Stephanie Kappacher, Karsten Malowitz, Nikolas Kill, Hannah Schmidt-Ott, Wibke Liebhart, Julian Müller, Jens Bisky, Thomas Schmidt-Lux | Veranstaltungsbericht | 27.09.2022
Bielefelder Splitter II: Dienstag
Bericht vom 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld
Fair Share
Geld regiert die Welt – so simpel, so bekannt. Dass Geld und dessen Verteilung auch innerhalb von Paarbeziehungen und ihren alltäglichen Aushandlungsprozessen eine große Rolle spielen, ist eine ebenso wenig überraschende Erkenntnis. Berücksichtigt man jedoch noch andere Vermögensarten – jenseits ausschließlich monetärer Aspekte – und fragt nach Eigentum sowie Eigentumspraktiken und -verhältnissen innerhalb von Paarkonstellationen, locken durchaus interessante Einsichten. Entsprechend gut besucht, um nicht zu sagen überfüllt (einige Interessierte konnten den Seminarraum aufgrund von Platzmangel gar nicht erst betreten), war die von Sylka Scholz und Robin Kolja Saalfeld (beide Jena) sowie von Christine Wimbauer (Berlin) und Mona Motakef (Dortmund) organisierte Ad-hoc-Gruppe, die unter dem Motto „Was meins ist, soll auch deins sein!?“ Forschungsarbeiten und -ergebnisse rund um „Eigentum in ent/polarisierten Paarwelten“ versammelte. In ihrer Einleitung brachte eine unaufgeregte Sylka Scholz souverän alle Anwesenden hinsichtlich der Definition von Eigentum und dessen historischer Konjunktur in der Geschlechter- und Familienforschung auf denselben Stand. Resümierend formulierte sie die Leitfragen der Ad-hoc-Gruppe: Was verstehen Paare unter Eigentum? Wie und wo treten Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu Tage? Findet auf individueller Paarebene eine Ent-/Polarisierung geschlechtsgebundener Ungleichheit statt?
Den Auftakt der vier vorgesehenen Vorträge machten Saalfeld und Scholz mit ihren Untersuchungen zu Verhandlungen des property gap in Paarwelten. Zu Beginn schafften sie sogleich eine falsche Annahme aus der Welt: Denn entgegen der häufigen Behauptung, in Deutschland rede man nicht übers Geld, gaben die von Saalfeld und Scholz interviewten Paare an, durchaus über ihre jeweiligen Eigentumsströme, also das ihnen zur Verfügung stehende monatliche Einkommen aus Erwerbsarbeit, Rente usw., zu sprechen. Eigentumsbestände (hierunter fällt Vermögen aus Wertgegenständen, Sparguthaben, aber auch Schulden) kamen in den Interviews hingegen kaum zur Sprache und spielten gerade in der alltäglichen Interaktion eine nur untergeordnete Rolle– mit einer Ausnahme: dem Wohneigentum. Im Folgenden zeigten sie anhand exemplarischer Fallbeispiele eindrücklich, wie Paare sich darum bemühen, bestehende, teils enorme Unterschiede in der jeweiligen Ausstattung an Eigentumsbeständen im Alltag quasi auszulöschen, um dem/der Partner:in etwa Minderwertigkeitsgefühle zu ersparen. Das Jenaer Forschungsteam betonte, dass die Klassenherkunft (und gerade unterschiedliche Klassenherkünfte beider Partner:innen) ähnlich wie das Geschlecht einen starken Einfluss auf das paarspezifische doing property habe.
Hier wäre ein Vergleich zwischen ost- und westdeutschen Paaren sehr vielversprechend, gibt es zwischen diesen beiden Gruppen doch erhebliche Unterschiede in ihren Einstellungen etwa zu weiblicher Erwerbstätigkeit und der Gleichstellung zwischen Mann und Frau, aber auch hinsichtlich ihres Eigentums: Ostdeutsche Paare haben deutlich weniger Eigentum als westdeutsche, während gleichzeitig ostdeutsche Frauen über mehr Eigentum verfügen als westdeutsche. Saalfeld und Scholz waren auch die einzigen im Panel, die aufgrund ihrer immerhin 38 interviewten Paare ausreichend hohe Fallzahlen an aus Ost- und Westdeutschland stammenden Paaren hatten. Sie kündigten an, die beiden Gruppen vergleichend untersuchen zu wollen, stellten enttäuschenderweise an diesem Dienstag jedoch nur westdeutsche Paare vor und ließen an dieser Frage Interessierte auf dem Trockenen sitzen.
