen Verlauf sich die Gesellschaft neu erfindet. Die allgemeine, verbindende Perspektive wäre dabei die konsequente Zurückdrängung der Warenproduktion und die Aneignung der gesellschaftlichen Potenziale jenseits der Logik von Markt und Staat. Für die Lösung der „Wohnungsfrage“ würde das beispielsweise bedeuten, das Privateigentum an Grund und Boden infrage zu stellen und zugleich neue Formen kooperativer Organisation des Wohnens und des Wohnumfelds zu entwickeln. Eine konsequente Umgestaltung des Energiesektors würde dessen Überführung in kommunale und selbstorganisierte Strukturen erfordern. Und eine radikale Arbeitszeitverkürzung, wie sie aufgrund der extrem hohen Produktivität längst auf der Tagesordnung steht, ist letztlich nur möglich, wenn ein gutes Auskommen nicht mehr vom Einkommen abhängt.

Wo der Klassendiskurs immer in erster Linie nach dem „Wer“ fragt, also den mutmaßlichen Akteur der Emanzipation ausmachen will, lässt sich über die bestimmte Negation der abstrakten Reichtumsproduktion Auskunft über das „Was“, also über den Inhalt des Prozesses gesellschaftlicher Emanzipation, geben. Die Frage nach den Akteuren dieses Prozesses erhält dann nachgelagerten Charakter. Da diese nicht a priori existieren, können sie sich auch nur entlang der diversen Konfliktlinien formieren. Auf das Manifest der Kommunistischen Partei können sie sich dafür höchstens in Hinsicht auf seinen großartigen revolutionären Impetus beziehen. Was eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Emanzipation und ihren Hindernissen angeht, müssen sie jedoch auf den „anderen Marx“ zurückgreifen, also jenen Teil der Marx’schen Theorie, den der traditionelle Marxismus immer noch weitgehend ignoriert. 

  1. Umfassend überarbeitete und erweiterte Version eines Vortrag mit dem Titel: The other Marx. Why the Communist Manifesto is obsolete, bei der Konferenz „Communist Manifesto: History, Legacy, Critique“ (Prag, 7.6.2019).
  2. Spätestens seit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise ist zu dieser Fragestellung eine kaum überschaubare Zahl an Publikationen erschienen. Exemplarisch seien genannt: Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014; Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016; Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, Berlin 2016; Heinz Bude / Philipp Staab (Hg.), Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen. Frankfurt am Main / New York 2016.
  3. Etwa Slavoy Žižek, Der neue Klassenkampf, Berlin 2015; Sebastian Friedrich / Redaktion Analyse & Kritik (Hg.), Neue Klassenpolitik, Berlin 2018.
  4. Warren Buffet im Interview mit Ben Stein, in: New York Times, 26.11.2006, www.nytimes.com/2006/11/26/business/yourmoney/26every.html?_r=0 (7.6.2020).
  5. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003, S. 111 ff. Diese These wurde von Georg Lukács in seinem berühmten Aufsatz „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“ von 1923 philosophisch ausgearbeitet und berühmt gemacht (Georg Lukács, Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats, in: ders., Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt 1988, S. 170–355). Vgl. zur Kritik Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 122 ff. sowie Norbert Trenkle, Die metaphysischen Mucken des Klassenkampfs, in: Krisis 29 (2005), S. 143–159. Es zeigt sich hier, dass der „Historische Materialismus nur die Inversion der idealistischen Geschichtsphilosophie darstellt und nicht deren Überwindung.
  6. Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 229 ff.
  7. Norbert Trenkle, Ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit, www.krisis.org/2019/ungesellschaftliche-gesellschaftlichkeit/ (7.6.2020).
  8. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke Bd. 42, Berlin 1983, S. 599 ff.
  9. Ernst Lohoff / Norbert Trenkle, Die große Entwertung, Münster 2012, S. 75 ff.
  10. Lohoff/Trenkle, Die große Entwertung; Ernst Lohoff, Die letzten Tage des Weltkapitals. Kapitalakkumulation und Politik im Zeitalter des fiktiven Kapitals, in: Krisis (2016), 5, www.krisis.org/2016/die-letzten-tage-des-weltkapitals/ (7.6.2020).
  11. Ernst Lohoff, Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation, in: Krisis (2014), 1, www.krisis.org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation/ (7.6.2020).
  12. Norbert Trenkle, Die Arbeit hängt am Tropf des fiktiven Kapitals, in: Krisis (2016), 1, www.krisis.org/2016/die-arbeit-haengt-am-tropf-des-fiktiven-kapitals/ (7.6.2020).
  13. Norbert Trenkle, Workout. Die Krise der Arbeit und die Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft, www.krisis.org/2018/workout-die-krise-der-arbeit-und-die-grenzen-der-kapitalistischen-gesellschaft/ (7.6.2020).
  14. Ulrich Brand / Markus Wissen, Imperiale Lebensweise, München 2017.
  15. Zygmunt Baumann, Verworfenes Leben, Bonn 2005.
  16. Auf diese Weise versucht der Ansatz der „Neuen Klassenpolitik“ den Klassenbegriff zu rehabilitieren (Friedrich / Redaktion Analyse & Kritik, Neue Klassenpolitik.)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Politische Ökonomie

Norbert Trenkle

Norbert Trenkle ist freier Autor und Redakteur der Zeitschrift Krisis. Kritik der Warengesellschaft, die sich der Neuformulierung von Kapitalismuskritik jenseits des traditionellen Marxismus verschrieben hat. In diesem Rahmen hat er zahlreiche Beiträge verfasst und einige Bücher herausgegeben. Die meisten seiner Texte sind frei zugänglich auf www.krisis.org.

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