Uwe Schimank | Rezension |

Gegen den Strom der Ungleichheitsforschung

Rezension zu „The Return of Inequality. Social Change and the Weight of the Past“ von Mike Savage

Abbildung Buchcover The Return of Inequality von Mike Savage

Mike Savage:
The Return of Inequality. Social Change and the Weight of the Past
USA
Cambridge, MA 2021: Harvard University Press
448 S., 31,50 EUR
ISBN 978-0674988071

Erst jüngst hat Thomas Schwinn die Ungleichheitsforschung aufgefordert, zur Abwechslung endlich mal wieder ein paar neue theoretische Ideen zur Diskussion zu stellen, statt sich in endlosen ermüdenden Gewaltmärschen – oft genug über Datenfriedhöfe – zu ergehen.[1] Mike Savages ambitioniertes Buch The Return of Inequality überspringt die von Schwinn hingehaltene Messlatte mühelos, während sich der Rest des Forschungsfeldes weiterhin sichtlich schwer tut. Die Last der Daten – wie unvollständig, unzuverlässig und widersprüchlich sie auch sind – bremst jeden theoretischen Höhenflug aus. So vermeidet man zwar spekulative Irrtümer; aber man prämiert auch das Fortschreiben von Statistiken, die an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen.

Mike Savage verweigert sich der sattsam bekannten, nichtssagenden Buchhaltung der Veränderungen, die fälschlicherweise, aber auf den Euro genau, versprechen, dass sowohl Ursachen als auch Effekte von Ungleichheitsdynamiken selbsterklärend seien. Für ihn ist, einer langen Traditionslinie von Karl Marx bis Thomas Piketty folgend, der Kapitalismus als fatale gesellschaftliche Pfadabhängigkeit der Ursprung dessen, was sich heutzutage als Ungleichheiten zeigt. Damit meint Savage nicht nur eine ökonomische Kluft, sondern auch die sich daraus ableitenden vielfältigen weiteren Schlechterstellungen von Menschen.

Wirkmächtig ist der Kapitalismus dabei keineswegs nur in Gestalt von unmittelbaren Arbeitsmarkt- und daraus hervorgehenden Einkommenschancen. Viel wichtiger sind die Möglichkeiten der Vermögensmehrung und -übertragung qua Erbschaft. In diesem Punkt will Savage eine ‚modernistische‘ Lesart der Geschichte korrigieren: dass die geballte Macht der Linken auf lange Sicht den gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne eines Abbaus von Ungleichheiten verbürgt. Dies sei leichtfertiger Optimismus, wie er in Kapitel 10 in einer konzisen Argumentation zum Wandel des politischen Felds darlegt.

Savage untersucht zunächst die Praktiken der Superreichen, mit denen sie versuchen, immer noch reicher zu werden. Die oberen Zehntausend haben es in den zurückliegenden hundert Jahren vermocht, ihre exorbitanten Vermögen noch weiter zu mehren; und ein Ende dessen ist nicht abzusehen.

Ich kann hier aus Platzgründen nicht mehr tun, als die generelle Stoßrichtung der von Savage vorgeschlagenen neuen Perspektive in drei Punkten zu skizzieren und kurz zu kommentieren. Um mit der Sozialdimension gesellschaftlichen Geschehens zu beginnen: Ganz anders als der Mainstream der Ungleichheitsforschung steigt Savage nicht von ‚unten‘, sondern von ganz ‚oben‘ ins Thema ein. Sein Verständnis dessen, wie soziale Ungleichheiten gesellschaftliche Dynamiken und individuelle Lebenschancen prägen, setzt nicht bei den Kämpfen der Schlechtergestellten für eine Verbesserung ihrer Situation ein. Savage untersucht zunächst die Praktiken der Superreichen, mit denen sie versuchen, immer noch reicher zu werden. Die oberen Zehntausend haben es in den zurückliegenden hundert Jahren – nochmals verstärkt in den letzten Jahrzehnten – vermocht, ihre exorbitanten Vermögen noch weiter zu mehren; und ein Ende dessen ist nicht abzusehen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage der Gerechtigkeit oder des Neids: „Their selfishness, narrowness, and greed were not a private matter: it damaged social well-being at large.“ (S. 7) Diese starke Behauptung bedarf offenbar keiner weiteren Erläuterung, sondern funktioniert als Dogma – hier schwimmt Savage dann ausnahmsweise doch mit dem Strom der Ungleichheitsforschung! Ich kann seiner These, zumindest als Vermutung, durchaus etwas abgewinnen, aber sie ist zu unspezifisch und bleibt damit moralisierend: keine Soziologie.