Natalie Grimm und Ina Kaufhold (beide Göttingen) präsentierten im Anschluss erste Ergebnisse ihrer Untersuchung zu Verteilungskonflikten in prekären Haushalten. Aus den Daten ihrer qualitativen Forschung entwickelten sie in Anlehnung an Durkheims Konzept der Solidarität verschiedene Bewältigungsstrategien, die in den Haushalten verfolgt würden. Am eindrücklichsten beschrieben sie als „mechanische Notgemeinschaften“ agierende Haushalte. Darunter waren insbesondere Familien mit kleinen Kindern und geringem Einkommen subsummiert, die in ländlichen Gegenden mit schlechter Infrastruktur leben und von der Not getrieben in stetig wiederkehrenden Aushandlungsprozessen ihren Alltag bewältigen. Dieser sei von gegenseitigen Abhängigkeiten und hierarchischen Strukturen geprägt, wie in den Interviews durch Aussagen wie etwa „Ich füttere sie ja mit durch hier“ deutlich wurde.
Mit prekären Paarhaushalten beschäftigten sich ebenfalls Christine Wimbauer und Mona Motakef in ihrem Vortrag, fokussierten hierin allerdings gering verdienende Männer in Hinblick darauf, wie diese ihre materielle Unterlegenheit deuten. Einleitend führten die beiden Arbeiten aus der Familienernährerinnen-Forschung an, die bereits belegten, dass Frauen, auch wenn sie die Rolle der Familienernährerin inne haben, weiterhin die Verantwortung für Haus- und Care-Arbeit übernehmen. Paare in solchen Konstellationen verschleiern in der Regel gemeinsam das geringe männliche Einkommen oder heben es gar als besonders verdienstvoll hervor, während sie das von der Frau erzielte Einkommen abwerten, obwohl es deutlich höher ist und den Lebensstandard der Familie sichert. Trotz dieser Vorbereitung musste man bei den von Wimbauer und Motakef aus den qualitativen Daten präparierten Deutungsmustern doch das ein oder andere Mal schlucken.
Harmlos begann es mit dem Fall Walter Wenke, von den beiden Forscherinnen als „asketische, autonome Monade“ bezeichnet, die „prekär aus Selbstbestimmung“ ein Leben in Unabhängigkeit führt und außerhalb einer Partnerschaft ihren Bedürfnissen nachgeht. Harmlos, aber eben auch, so die Vortragenden, Ausdruck des männlichen Privilegs, keinerlei Sorgearbeit verantworten zu müssen. Ernstes bedächtiges Nicken im Publikum. Eine Spur schärfer geriet das Ganze dann mit Ben Borg, dem „gelehrsamen Schüler“, der früher durch Betrug bei Sportwetten ein besonders hohes Einkommen erzielte, heute aber endlich ein ehrliches Leben führe, für das er aber kaum Geld zur Verfügung habe. Mit Geld könne er ohnehin nicht umgehen, weshalb er von seiner Frau, die die Familie ernährt, zusätzlich beinahe wie ein drittes Kind beaufsichtigt werden muss, wobei er aber nicht müde wird, seine besondere Leistung der „Aufrichtigkeit“ zu betonen. Genervtes Kopfschütteln im Publikum. Auf den Gipfel trieb es dann aber der Fall von Clemens Caspar mit seiner „Strategie der Ignoranz“, der seiner (insbesondere im Einzelinterview stark erschöpft wirkenden) Frau zunächst einreden will, sie könne ja ohne ihren Job in der Altenpflege gar nicht leben und brauche die Beschäftigung viel mehr als er. Als sie ihm widerspricht, wertet er all ihre Bemühungen mit den Worten ab: „Na ja, reicht so auch nicht. Von daher ist das eigentlich egal letztendlich.“ Wieder Kopfschütteln im Publikum, teils ergänzt um aufeinander gepresste Lippen und böse Blicke.
Für Abwechselung und sich beruhigende Gemüter sorgte Nora Lege (Dortmund), die mit ihrer Präsentation „Mein, dein oder unser ›eigenes Kind‹?“ eine neue Perspektive auf Eigentum eröffnete, nämlich eine des doing property jenseits von Monetarisierung. Sie fasste Eigentum als normativen Begriff und fragte, wie die Eigentumsförmigkeit in der Eltern-Kind-Beziehung hergestellt, wie das ‚eigene Kind‘ alltagsweltlich als etwas ‚Eigenes‘ konstruiert wird – und zwar unabhängig von seiner „Machart“ (leichtes Schmunzeln im Publikum), also schnödem Geschlechtsverkehr, Samenspende, Adoption usw.
