Thomas Hoebel | Essay |

Showtime

Der Sturm auf das Kapitol als inszenatorische Praxis betrachtet

Die Fäuste geballt, die Gesichter verzerrt in Begeisterung, Anspannung oder Wut, die Körper gestrafft, ergriffen vom Rausch des Augenblicks und der eigenen Beteiligung daran – es waren solche Szenen voller Erregung, Aufgebrachtheit und Zorn, die es aus Sicht vieler Beobachterinnen und Beobachter nahelegten, die Personen, die am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington stürmten, als „Mob“ zu bezeichnen.[1] Die zahlreichen Momente autotelischer Gewalt, in denen es einigen Eindringlingen, meist in kleinen Gruppen, darum ging, die Integrität von Körpern zu zerstören, um Jan Philipp Reemtsmas treffende Formulierung zu nutzen,[2] stützen diese Sicht. Die Beteiligten zielten nicht allein auf die Integrität des Kapitols als eines symbolischen Körpers der Demokratie, indem sie Fenster einschlugen oder das Büro der Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi verwüsteten, die vielen als exponierte Trump-Gegenspielerin besonders verhasst ist. Attacken auf Sicherheitskräfte zeugten von mitunter exzessiver Gewalt. Ein Aufrührer prügelte mit einem Feuerlöscher einen Beamten zu Tode. Ein Sicherheitsbeamter schoss einer Frau in den Bauch, die versuchte, durch ein eingeschlagenes Fenster in einen Sitzungsraum zu gelangen. Sie erlag wenig später ihren Verletzungen. Insgesamt starben während des Sturms auf das Kapitol fünf Menschen.[3]

Andere Kommentatorinnen und Kommentatoren sprechen dagegen von einem Putschversuch. Sie verweisen darauf, dass Donald Trump selbst seine Fans zu einem Marsch auf das Kapitol aufrief.[4] „Big protest in D.C. on January 6th. Be there, be wild!“, hatte der Präsident bereits am 19. Dezember 2020 getwittert. Und zu Beginn seiner Rede auf der »Save America Rally«, die dem Sturm auf das Kapitol unmittelbar voranging, forderte er die Anwesenden auf, sich nach seiner Rede gemeinsam in Richtung Capitol Hill aufzumachen.[5] Einige Kommentare zu den Krawallen heben besonders die Momente planvoll erscheinenden Handelns hervor. Michael Brenner etwa sieht Analogien zu Hitlers gescheitertem Bierkeller-Putsch vom 8. auf den 9. November 1923.[6] Das disziplinierte, militärisch anmutende Vorrücken der Proud Boys, einer selbst ernannten Miliz, auf das Parlamentsgebäude passt in der Tat sehr gut zu dieser Deutung.

Doch unterschätzen nicht beide Einordnungsversuche – Mob und Putsch – »die Rolle der Bilder«, wie Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung zu bedenken gegeben hat?[7] Dabei wäre zunächst an Fernsehbilder und an die Dokumentation der Ereignisse durch professionelle Fotografinnen und Fotografen zu denken, denen sich die meisten Beteiligten bewusst gewesen sein dürften. Anders ist kaum zu erklären, dass sich nicht wenige für die zahlreichen Agenturfotos extra in Positur geworfen haben. Mancher gab unumwunden zu, er habe sich speziell für den Anlass verkleidet. Die Eindringlinge konnten darauf vertrauen, dank der Berichterstattung für weltweites Aufsehen zu sorgen – nicht zuletzt und gerade auch bei den Personen, die sie – wie den zukünftigen US-Präsidenten Joe Biden – als ihre politischen Gegner betrachten. Und sie konnten sicher sein, dass Donald Trump die Ereignisse vor dem Fernseher verfolgen würde.