Was könnte soziologisch konkretisiert hinter „damage“ stecken? Es kann ja kaum um den Lebenswandel der Superreichen gehen. Weil es so extrem wenige sind, ist ihr Potenzial gering, etwa durch ihre Freizeitaktivitäten oder ihr Familienleben größeren gesellschaftlichen Schaden anzurichten. Natürlich kann die Allgemeinheit zum Beispiel aufgrund der Villen und Parks der oberen Zehntausend sehr schöne Stücke Natur nicht frei nutzen; und selbstverständlich sind diese Menschen für ihre unmittelbaren Untergebenen oft selbstherrliche Quälgeister. Aber im Vergleich dazu wiegen die Leiden, die einige Fehlkonstruktionen von Hartz IV – die nicht auf Einflüsterungen der Superreichen zurückgehen – den Betroffenen auferlegen, wohl doch erheblich schwerer.

Gesellschaftlich relevant wird das Gebaren der Superreichen ja erst, wenn sie auf Kosten vieler oder aller anderen, insbesondere der ‚kleinen Leute‘ weltweit, agieren, etwa mit ihrem Verhalten globale Finanzmarkt-, Arbeitsmarkt- oder gar Hungerkrisen hervorrufen. Diesbezüglich wäre aber erst noch zu zeigen, welche gesellschaftlichen Krisen in überwiegendem Maße den Superreichen zuzurechnen sind – der Klimawandel ganz sicher nicht, genauso wenig wie Tschernobyl, der Zweite Weltkrieg oder die Corona-Pandemie. Zwar ist der Kapitalismus in all diesen Fällen ein wichtiger Erklärungsfaktor, doch er besteht nicht nur aus den Superreichen, sondern aus vielen anderen Akteuren bis hin zu den Konsumenten und Gewerkschaften, die alle immer wieder kräftig mitgezündelt haben. Ich frage mich also, ob Savages „turn“ hin zu ‚denen ganz oben‘ wirklich so augenöffnend für ein Verständnis der kapitalistisch verursachten Ungleichheitsdynamiken ist, wie er verspricht.

Indem er die kulturelle Leitidee des gestaltbaren Fortschritts infrage stellt, erschüttert Savage die konstitutive Selbstgewissheit der westlichen Moderne.

Savages zweite radikale Abwendung vom Mainstream der Ungleichheitsforschung, und genereller: der Gesellschaftstheorie, erfolgt in der Zeitdimension. Schon der Untertitel des Buches benennt die „weight of the past“. Indem er die kulturelle Leitidee des gestaltbaren Fortschritts infrage stellt, erschüttert Savage die konstitutive Selbstgewissheit der westlichen Moderne. Er sieht stattdessen eine fatale Pfadabhängigkeit des Kapitalismus: „The debris of the past […] now dominates the social landscape.“ (S. 98 f.) Die Trümmer der Vergangenheit zeigen sich vor allem als Matthäus-Effekt bei den Vermögensdynamiken. Dort ist ein unaufhörlicher Konzentrationsprozess des ‚Wer hat, dem wird gegeben‘ mit immer schieferer Verteilung zu beobachten.

Auch wenn man nicht einfach davon ausgehen sollte, dass die Superreichen die Welt beherrschen, stellen solche Überlegungen zweifellos heilsame Korrekturen des Fortschrittsoptimismus dar. Die Frage ist nur: Wer hegt diesen eigentlich noch – in der öffentlichen Meinung oder in der soziologischen Gesellschaftstheorie? Rennt Savage nicht in beiden Hinsichten offene Türen ein? Wenn man vor diesem Hintergrund liest, was er am Ende des Buches auf die Frage „Was tun?“ antwortet, ist die Diskrepanz von Diagnose und Therapie nicht zu übersehen. Dort empfiehlt der Autor auf einmal Maßnahmen, die er bis dahin – mit guten Gründen und in guter Gesellschaft – als Traumtänzerei entlarvt hat: den kapitalistischen Wachstumszwang durchbrechen; progressive Besteuerung von Einkommen und vor allem Vermögen; „rounded conceptions of well-being“ (S. 321) über den Lebensstandard hinaus; und ein Nationalismus des kollektiven Zusammenhaltens, den so auch oder sogar als erste die AfD unterschreiben könnte. Wenn dieses intellektuell armselige Programm von völlig Unrealistischem und politisch Gefährlichem sein „revival of radicalism“ (S. 314) ist, wähle ich fortan sicherheitshalber konservativ: Das ist dann noch das kleinere Übel.