In der anschließenden angeregten Diskussion plädierte eine hoch engagierte Barbara Thiessen (Landshut) in Bezug auf die Eigentumssituation in Paarbeziehungen dafür, juridische Aspekte stärker einzubeziehen. Sie verwies auf den Umstand, dass die meisten Menschen bei Eheschließung gar nicht wüssten, was es mit der damit grundsätzlich in Kraft tretenden „Zugewinngemeinschaft“ faktisch auf sich habe. In Deutschland würde an diesem juristischen Konstrukt immer noch festgehalten, während in vielen europäischen Ländern die „Errungenschaftsgemeinschaft“ längst Usus sei, in der beide Ehegatten über das Gesamtgut verfügen, das in der Regel aus allen Arten von in der Ehe erworbenen Einkünften besteht, also auch denen aus Arbeit oder anderen Vermögenswerten – eine Regelung also, die gerade die Folgen des westdeutschen Male Breadwinner-Modells für Frauen und Mütter viel besser auffangen würde.
Darüber hinaus kamen in der Diskussion zwei methodische Aspekte zur Sprache: Eher nebenbei wurde ein Umstand tangiert, der in der Datenerfassung beide Seiten betrifft, nämlich der, dass das monatliche Einkommen eine derart übergeordnete Rolle spielt. Zum einen rekurrieren die in den Interviews Befragten stets auf diese Zahlen, um ihre ökonomische (Alltags-)Situation zu datieren, zum anderen erheben auch die Forschenden stets das verfügbare Einkommen, um die befragten Personen oder Haushalte zu kategorisieren; standardmäßig ohne weitere Vermögensarten zu berücksichtigen, was sich, wie gerade die Vorträge dieser Ad-hoc-Gruppe deutlich machten, als wenig aussagekräftig, gar verzerrend erweisen kann. Einig waren sich auch alle Podiumsteilnehmer:innen hinsichtlich der von Veit Braun (Frankfurt) gestellten Frage nach ihren noch offenen methodischen Wünschen: Ideal wären qualitative Paarinterviews, ergänzt um Einzelinterviews und mindestens (teilnehmende) Beobachtungen. Doch wer sollte der dadurch generierten enormen Datenmenge in der begrenzten Zeit, wie sie Rahmen von etwa SFB-Projekten zur Verfügung steht, Herr werden?
(Stephanie Kappacher)
Anastasia und die Tradwives
„Polarisierungssemantiken und rechte Krisennarrative“ war der Titel einer Ad-hoc-Gruppe, zu der Leo Roepert (Hamburg) und Felix Schilk (Dresden) in einen der Seminarräume in den langen Fluren des Gebäudekomplexes X geladen hatten. In ihrer Anmoderation erläuterten die beiden Organisatoren dem zahlreich erschienenen Publikum zunächst das Anliegen ihrer Veranstaltung. Ausgehend von dem Befund auffälliger semantischer Überschneidungen zwischen wissenschaftlichen Polarisierungsdiskursen und rechten Krisendiagnosen wolle man der Frage nach den Ursachen dieser auffälligen Nähe sowie möglicherweise daraus resultierenden Wechselwirkungen nachgehen. Warum erfreuen sich Polarisierungsdiagnosen nicht nur in den Medien, die sie begierig aufgreifen und popularisieren, großer Beliebtheit, sondern gerade auch im rechten Spektrum? Welche Topoi, Begriffe oder diskursiven Muster finden im rechten Lager Anklang und warum?