Besonders auffällig ist allerdings, dass sehr viele der Eindringlinge mit gezückten Smartphones durch das Gebäude liefen.[8] Sie machten die Bilder gleich selbst (auch wenn ihnen die übliche journalistische Berichterstattung durchaus willkommen gewesen sein mag[9]). Während des Sturms auf das Kapitol und danach fluteten sie Social-Media-Kanäle und Chat-Gruppen mit Videos und Fotos in nahezu unüberschaubarer Fülle. Für die Selbstermächtigung der Angreiferinnen und Angreifer während der Besetzung des Capitol Hill war in dieser Perspektive die Macht über die Bilder des Geschehens entscheidend.[10]

Die gezückten Smartphones sind nach meinem Eindruck ein, womöglich sogar der zentrale Schlüssel, um die Ereignisse des 6. Januars zu verstehen und soziohistorisch einzuordnen. Dafür lohnt sich ein kurzer Blick auf die theoretischen Deutungsmuster, die gewöhnlich zur Hand sind, um Vorgänge wie den Sturm auf das Kapitol zu erörtern. Ich denke dabei vor allem an massenpsychologische Argumente, Modelle kollektiven Verhaltens und emotionstheoretische Überlegungen, ohne damit Vollständigkeit beanspruchen zu wollen.

(1) Der klassische Topos der Massenpsychologie ist die Deindividuation der Einzelnen, wenn sie in engem Verbund mit Vielen agieren.[11] Sie gehen in der emotional erregten Masse auf. Diese Vermassung verwandelt die Beteiligten in ein Kollektivsubjekt eigener Art, das einerseits bereit ist, sich von exponierten Persönlichkeiten verführen zu lassen, und andererseits zu enthemmten Verhaltensweisen neigt, etwa zum Wüten gegen Personen und Gegenstände.[12] Die Einzelnen, so die Vorstellung, hätten nicht so agiert, wie sie agierten, wären sie nicht zusammengekommen oder wären sie nicht von einem Demagogen dazu „angesteckt“ worden, wie es Gustave Le Bon formuliert hat.[13] Im Ausdruck „Mob“ hallt diese Vorstellung nach. Er legt aber auch eine alternative massenpsychologische Perspektive nahe, die im Unterschied zur Le Bon’schen Ansteckungshypothese als Konvergenzhypothese bekannt ist. Ihr zufolge sei das gemeinsame Handeln der Massenmitglieder kein Effekt ihrer Vermassung, sie seien vielmehr bereits als Gleichgesinnte zusammengekommen und nun als Kollektiv handlungsfähig, um ihre konvergierenden Ziele zu erreichen.

(2) Erklärungsmodelle kollektiven Verhaltens brechen dagegen mit massenpsychologischen Homogenitätsvorstellungen. In dieser Perspektive überblendet die Rede von Masse, Pöbel oder Mob die Heterogenität der Beteiligten. Fragt man danach, wie es zu bestimmten Handlungen kommt, die im Nachhinein einem Kollektiv zugerechnet werden, dann fällt auf, dass sich die Beteiligten in mindestens einer Hinsicht unterscheiden: Nur ein Teil von ihnen setzt durch sein Auftreten situationsspezifische Verhaltensstandards, die, wenn sie von anderen als angemessen und angezeigt interpretiert werden, Nachahmung oder zumindest duldende Zuschauerschaft finden. Lewis Killian und Ralph H. Turner sprechen von „emergenten Normen“ (emergent norms), die mitunter mit Konventionen üblichen Verhaltens brechen, wodurch das Geschehen überhaupt erst Aufsehen erregt.[14] Oder alternativ und weniger normtheoretisch als vielmehr entlang von Theorien rationaler Wahl gedacht: Es sind nur einige wenige, die auch ohne aktive Unterstützung durch die übrigen Beteiligten dazu neigen, sich vor anderen und gegen andere zu exponieren und – bildlich gesprochen – den ersten Stein zu werfen.

Der erste Stein kann eine Lawine auslösen. Kollektives Handeln entwickelt sich, wenn sich unter den Übrigen genügend andere finden, die mitmachen, ebenfalls angreifen, wozu sie aber erst unter der Bedingung tendieren, dass es bereits einige gibt, denen sie sich anschließen können. Mark Granovetter hat dafür den Begriff des »bandwagon-effect« stark gemacht.[15] In beiden Perspektiven – »emergent norms« und »bandwagons« – entsteht zwar eine koordiniert handelnde Menge, aber kein Kollektivsubjekt. Beide Ansätze betonen vielmehr, dass die Entscheidungen zur Mitwirkung und über die Art des Engagements bei den beteiligten Individuen verbleiben.

