Jens Bisky, Karsten Malowitz | Veranstaltungsbericht |

Bielefelder Splitter I: Montag

Bericht von der Eröffnungsveranstaltung des 41. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld

Schwierigkeiten mit der Ordnung

Auf Eröffnungsveranstaltungen großer Kongresse inszeniert die scientific community eines Faches sich selbst, zeigt, wie sie sich sieht und gesehen werden möchte, welche Leistungen in ihr geschätzt werden, in welcher Atmosphäre und Tonlage sie diskutieren will. Der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) ist diese Form der Selbstdarstellung bei der Eröffnung ihres 41. Kongresses in der Bielefelder Stadthalle auf sympathische Weise gelungen, auch wenn es anfangs nicht danach aussah.

Im Laufe des langen und an Grußworten besonders reichen Abends schälten sich drei Leitmotive heraus, von denen zu hoffen ist, dass sie in den mehr als zweihundert Einzelveranstaltungen der kommenden Tage nicht vergessen werden. Zum einen überzeugte der Hauptvortrag von Mirjam Wenzel, der Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt am Main durch Klarheit und Konkretion, zum anderen war es der Sinn für die Besonderheiten des Lokalen und des Globalen, die gleich in mehreren Beiträgen zur Sprache kamen. Und drittens spielten, nicht unbedingt erwartbar, das Ungeordnete und das Unordentliche eine wichtige Rolle. „Die soziale Wirklichkeit“, so die DGS-Vorsitzende Paula-Irene Villa Braslavsky in ihrem Eröffnungsvortrag, sei „unordentlicher, als wir Soziolog:innen bisweilen denken“.

Damit gab sie, gewollt oder nicht, einer Erfahrung Ausdruck, die viele der Anwesenden erst kurz zuvor selbst gemacht hatten, als sie bei widriger Witterung mit wachsender Ungeduld in einer langen und leidlich geordneten Schlange auf Einlass in die Stadthalle warteten, um in deren Foyer den obligatorischen Check-in hinter sich zu bringen. Doch hatte man sich seitens der Organisator:innen offenbar in der dafür erforderlichen Zeit getäuscht. Während andere Großveranstaltungen ihrem Publikum eine selbständige digitale Anmeldung ermöglichen, setzte man in Bielefeld auf ein hybrides Verfahren, das die räumliche Anwesenheit der zu registrierenden Gäste erfordert. Und daher mühte sich die kleine Schar der fleißigen wie freundlichen, aber zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Mitarbeiter:innen des Organisationsteams vergeblich, den Andrang in der vorgesehenen Zeit zu bewältigen. So dauerte es und dauerte, während die Wartegemeinschaft vor den Türen wuchs und wuchs. Beharrlich tröpfelte der Regen auf die mit großer Vorfreude in die Metropole Ostwestfalens angereisten Soziolog:innen, die sich bereits kurz hinter dem Bahnhofsvorplatz in die Schlange einreihen mussten. Manche, die sich über die schon lange nicht mehr selbstverständliche Pünktlichkeit der Bahn an diesem Tag gefreut hatten und sich nun anderweitig ausgebremst sahen, nutzten die erzwungene Wartezeit, um mit einer Mischung aus Galgenhumor und Frust in den sozialen Medien auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen – zum Vergnügen derjenigen, die sich im weiten Rund des Foyers die Wartezeit mit der Lektüre jener Nachrichten verkürzten, die draußen getippt wurden. Gesellschaft ist – Niklas Luhmann, der stadtbekannte Soziologe aus Bielefeld, wusste es schon vor Jahren – eben wesentlich und vor allem Kommunikation.