Die Fragestellung machte neugierig und weckte Erwartungen, die vom ersten Vortrag „Polarisierungssemantiken und rechte Krisennarrative. Eine historische Perspektive“ allerdings nur bedingt erfüllt wurden. Auf der Suche nach den historischen Ursprüngen der rechten Krisennarrative, die er im Umfeld der Konservativen Revolution verortete, unternahm Martin Hauff (Frankfurt am Main) einen ideengeschichtlichen Streifzug durch das konservative Denken des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik, der sich jedoch auf eine mehr oder weniger eklektische Aufzählung weitgehend bekannter semantischer Topoi und ihrer Urheber beschränkte. Ferdinand Tönnies und sein ihm von links- wie rechtsintellektueller Seite entwendetes Begriffspaar von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ kamen darin ebenso vor wie Werner Sombarts propagandistische Gegenüberstellung von „Händlern“ und „Helden“ oder die von deutschen Denkern in Opposition zu den „Ideen von 1789“ entwickelten „Ideen von 1914“. Und selbstverständlich blieben auch Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen und Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes mit ihrer wirkmächtigen Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation nicht unerwähnt. Hauffs Feststellung, dass etliche der im Kontext des Ersten Weltkriegs von deutschen Denkern entwickelten Ideen nach dem Ende des Kaiserreichs und der Gründung der Weimarer Republik aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang entfernt und zu Waffen im innenpolitischen Kampf gegen Demokratie und Parlamentarismus umgeschmiedet wurden, traf einen wichtigen Punkt, der von ihm im Rahmen des auf Kurzvorträge ausgelegten Formats der Veranstaltung allerdings nicht weiter ausgeführt wurde. So endete der Vortrag, ohne die Fragen zu stellen, die er im Kontext der verhandelten Thematik eigentlich hätte stellen sollen, nämlich welche Akteure sich an diesen Prozessen mit welchen Intentionen beteiligten, wer sie dabei mit welchen Mitteln unterstützte und welche politischen Folgen ihre Rezeption zeitigte. Dass ausgerechnet Carl Schmitt, der Großmeister der Polarisierung, in dem Streifzug keine Rolle spielte, war ebenso überraschend wie die Tatsache, dass er auch in der anschließenden Diskussion nicht erwähnt wurde.
In einen anderen Teil des rechten Kosmos entführte der temperamentvolle Vortrag von Viktoria Rösch (Dresden). Unter dem Titel „Ästhetik des Untergangs – (Audio-)Visuelle Praktiken (neu-)rechter Influencer:innen zwischen Apokalypse und Heimatromantik“ präsentierte sie Einblicke in ihre Forschungsarbeit, die sich der Rolle junger rechter Aktivistinnen in den sozialen Medien widmet. Röschs Ausführungen nahmen ihren Ausgang von der plausibel erläuterten These, dass die Diagnose einer krisenhaften Gegenwart und das politische Engagement junger Frauen in einem von traditionellen Geschlechterrollen geprägten Umfeld geeignet seien, sich wechselseitig zu stützen und zu legitimieren. Wenn die Not groß sei und der Schutz von Familie, Volk und Vaterland es erforderten, dann wäre es auch für viele Rechte gerechtfertigt, dass Frauen sich nicht mehr nur um Haus und Herd sorgten, sondern sich politisch engagierten. Umgekehrt könnten Aktivistinnen durch ihr Verhalten dazu beitragen, rechte Krisendiagnosen weiter zu befeuern. Eine Strategie, die just dieses Ziel verfolge, sei die Verwendung vergeschlechtlichter Topoi durch rechte Influencerinnen. Einige Varianten dieser Praxis führte Rösch anhand von Screenshots, die sie ausführlich kommentierte, anschaulich vor, etwa die von ihr so genannte Praxis des Bezeugens: In bekenntnishaften, Authentizität inszenierenden Videoclips, in denen junge rechte Frauen von ihrer Angst im öffentlichen Raum sprechen, werde der für rechte Krisennarrative relevante Topos fehlender öffentlicher Sicherheit scheinbar beglaubigt. Ähnlich verhalte es sich mit Clips, in denen die Sorge um die Gesundheit von Kindern zum Ausdruck gebracht werde, um gegen die vermeintlich von staatlicher Seite betriebene Auflösung von Geschlechterrollen Stimmung zu machen. Eine weitere Praxis, Rösch nennt sie das „Kuratieren der Clownswelt“, bestehe im Hochladen, Kommentieren und Weiterleiten von Inhalten wie Bildern oder Stories, die der Verunglimpfung vermeintlich linker Ideen, Projekte oder Personen dienen. Solche Clips erfreuten sich großer Beliebtheit, die erfolgreichsten seien mitunter jahrelang im Netz präsent. Der Vortrag, der noch mit weiteren interessanten Einsichten aufwartete, etwa zu Korrespondenzen zwischen der Selbstinszenierung von sogenannten Tradwives (traditionellen Ehefrauen) und der Bildsprache der Romantik, führte nicht nur überzeugend vor, wie medientechnologische Veränderungen im Zusammenspiel mit vergeschlechtlichten Performanzen eine Neujustierung apokalyptischer Narrative bewirken, sie machte auch verständlich, warum der Kommunikation via Social-Media-Accounts ein „anderer Evidenzcharakter als Sprache“ und damit auch eine andere Affektivität zukommt. Von rechter Seite, so darf man schlussfolgern, wird schon lange nicht mehr nur um die Köpfe, sondern auch um die Herzen der Leute gekämpft.