(3) Gegenüber der überwiegend kognitiv angelegten Herangehensweise von Killian/Turner oder Granovetter beziehen jüngere emotionstheoretische Überlegungen wieder stärker affektive Aspekte in die Analyse kollektiven Engagements ein, ohne dabei die massenpsychologische Deindividuationsthese zu erneuern. Das Gros dieser Forschung ist gegenwärtig in the making, es schälen sich aber zwei recht robuste Thesen heraus.[16] Geteilte Emotionen dienen in dieser Sicht nicht primär der Vermassung einer Menschenmenge. Vielmehr lenken sie einerseits Aufmerksamkeiten, da es sich bei ihnen im Kern um affektive Bewertungen von Vorgängen, Personen oder Artefakten und Gebäuden handelt, die durch einen geteilten Zorn, das gemeinsame Bewundern und vieles mehr überhaupt erst in den Fokus kollektiven Handelns geraten. Andererseits zeigen insbesondere mikrosoziologische Studien, dass die Dauer beziehungsweise die Fortsetzung eines Geschehens maßgeblich davon abhängt, dass die Beteiligten durch ihre Interaktion miteinander eine Stimmung erzeugen, die sich für sie als dermaßen anregend und attraktiv erweist, dass sie sich weiter aktiv füreinander beziehungsweise gegen andere engagieren.

Ihre Fruchtbarkeit für eine Analyse der Capitol Hill riots gewinnen die drei skizzierten Forschungsrichtungen vor allem dann, wenn man sie gegeneinander liest. Können und sollten wir wirklich massenpsychologisch von einem Mob sprechen, wenn wir berücksichtigen, dass einige sich besonders ins Zeug legten, um Polizeiketten zu durchbrechen, Fenster einzuschlagen und Intarsien zu beschädigen, und andere ihnen zwar folgten, viele aber auch abwartend außerhalb des Gebäudes blieben, in einer Zuschauerposition verharrten oder den Ort nach einiger Zeit wieder verließen, woraufhin ihnen wiederum andere folgten? Politisch dient die Bezeichnung „Mob“ der Verurteilung eines illiberalen und rassistischen Aktivismus und der Abgrenzung von ihm. Aber der Begriff hat in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht zu wenig Differenzierungspotenzial.

Am 6. Januar hielten nicht alle Akteure der Proteste den Sturm des Gebäudes für situationsangemessen, wie etwa das Verhalten von Stewart Rhodes deutlich zeigt.[17] Rhodes führt die Oath Keepers an, eine Trump-gläubige Miliz aus ehemaligen Polizisten und Soldaten. Seit November hatte er den abgewählten Präsidenten Donald Trump mehrfach dazu aufgefordert, das Kriegsrecht zu verhängen und die Wahl mithilfe des Militärs zu wiederholen, wobei seine Miliz gerne behilflich wäre. Rhodes und seine Männer waren auch am 6. Januar in Washington, D.C., beteiligen sich aber nicht an der Erstürmung des Kapitols. Sie warteten vergeblich darauf, dass Trump vermeintliche Rechtsgrundlagen für ihr Eingreifen schaffen, sich im Idealfall selbst an die Spitze der Bewegung setzen und der Aktion damit Legitimität verschaffen würde. Ohne diese Grundlage hielten sie eine eigene Beteiligung für illegitim. Es gab aus ihrer Sicht keine emergente Norm, die ihre Teilnahme rechtfertigte.

Emotionstheoretisch liegt demgegenüber auf der Hand, dass das Kapitol oder Pelosis Büro aus affektiven Gründen die besondere Aufmerksamkeit der Eindringlinge gefunden haben. Aber ist im weiteren Verlauf tatsächlich jene Gestimmtheit der Situation entstanden, die eine weitere Kreise mobilisierende Revolte auszeichnet und die Beteiligten gegen mögliche Rückschläge immunisiert, sie immer weiter antreibt? Sicher, viele liefen trunken von sich selbst und ihrer Anwesenheit am symbolisch zentralen Ort der US-amerikanischen Demokratie durch die Flure. Aber auf den Fotos und Videos ist auch zu sehen, dass die meisten allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen unterwegs waren und im Grunde für sich, Einzelne, blieben, sobald sie im Gebäude waren. Es mag – Stichwort bandwagon – durchaus Entrepreneure gegeben haben, die für einige Momente die Erstürmung des Gebäudes initiiert und angeführt haben. Eine dauerhaft schlagkräftige, planvoll agierende Gruppe ist daraus nicht entstanden.