Staatssekretärin in Abwesenheit

Um den Beginn nicht noch länger hinauszuzögern, beschlossen die Organisator:innen die Anmeldungen auf später zu verschieben, Check-in Check-in sein und den Einlass ungeordnet, aber zügig stattfinden zu lassen. So konnte dann im gut gefüllten, aber keineswegs voll besetzten Hauptsaal, der im gedimmten Licht einer Lounge die erhabenen Formen einer Theaterarena mit dem nüchternen Charme einer Turnhalle glücklich verbindet, endlich das Eröffnungsritual beginnen. Die Freude, nach den Pandemiejahren und zwei Zoom-Kongressen – 2020 in Berlin, 2021 in Wien – wieder in „körperlich-leiblicher Kopräsenz“ (Villa Braslavsky) zu tagen, war allgemein und spürbar. Diana Lengersdorf vom Organisationsteam, die den Reigen der Redner:innen eröffnete, sprach mit Donna Haraway von „practices of joy and pleasure“, lobte die vielfältigen Methoden und Verfahren, die es ermöglichen, „das eigene ,Wir‘ auszuloten“, und wünschte allen Anwesenden viele, auch „unbeabsichtigte Begegnungen“.

Empfindlich gedämpft wurde die gute Stimmung im Saal durch das Grußwort der Staatssekretärin im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Gonca Türkeli-Dehnert, die sich per Videobotschaft an den Kongress wandte und in den folgenden Grußworten daher als „Staatssekretärin in Abwesenheit“ firmierte. Der digitale Gruß aus Düsseldorf sorgte in Form wie Inhalt für Kopfschütteln und ungläubiges Staunen unter den versammelten Wissenschaftler:innen, nutzte die Staatssekretärin ihre vom Teleprompter abgelesene Botschaft an die „sehr verehrten Damen und Herren“ doch für ein Feuerwerk an Banalitäten. Das Kongress-Thema „Polarisierte Welten“ beschäftige uns alle, sagte sie, und fügte die erwartbaren Stichworte an: Corona, Krieg, Klimawandel. Von der Soziologie erwarte sie „Handlungsempfehlungen“ und Hilfe, die Phänomene der Gegenwart einzuordnen. Anschließend präsentierte sie ihr Ministerium als „verlässlichen Partner der Wissenschaft“, um dem Publikum sodann die Kriterien der Forschungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen auseinanderzusetzen. Der Schluss, die DGS habe mit Thema und Programm ihre „Anschlussfähigkeit“ bereits gezeigt, wirkte wie ein vergiftetes Kompliment. Warum Politiker:innen glauben, Wissenschaftler:innen bei jeder Gelegenheit mit abgedroschenen Managementfloskeln abspeisen zu können, ist ein Thema für sich. Die in der Videobotschaft vermittelte Vorstellung, äußere Krisen wären dank vortrefflicher Forschungsförderung einfach einzuordnen und wegzuarbeiten, wirkte in ihrem technokratischen Optimismus selbst wie ein Krisenphänomen.

Die Welt blicke wieder auf Bielefeld, sagte Andreas Rüther, der Erste Bürgermeister Bielefelds, der nach der abwesenden Staatssekretärin live und in Präsenz das Wort ergriff. Rüther, der in seiner Funktion häufig auch weniger angenehme Termine wahrnehmen muss, bedankte sich für die freundliche Anmoderation – „das erlebt man auch nicht immer“ –, widerstand der Versuchung, ein langes Loblied auf die eigene Kommune zu singen und damit die Geduld des Publikums über Gebühr zu strapazieren. Kurz und knapp, aber mit ausgeprägtem Lokalstolz präsentierte er die Vorzüge von „Liebefeld“, zu denen er zur Freude der Anwesenden auch die dort angesiedelte Fakultät für Soziologie zählte, die als eine der drei Gründungsfakultäten der seinerzeit noch „auf der grünen Wiese“ errichteten und 1969 eröffneten Universität auf eine erfolgreiche Geschichte zurückblicken könne. Selbstverständlich fiel der Name Niklas Luhmanns, des neben Dr. Oetker wohl bekanntesten Wissenschaftlers der Stadt. Als er den Anwesenden versprach, „Bielefeld macht Lust auf mehr“, war man fast geneigt, ihm zu glauben.