Savages dritte Abweichung vom Mainstream ist eindeutig die theoretisch anregendste. Dabei vertritt er bezüglich der Sachdimension sozialer Ungleichheit die These, dass „visceral inequalities“ an Bedeutung gewinnen. Hiermit meint er die Ausgrenzung all derjenigen, deren Körper nicht dem Normalbild des ‚Einer von uns‘-Menschen entsprechen, sondern die – mit Erving Goffman (1963) gesprochen – eine „spoiled identity“ aufweisen.[2] Savages sehr nachdenklich stimmende Einstufung der „identity politics“ lautet: „[B]odily inequality becomes an intensified marker again.“ (S. 228) Gemessen an der normativ hegemonialen Identität der Mitglieder westlicher Gesellschaften – also dem weißen Mann – haben Frauen und People of Colour (PoC) ein „fundamental lack, which can never be overcome“ (S. 203, Hervorhebung weggel.). Weil beide ver-körperten Mensch-Seins-Defizite durch noch so viel Bildung, Karriere und Reichtum nicht überspielt werden können, sieht Savage in den Forderungen der identity politics keine wirkliche Hoffnung auf Anerkennung als Gleiche. Sie beklagten vielmehr die prinzipielle Unmöglichkeit dessen (S. 203).

Er weist in dieser Hinsicht zu Recht darauf hin, dass sich viele die Gleichheit aller Menschen unabhängig von Geschlecht und Rasse sowie weiterer körperlicher Merkmale zu einfach vorstellen, weil sie verbal von allen als selbstverständlich anerkannt wird. Fortdauernde Abwertungen von spoiled identities sind aber in allen sozialen Schichten zu beobachten, am offensichtlichsten ‚oben‘ – etwa bei schwarzen Reichen, weiblichen Professoren oder behinderten und deshalb verhinderten Kanzlerkandidaten.

An den zahlreichen sogenannten gläsernen Decken zeigt sich, dass Körperlichkeit – und das, was sie signalisiert – zwar kulturell gerahmt und damit prinzipiell kontingent ist. Doch es handelt sich ganz offensichtlich um einen Rahmen, der nicht mit ein paar Übungsstunden Bewusstseinstraining verändert werden kann.

Hier müssen sehr tiefsitzende, in allen Kulturen in unterschiedlicher Ausprägung bestehende und keineswegs erst in der Moderne aufgekommene Festlegungen der Wertigkeit eines Menschen überwunden werden. Zumindest in westlichen Ländern weichte sich diese Klassifizierung von Menschen formell in den letzten Jahrzehnten immer weiter auf. Darum sind die Betroffenen umso entgeisterter, wenn sie dann doch früher oder später an oft unartikulierte, aber dennoch festgefügte Akzeptanzgrenzen bezüglich ihrer Ansprüche auf Gleichrangigkeit stoßen. An den zahlreichen sogenannten gläsernen Decken zeigt sich, dass Körperlichkeit – und das, was sie signalisiert – zwar kulturell gerahmt und damit prinzipiell kontingent ist. Doch es handelt sich ganz offensichtlich um einen Rahmen, der nicht mit ein paar Übungsstunden Bewusstseinstraining verändert werden kann. Diese „weight of the past“ überzeugt – und das ist eine schlimme Botschaft – am meisten.

Ich habe meine erheblichen Vorbehalte gegen zentrale Thesen des Buches zum Ausdruck gebracht. Aber es ist ohne Zweifel ein herausragendes Buch eines Großen der Ungleichheitsforschung, das ganz viele Diskussionen in sehr verschiedenen Bereichen anregen wird. Savage selbst sieht in der „juxtaposition of topics rarely considered together“ (S. 23) den wichtigsten Beitrag seines Buches. Dem ist zuzustimmen. Leider konnte ich viele weitere spannende „topics“ hier gar nicht an- geschweige denn besprechen – etwa die Revision von Bourdieus Vorstellungen über die gesellschaftliche Milieustruktur, die sich an den 1960er-Jahren in Frankreich orientiert. In der deutschen Diskussion begann eine Aktualisierung im Übrigen bereits mit Gerhard Schulzes Analysen (1992).[3] Ebenso wenig kann ich hier Savages Einschätzung thematisieren, dass die Moderne bis vor wenigen Jahrzehnten nicht nationalstaatlich gerahmt war, sondern sich in Gestalt von Imperien, weit über den Kolonialismus hinaus, politisch organisierte. Diese nur vermeintlich alte Ordnung sei inzwischen wieder weitgehend hergestellt. Ich bin mir sicher, dass Savages Buch sowohl in seinen großen Thesen als auch wegen der vielen kleinen Beobachtungen in den kommenden Jahren noch manche Aha-Erlebnisse zeitigen wird.

  1. Thomas Schwinn, Social Inequalities – Theoretical Focus, in: Betina Hollstein / Rainer Greshoff / Uwe Schimank / Anja Weiß (Hg.), Soziologie – Sociology in the German-Speaking World (= Sonderheft der Soziologischen Revue 2020), Berlin 2021, S. 381–397.
  2. Erving Goffman, Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity [1963], Harmondsworth 1974.
  3. Gerhard Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main / New York 1992.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Kapitalismus / Postkapitalismus Körper Soziale Ungleichheit Zeit / Zukunft

Uwe Schimank

Professor Dr. Uwe Schimank ist Professor für Soziologische Theorie an der Universität Bremen.

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