An dieser Stelle kommen die allgegenwärtigen Smartphones ins Spiel. „Vor lauter Begeisterung darüber, bei einer Revolution dabei zu sein, ist man von Anfang an so eifrig mit ihrer Dokumentation und mit dem Sammeln von Erinnerungsstücken beschäftigt, dass diese Revolution letztlich gar nicht mehr richtig stattfindet“, kommentierte der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich im Bayrischen Rundfunk und traf damit den Nagel auf den Kopf.[18] Der allgemeine Aufmerksamkeitsfokus auf das Bildermachen stand einem wirksamen kollektiven Handeln durchaus entgegen. Massenpsychologie, Theorien kollektiven Handelns und Emotionstheorien mögen sich in vielen Hinsichten unterscheiden. Zusammengenommen machen sie darauf aufmerksam, dass kollektives politisches Handeln bestimmte situationsimmanente Eigenschaften braucht, die erst dann entstehen, wenn sich die Anwesenden wechselseitig spüren, wahrnehmen und in Bezug aufeinander agieren. Der Sturm auf das Kapitol zeigte zwar gleichgerichtetes Handeln in erheblichem Ausmaß. Es zeichnete sich aber in erster Linie nicht durch zielgerichtete politische Aktionen aus, sondern dadurch, dass die Mehrheit der Eindringlinge das Geschehen durch die Kamera der Mobiltelefone betrachtete und aufzeichnete. Jenseits einiger Scharmützel mit Sicherheitskräften kam es nicht zu einer nennenswerten Vermassung.

Die Allgegenwart der Smartphones und ihre ständige Nutzung lassen darauf schließen, dass viele der Beteiligten die aufrührerische Situation zwar mitkreierten, diese aber letztlich transzendierten,[19] statt situationsimmanent an einem wie auch immer gearteten Erfolg ihrer Aktion, ihres Auftritts mitzuwirken. Für sie war showtime – aber nicht an dem Ort, an dem sie sich gerade befanden. Das Kapitol fungierte für sie nur als Kulisse. Ihre Bühne waren ihre Social-Media-Accounts. Sie stellten eine Revolte dar, die sie sich zuvor mit Tausenden in virtueller Kommunikation vorgestellt hatten. Ullrich sprach treffend von einem re-enactment ihrer Fantasien. Die Revolte fand letztlich nur in einigen wenigen, gleichwohl ausreichend effektheischend und bedrohlich wirkenden Anläufen statt und verebbte dann, weil die Aufrührer mit der Inszenierung ihrer selbst befasst waren. Sie wirkten an einem schöpferischen Akt mit, der in erster Linie neues Material für die Kommunikation in rechtslastigen, rassistischen und verschwörungstheoretischen Netz-Communities bereitstellte und auch deswegen nicht im entschlossenen Versuch einer Revolte mündete – trotz aller Planungen im Vorfeld, die mittlerweile bekannt wurden.[20] Sie machten nicht Geschichte, sondern schrieben damit Stories eines rassistisch grundierten Patriotismus weiter, an denen sie schon lange virtuell mitwerkelten und für die sie nun neues Futter haben.[21] Sie kommunizierten mit und unter Gleichgesinnten in den Sozialen Medien, nicht mit den anderen Eindringlingen, mit denen sie gemeinsam das Parlament gestürmt hatten. „Ich hau’ jetzt ab, mir reicht’s“, sagte ein Mann, der zufällig gefilmt hatte, wie die Frau, die später einer Schussverletzung erliegen würde, getroffen zusammenbrach.[22] Zunächst rannte er den Helfern hinterher, die versuchten, die Blutung zu stillen und die Verletzte auf einer Trage aus dem Gebäude zu einem Rettungswagen zu bringen. Als er einige Journalisten entdeckte, posaunte er stolz, er habe alles auf Video, und zeigte seine Aufzeichnung bereitwillig her. Dann zog er von dannen. Der Mann hatte das Material, Beweis seiner Teilnahme am denkwürdigen Ereignis, im Kasten und kann mit den Aufnahmen auch künftig seinen Online-Buddies imponieren.