Alexandra Kaasch, die Prorektorin für Wissenschaft und Gesellschaft der gepriesenen Universität, pries ihrerseits deren „gelebte Interdisziplinarität“ – „man läuft sich automatisch über den Weg“ –, um sodann an den World Congress of Sociology zu erinnern, zu dem 1994 über 4000 Gäste aus aller Welt nach Bielefeld gekommen waren. Während man damals, nach dem Ende des Kalten Krieges, den Abbau von Grenzen beobachten und hoffnungsfroh in die Zukunft blicken konnte, sei die Gegenwart durch deutliche Tendenzen einer „Repolarisierung“ und die Wiederkehr überwunden geglaubter Formen politischer Konfrontation geprägt. Angesichts dieser Entwicklungen hoffte auch sie auf „wichtige Impulse“ durch den Kongress, „nicht nur für Bielefeld, sondern für die Gesellschaft“.

Noch weiter zurück in die Vergangenheit entführte der Dekan der hiesigen Fakultät für Soziologie, Andreas Vasilache, das Publikum. Er erinnerte daran, dass 1976 schon einmal ein DGS-Kongress in Bielefeld stattgefunden hatte. Der Titel der damaligen Veranstaltung besticht auch heute noch durch klassische Nüchternheit: „Materialien aus der soziologischen Forschung“. Dass man Understatement zum Programm machen kann, wusste auch der Bielefelder Soziologe Peter Weingart, den Vasilache in diesem Zusammenhang erwähnte. Als man Weingart im Vorfeld der Ausrichtung des World Congress of Sociology von 1994 vorwarf, die Soziolog:innen an die Peripherie zu locken, wo sie in Bauernkaten übernachten müssten, soll dieser lakonisch geantwortet haben: „Die Peripherie ist doch überall.“ Dass an der in dieser Peripherie gelegenen Fakultät für Soziologie gegenwärtig 30 Professuren mit über 100 Mitarbeiter:innen beschäftigt sind, wo sie zwar nicht in Bauernkaten nächtigen, aber auf einer Großbaustelle arbeiten müssen, erwähnte der Dekan auch.

Ein erster Auftritt der beiden Musiker von Primus Duo, die virtuos für die musikalische Untermalung des Abends sorgten, beendete den Grußwortreigen und belebte das Auditorium, an dem das monotone Einerlei der immer wieder neu in feiner hierarchischer Abstufung ausgesprochenen Begrüßungen – warum probiert man es nicht mal mit einem demokratischen „Liebe alle“? – nicht spurlos vorübergegangen war.