So gesehen ist der Sturm auf das Kapitol nicht zuletzt ein Anlass, das Wechselverhältnis zwischen der virtuellen Kommunikation und der konkreten Interaktion unter physisch Anwesenden im Kontext von öffentlichem Protest und Aufruhr zu überdenken. In der Bewegungsforschung ist es insbesondere unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings üblich, Social-Media-Aktivitäten als zentral für die Mobilisierung zu Versammlungen an symbolträchtigen Orten zu begreifen.[23] Deutet nicht aber der 6. Januar 2021 in Washington, D.C. darauf hin, dass das Verhältnis durchaus auch andersherum zu denken ist? Die Vermutung liegt nahe, dass die Kundgebung und die anschließenden Capitol Hill riots vor allem dazu dienten, für weitere virtuelle Kommunikation zu mobilisieren, die dadurch weiteres Material bekommt, von dem sie sich nährt. Die Online-Kommunikation wäre demnach nicht der „symbiotische Mechanismus“[24] für physische Kundgebungen, die diese brauchen, um zustande zukommen, es verhielte sich vielmehr umgekehrt. Das Geschehen rund um das Kapitol kann dann als ein Event verstanden werden, von dem sich ein fortgesetztes storytelling in den Netz-Communities der Trump-Fans nährt. Die infolge einer Schussverletzung gestorbene Frau wird ja bereits zu einer Märtyrerin erhoben, es werden unter dem Eindruck der Ereignisse neue Pläne des Umsturzes geschmiedet, die sich nun auf den Tag der Amtseinführung Bidens am 20. Januar 2021 kaprizieren.

Sollte diese These stimmen, dann stellt sich die Frage, um welche Wirksamkeit es den Aufrührern ging. Nicht wenige Einordnungen, die aktuell in der öffentlichen Debatte über die Ereignisse zu finden sind, basieren auf der Prämisse, dass die Beteiligten auf Revolution, Putsch, Revolte, allgemeine Verunsicherung oder – weniger aufwieglerisch gedacht – Protest und Unterstützung ihres Idols Trump abzielten. Und sicher hatten einige der Beteiligten gewaltsame Absichten. Andernfalls wären im Umfeld der Ereignisse nicht Rohrbomben oder ein Truck mit Sturmgewehr, Handgranate und den Zutaten zum Bau von Molotowcocktails sichergestellt worden, andernfalls hätten nicht einige in ihren Rucksäcken Bestandteile für Brandsätze mitgeführt. Viele der Eindringlinge wirkten aber auch wie Schaulustige, die eine Sehenswürdigkeit erkunden, sich ein wenig ungläubig über die Gelegenheit dazu erfreuen und schließlich sogar die markierten Laufwege einhalten, um das Gebäude wieder zu verlassen. Bei ihnen ist eine seltsame Unschlüssigkeit zu beobachten. Einerseits beteiligten sie sich an dem Sturm des Kapitols, weil sie die demokratische Praxis, die es symbolisiert, mehr oder weniger stark verachten. Andererseits zeigten sie sich durchaus ehrfürchtig vor diesem Ort. Das Geschehen changierte eigentümlich zwischen zwanglosem Happening und ernsthaftem Umsturzversuch bis hin zu Mord.

Ging es vielen Beteiligten also vordringlich um eine inszenatorische Praxis, die ihnen die Teilnahme an der Belagerung und Erstürmung symbolträchtiger Gebäude ermöglichte? Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Fragerichtung soll das Geschehen und seine tödlichen Konsequenzen keinesfalls trivialisieren, im Gegenteil. Wenn die bisherigen Überlegungen zutreffen, dann erscheint die inszenatorische Praxis, Events wie den Sturm auf das Kapitol für das eigene Online-Storytelling auszubeuten, als ein zentraler Einbettungskontext für all diejenigen, die nicht vor gewaltsamen Attacken zurückschrecken, insofern sie diese im konkreten Moment für situationsangemessen halten. Die Dokumentaristinnen und Dokumentaristen der Show – ihrer Show – sind in dieser Perspektive eine »kritische Masse«,[25] aus der heraus und für die gewaltbereitere Personen ihre Angriffe unternehmen.

Im Vorfeld der Amtseinführung Bidens am 20. Januar 2021 formulieren Trump-Fans erneut militante Fantasien und rufen dazu auf, landesweit öffentliche Gebäude zu stürmen. Sicherheitskräfte setzen gegenwärtig auf eine analoge Strategie, um Eindringlinge fern zu halten. Sie zeigen massive Präsenz und bauen Zäune auf, was womöglich einen paradoxen Jetzt-erst-recht-Effekt unter der Schar potenzieller Angreifer zur Folge hat. Für genügend Show wäre zumindest gesorgt. Womöglich wäre eine andere, rechtsstaatlich abgesicherte Schutzmaßnahme effektiver: Man müsste es in einem angemessenen Umkreis um öffentliche Einrichtungen verbieten, Fotos und Videos zu schießen. Der inszenatorischen Praxis, die es für viele Protagonistinnen und Protagonisten überhaupt erst attraktiv macht, am Ort der Proteste aufzutauchen und ebenjene kritische Masse der Einbettung und Unterstützung gewaltsamer Aktivitäten zu bilden, wäre damit die Grundlage entzogen. Vielleicht ist es tatsächlich sinnvoll, über rechtskonforme digitale Bannmeilen nachzudenken. Dann hätten es demokratische Instanzen stärker selbst in der Hand, welches storytelling sie noch als Meinungsfreiheit zu akzeptieren bereit sind, und müssten nicht darauf hoffen, dass Twitter & Co. die Sache schon richten werden, indem sie Hetzerinnen und Hetzern die Accounts sperren.