Unbeabsichtigte Begegnungen

Nach dem musikalischen Intermezzo wurde es dann endlich auch intellektuell interessant, weil Paula-Irene Villa Braslavsky, die Vorsitzende der DGS, in ihrem Eröffnungsvortrag begann, die Dinge anhand einiger Stichworte etwas komplizierter zu machen. Mit dem „Realen des Sozialen“ sei es so eine Sache. Während man in der Stadthalle tage, tobe da draußen eine mehr oder weniger gefiltert hereindringende Wirklichkeit, die nicht zuletzt durch die Gegenwart des Krieges geprägt sei. Ausdrücklich begrüßte sie die Kolleg:innen aus der Ukraine – von Bielefeld aus sei Lviw so nah wie Rom –, und wies mit den Protesten im Iran und dem Sieg des Rechtsbündnisses bei den Wahlen in Italien auf weitere Konfliktfelder hin, um dann jedoch einer allzu schlichten Vorstellung von Polarisierung zu widersprechen. Zur sozialen Wirklichkeit gehöre sehr viel mehr als polarisierende Diskurse und Narrative. Die Realität sei ein komplexes Differenzgefüge, politische, ökonomische und kulturelle Strukturen markierten die Bedingungen, unter denen sich Situationen entwickelten, die ihren Eigensinn als soziale entfalteten. Diesen Eigensinn des Sozialen zu beschreiben, sei Aufgabe der Soziologie, die zur Selbstaufklärung der Gesellschaft beitragen und in Debatten versachlichend, ernüchternd, aber auch polemisch wirken könne. Wer Konflikte analysieren und verstehen wolle, müsse sie in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität ernst nehmen. Statt konfrontativer Wertungen und Gegenüberstellungen (wir – die, einfach – künstlich, richtig – falsch) müsse es sich die Soziologie zum Ziel setzen, das Soziale wieder einzuführen und zu verdeutlichen, dass das Sosein ein gemachtes sei. Polarisierung zeuge von der Absicht, die Augen vor der Komplexität der Wirklichkeit zu verschließen. Sie sei der Versuch, einfache Antworten zu finden für Probleme, deren Lösung nicht so einfach zu haben sei. Der eindeutige, autoritäre Gestus der Wissenschaft funktioniere angesichts komplexer Probleme nicht. Sie könne Einsichten, Evidenzen und Faktenbeschreibungen liefern, Methoden und Theorien entwickeln und erproben, aber keine Handlungsanweisungen geben. Das durfte man als klare Absage an zuvor geäußerte Erwartungen seitens der Politik verstehen. Aber auch für die Mitglieder der eigenen Zunft, in der Grabenkämpfe und Revierstreitigkeiten zwar nicht vorherrschend, aber nach wie vor präsent seien, hatte die DGS-Vorsitzende einige mahnende Worte übrig. Der Komplexität des Sozialen könne die Soziologie nur mit einer Vielfalt an Ansätzen und Methoden beikommen, weder Empirie noch Theorie seien zu verabsolutieren. Die Pluralität des Faches, die manchen ein Dorn im Auge ist, sei keine Schwäche, sondern der Vielschichtigkeit und Unordnung der Welt angemessen. Die Soziolog:innen seien gut beraten, sich den produktiven Zumutungen ihres pluralen Faches zu stellen. Dazu gehöre auch, sich auf die analoge Welt der wissenschaftlichen Praktiken einzulassen, also auch auf „Mensa, Kaffeeschlange, Raumverwirrungen und unbeabsichtigte Begegnungen“, wozu der Kongress Gelegenheit genug bieten werde. In einer rhetorisch überzeugenden Schlusswendung wies Villa-Braslavsky schließlich auch noch auf die Wandlungen des Berufsbildes hin: die Zeiten des aller Care-Arbeit enthobenen, von Ehefrau und Sekretärin gehätschelten männlichen Textproduzenten seien endgültig passé. Und sie sprach noch einmal aus, was alle Verantwortlichen seit Langem wissen, ohne dass eine grundlegende Änderung der für viele Wissenschaftler:innen persönlich bedrückenden und dem Erfolg der Wissenschaft nicht förderlichen Verhältnisse abzusehen wäre: Gut 85 Prozent der in Forschung und Lehre Tätigen haben befristete Verträge, sind „underpaid and overworked“, oft ohne Perspektive. Ihre Mitteilung, dass die DGS die Situation der Beschäftigten „im Blick“ habe, wird diesen allerdings nur ein schwacher Trost sein.