  1. Für die Darstellung der Ereignisse nutze ich die Berichterstattung von Süddeutscher Zeitung, USA Today, Washington Post und The New York Times bis einschließlich 16. Januar 2021.
  2. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S.116.
  3. Davon starben drei Personen aufgrund gesundheitlicher Probleme.
  4. So etwa Hannes Stein, Natürlich war es ein Putschversuch! Sturm auf das Kapitol [17.1.2021], in: Welt, 10.1.2021.
  5. Die „Save America Rally“ sollte dazu dienen, gegen die offizielle Bestätigung des gewählten Präsidenten Joe Biden durch das Repräsentantenhaus und den Senat der USA zu protestieren, die im Kapitol tagen und deren Mitglieder dort auch ihre Büros haben. Die Rally fand in der Ellipse statt, einem Park in Sichtweite des Weißen Hauses, etwa zwanzig bis dreißig Gehminuten vom Kapitol entfernt. Die Organisatorinnen von Women for America First hatten 5.000 Teilnehmende angemeldet. Tatsächlich waren aber deutlich mehr Menschen gekommen. Sie nahmen dafür meist lange Wege in Kauf. Wahrscheinlich stammte nur ein geringer Teil von ihnen aus der US-Hauptstadt selbst.
  6. Michael Brenner, Pre-Nazi Germany Tells Us the Fight to Save American Democracy Is Just Beginning [17.1.2021], in: Washington Post, 9.1.2021.
  7. Andrian Kreye, Der mit dem Büffel tanzt, in: Süddeutsche Zeitung, 8.1.2021, S. 11.
  8. Wolfgang Ullrich, Was uns die Bilder von der Erstürmung des Kapitols erzählen [17.1.2021], in: BR24, 8.1.2021.
  9. Dass einige das Equipment von Fernsehteams zerstörten und Fotografen anpöbelten, deutet darauf hin, dass die anwesende Presse vielfach als Gegner gesehen wurde, was aber nichts daran ändert, dass sie im direkten Kontakt mit Journalistinnen und Journalisten der Bilder und Berichte über diese Gegnerschaft sicher sein können.
  10. Viele trugen Zeichen der Unterstützung für Trump, Südstaatenflaggen und antisemitische T-Shirts. Einzelne waren mitunter kunstvoll ausstaffiert, darunter diverse in militärisch anmutender Kleidung. Etliche führten Kleinwaffen mit. Manche zeigten den Hitlergruß, andere posierten hinter Rednerpulten, in Pelosis Bürostuhl oder auf dem Podest für die Senatsvorsitzenden. Weitere präsentierten das von ihnen zerbrochene Büroschild Pelosis wie eine Trophäe, ein Mann schleppte ihr Rednerpult davon.
  11. Für eine hervorragende Überblicksdarstellung siehe Axel T. Paul, Masse und Gewalt, in: ders. / Benjamin Schwalb (Hg.), Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg 2015, S.19–59.
  12. Indem die Massenpsychologie diese Enthemmung besonders betonte, galten Massen in der Forschung für gewöhnlich als irrationale Kollektive – und bis heute hat der Begriff diese Konnotation nicht verloren.
  13. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, übers. von Rudolf Eisler, Stuttgart 1982.
  14. Ralph H. Turner / Lewis M. Killian, Collective Behavior, Englewood Cliffs, NJ 1987.
  15. Mark Granovetter, Threshold Models of Collective Behavior, in: American Journal of Sociology 83 (1978), 6, S.1420–1443.
  16. James M. Jasper, Emotions and Social Movements. Twenty Years of Theory and Research, in: Annual Review of Sociology 37 (2011), 1, S.285–303.
  17. Hubert Wetzel, Kapitolverbrechen, in: Süddeutsche Zeitung, 8.1.2021, S. 3.
  18. Ullrich, Was uns die Bilder von der Erstürmung des Kapitols erzählen [17.1.2021].
  19. Jack Katz, Ausrastende Autofahrer, in: Hubert Knoblauch (Hg.), Über ausrastende Autofahrer und das Weinen. Untersuchungen zur emotionalen Metamorphose des Selbst, Wiesbaden 2015, S. 15–96; siehe dazu auch Thomas Hoebel, „Wir haben Charlie Hebdo getötet!“ Konsequenzielle Dritte und die Erklärung fortgesetzter Gewalt, in: Mittelweg 36 28 (2019), 1–2, S. 99–123.
  20. Siehe nur David D. Kirkpatrick / Mike McIntire / Christiaan Triebert, Before the Capitol Riot, Calls for Cash and Talk of Revolution [17.1.2021], in: The New York Times, 16.1.2021.
  21. Stories“ ist ein zentrales Konzept, welches das Denken des ‚späten‘ Charles Tilly in den 2000er-Jahren prägt. Tilly hebt darauf ab, dass stories Gründe für ein bestimmtes Handeln liefern und dass dieses storytelling insbesondere soziale Beziehungen zwischen den Beteiligten mitgestaltet. Charles Tilly, Stories, Identities, and Political Change, Lanham, MD 2002; ders., Contentious Performances, Cambridge 2008; siehe dazu auch Thomas Hoebel / Stefan Malthaner, Warum Tilly lesen?, in: Charles Tilly, Why? Was passiert, wenn Leute Gründe angeben ... und warum, Hamburg (im Erscheinen).
  22. Wetzel, Kapitolverbrechen.
  23. Siehe nur Anita Breuer / Todd Landman / Dorothea Farquhar, Social Media and Protest Mobilizatio. Evidence from the Tunisian Revolution, in: Democratization 22 (2015), 4, S. 764–792; Sebastián Valenzuela, Unpacking the Use of Social Media for Protest Behavior. The Roles of Information, Opinion Expression, and Activism, in: American Behavioral Scientist 57 (2013), 7, S. 920–942.
  24. Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 228–244.
  25. Gerald Marwell / Pamela Oliver, The Critical Mass in Collective Action. A Micro-Social Theory, Cambridge 1993.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Wibke Liebhart.

Kategorien: Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen Kommunikation Gewalt

Thomas Hoebel

Thomas Hoebel, Soziologe, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er forscht zu organisierter Gewalt, schreibt an einer Methodologie prozessualen Erklärens und befasst sich mit dem Rätsel, wie gute wissenschaftliche Texte entstehen.

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