Beck global, Rehberg regional

Erfreulicher gestaltete sich der nächste Programmpunkt der Veranstaltung, der zwei Preisverleihungen vorbehalten war. Der Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie ging in diesem Jahr an Karl-Siegbert Rehberg, den Heike Greschke in ihrer Laudatio als „Bürgerwissenschaftler im besten Sinne“ würdigte. Rehberg sei jemand, der sich gleichermaßen als Bürger und Wissenschaftler an öffentlichen Debatten beteilige, nie einseitig sei und die Dinge interessiert desinteressiert beobachte und analysiere. Neben seiner Verdienste um die Edition der kritisch-kommentierten Ausgabe der Werke Arnold Gehlens und seinem eigenen Beitrag zur kultursoziologischen Institutionentheorie hob Greschke vor allem Rehbergs kunstsoziologische Interventionen im sogenannten deutsch-deutschen Bilderstreit und sein Gespür für die invektiven Momente des mit der Wiedervereinigung begonnenen Transformationsprozesses hervor. Rehberg, so Greschke, habe das Ansehen der Soziologie innerhalb und außerhalb Dresdens in hervorragender Weise gefördert. Dem war nichts hinzuzufügen als langer und herzlicher Applaus für den Geehrten, der sich in der ihm eigenen Weise mit einer Mischung aus Witz und Verwunderung für den Preis und die damit verbundene Ehrung bedankte. Er persönlich hätte gedacht, dass nach Ulrich Beck, der sich wie kein anderer um die Wirkung der Soziologie verdient gemacht habe, niemand mehr diesen Preis erhalten sollte. Die Mitteilung der DGS-Vorsitzenden, dass es auch andere gute Kandidat:innen gegeben habe, hätte ihm „die Sache nicht durchsichtiger gemacht“. Über den Preis freue er sich dennoch: „Beck global, Rehberg regional“ – das gehe in Ordnung.

Der von Claudia und Trutz von Trotha gestiftete Thomas A. Herz-Preis für qualitative Sozialforschung ging diesmal zu gleichen Teilen an Jan Beek vom Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Universität Mainz und postum an den Soziologen Saša Bosančić, der bis zu seinem viel zu frühen Tod im vergangenen Jahr an der Universität Augsburg lehrte und forschte. Während Laudator Hubert Knoblauch Beeks Arbeiten zu Polizeiarbeit, Bürokratie und Betrug in Afrika für den Kenntnisreichtum lobte, mit dem sie die Realität außereuropäischer Gesellschaften in den Blick nehmen und zur Darstellung bringen würden, erinnerte Reiner Keller, der den Preis stellvertretend für Saša Bosančić entgegennahm, noch einmal an die Begeisterung, mit der dieser sich seinem wissenschaftlichen Lebensthema, der Subjektivierung, gewidmet habe. Auch diesmal gab es langen Applaus für die Geehrten, von denen einer von vielen im Saal schmerzlich vermisst wurde.

Wem gehört die Geschichte?

Beschlossen wurde der lange Eröffnungsabend durch den Gastvortrag von Mirjam Wenzel, der Leiterin des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. „(K)eine Brücke über die Kluft. Zur Funktion jüdischer Museen angesichts polarisierter Debatten um Antisemitismus in Deutschland“ – unter diesem ebenso sperrigen wie präzisen Titel analysierte Wenzel die Post-Documenta-15-Situation, die sie als ein Beispiel für tatsächliche, scharfe und folgenreiche Polarisierung präsentierte.

Bevor Wenzel in ihrem detaillierten Vortrag die einzelnen Stationen der Eskalation sowie die sie begleitenden kultur-, geschichts- und museumspolitischen Debatten Revue passieren ließ, berichtete sie über Versuche des International Council of Museums, die Aufgabe und das Selbstverständnis von Museen neu zu definieren. Nachdem ein avancierter Vorschlag der emphatischen Indienstnahme hergebrachter musealer Tätigkeiten für die Förderung von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit 2019 gescheitert war, beschloss die ICOM in diesem Sommer eine nur moderat modernisierte und politisch weniger eindeutig verortete Selbstbeschreibung. Für Wenzel ist die Überzeugung entscheidend, dass Museen „antizipieren, was künftig von Wert ist“, also die Vergangenheit für die Zukunft aufbereiten. In der neuen ICOM-Definition eines Museums und seiner Aufgaben fehlten eben jene Probleme, die das Selbstverständnis nicht nur der deutschen Museen seit Jahren erschütterten, vor allem Fragen der Provenienz und der Restitution illegal angeeigneter Kunstobjekte. Die wichtigen Fragen, denen sich die Diskussion stellen müsse, lauteten: Wer darf über materielle und immaterielle Überlieferung verfügen? Wem gehört die Geschichte?

Vor kurzem hat die Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums in Frankfurt dem Pianisten Igor Levit den „Ludwig-Landmann Preis für Mut und Haltung“ verliehen, zur Preisverleihung kam auch die Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Ein Facebook-Post über diesen Besuch löste einen Shitstorm aus. Nach der Documenta, hieß es, solle das Museum, immerhin eine öffentlich geförderte Einrichtung, die Staatsministerin nicht mehr empfangen.

Zur Vorgeschichte des Konflikts gehören unter anderem die BDS-Resolution des Bundestages, die Kritik des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein an der Einladung des kamerunischen Historikers Achille Mbembe zu den Ruhrfestspielen, die Kritik des Zentralrats der Juden in Deutschland am Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, die Initiative GG 5.3. Weltoffenheit, der Aufsatz „Der Katechismus der Deutschen“ von Dirk Moses und der Historikerstreit 2.0. Es war in Bielefeld nicht die Zeit, all die Streitfälle im Detail zu rekonstruieren. Ihr Anliegen konnte Wenzel dennoch deutlich machen: Nach den jüngsten Auseinandersetzungen um die Documenta sei es schwerer geworden, den Abgrund im Streit um den Antisemitismus überbrücken. Das Argument, der Antisemitismusvorwurf werde in Deutschland instrumentalisiert, um sich nicht mit der Kolonialgeschichte und den Künstler:innen des globalen Südens beschäftigen zu müssen, führe zur Verkennung der spezifischen Situation von Jüdinnen und Juden. Diese werde nicht wahrgenommen, die Einzigartigkeit von Auschwitz verleugnet. In den Diskussion fungierten Jüdinnen und Juden zumeist nur als Expert:innen für Antisemitismus. Damit seien sie gleichzeitig ein- und ausgeschlossen.

Jüdische Museen sind, wie Wenzel zeigte, zwangsläufig Orte, an dem Kontroversen über Flucht, Migration, Identität, Geschichtspolitik, Minderheitenrechte zur Sprache kommen und ausgetragen werden. Sie treffen „am grellsten den Nerv unserer Zeit“. Die Polarisierung des Documenta-Sommers wird sich so rasch nicht bearbeiten oder gar auflösen lassen. Zu viele Gesprächsfäden sind gerissen, zu geläufig ist die Übertragung des Kolonialismusmodells auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Zu häufig wurden die Jewish Studies und der Holocaust dem Kolonialismus und den Postcolonial Studies entgegengesetzt. Wobei manche obendrein das Beharren auf der Einzigartigkeit des Holocaust als Zeichen eines deutschen Provinzialismus brandmarken wollen. Es war gut und wichtig, dass Mirjam Wenzel die in diesen Konflikten zutage tretenden Formen von Polarisierung in ihrer Deutlichkeit beschrieb. Wie ihnen unter Umständen begegnet werden könne, deutete sie mit einem Zitat aus dem Buch Fluchtpunkte der Erinnerung des Soziologen Natan Sznaider an: „Universalismus und Partikularismus müssen gemeinsam gedacht und reflektiert werden.“

Mirjam Wenzels Vortrag beeindruckte als ein aktueller Bericht über die konkrete Arbeit in polarisierten Welten. Wollten Soziolog:innen das Beispiel angemessen analysieren, wären sie gut beraten, mit Politikwissenschaftler:innen, Historiker:innen, Literaturwissenschaftler:innen zusammenzuarbeiten. Zur Pluralität des Faches käme die Vielfalt der wichtigen Nachbarschaften, die „gelebte Interdisziplinarität“, von der Alexandra Kaasch zu Beginn gesprochen hatte.

Der weitere Abend gehörte dem Essen, Trinken, Plaudern in „leiblich-sinnlicher Kopräsenz“ – und möglicherweise auch „unbeabsichtigten“ Begegnungen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: SPLITTER

Jens Bisky

Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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Karsten Malowitz

Karsten Malowitz, Politik- und Sozialwissenschaftler, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis.

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