Mit interessanten Einsichten wartete auch Manuela Beyer (Chemnitz) auf, die ihren zusammen mit Hannah Skaletzka (Chemnitz) verfassten Beitrag „Polarisierungssemantiken in der Anastasia-Bewegung“ vorstellte und dabei nicht zuletzt die Konstruktion von Emotionen sowie deren Bedeutung für den Anschluss an alternative ökologische Projekte thematisierte. Bei der nach der Protagonistin einer Buchreihe des russischen Schriftstellers Wladimir Megre benannten Anastasia-Bewegung handelt es sich nach Beyer um eine rechtsesoterische Gruppierung, die ein Leben im Einklang mit der Natur und den Aufbau von Familienlandsitzen propagiere und mit ihren Zielen vor allem bei Anhänger:innen der Permakultur und neuheidnischen Gruppen Anklang finde. Maßgeblich für das Selbstverständnis wie für die Anschlussfähigkeit der Bewegung sei das Beharren auf ihrem vermeintlich unpolitischen Charakter. Obwohl das Weltbild der Anastasia-Bewegung maßgeblich von rechten Topoi geprägt sei, verweigerten ihre Ahänger:innen sich politischen Zuschreibungen und lehnten das Rechts-Links-Schema als von außen oktroyierte und ihrerseits politisch motivierte Fremdzuschreibung ab. Neben dieser Strategie der Depolarisierung, die es ihnen ermögliche, die Charakterisierung als rechte Bewegung zurückzuweisen, identifizierte Beyer auch zwei Polarisierungsstrategien: Zum einen die dichotomische Gegenüberstellung von einer vormals heilen, natürlichen Welt und der ökologisch wie sozial verfallenen, technisierten Gegenwart, zum anderen die Stilisierung der Familie zu einem Hort der Liebe, der Schutz vor einer feindseligen Umgebung biete. Diese Stilisierungen erlaubten es den Anhänger:innen der Anastasia-Bewegung, sich gegen Zweifel an ihrem Weltbild zu immunisieren. Kritiker:innen, so Beyer, würden mangelnde Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorgeworfen, womit im Umkehrschluss die Selbststilisierung als Opfer einhergehe. Die Strategien der Depolarisierung und der Polarisierung arbeiteten so Hand in Hand: Die Inszenierung als unpolitische, moralisch integre Opfer stabilisiere die eigenen Überzeugungen und mache die Bewegung auch für andere Gruppen anschlussfähig. Dass die von Beyer und ihrer abwesenden Mitstreiterin Skaletzka entworfene Beschreibung des Wechselspiels von Polarisierung und Depolarisierung Parallelen zu aktuellen Bewegungen aus dem Umfeld von Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern aufweist, lag auf der Hand und kam auch in der anschließenden Diskussion noch einmal explizit zur Sprache.
Worum geht es, wenn Rechte von Niedergang oder Verfall sprechen? Und wie beeinflussen die Zeitstrukturen von Zukunftsvorstellungen politisches Handeln in der Gegenwart? Um diese und weitere Fragen ging es in dem Vortrag „Zeitstrukturen neurechter Zukunftsvorstellungen“ von Maximilian Weckemann (Berlin), der dafür warb, neben den Darstellungen der Vergangenheit auch die Zukunftsvorstellungen rechter Bewegungen stärker in den Blick zu nehmen und den Bezug zwischen Zeit und Handeln zu thematisieren. Nachdem Weckemann in aller gebotenen Kürze sein methodisches und theoretisches Besteck vorgeführt und dabei insbesondere die konstitutive Bedeutung imaginierter Zukünfte und imaginierter Gemeinschaften für politisches Handeln betont hatte, machte er sich daran, die behaupteten Zusammenhänge anhand von zwei Fallbeispielen zu illustrieren. Zur Plausibilisierung seiner Thesen dienten ihm dabei zum einen Manifeste, die Rechtsextremisten nach dem Terroranschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch verfasst haben, und zum anderen Texte von Anhänger:innen der Querdenkerbewegung aus der Zeitschrift Demokratischer Widerstand. Leitend für das politische Denken der Rechtsextremisten sei die verschwörungstheoretische These vom Great Replacement (großer Austausch), der zufolge die weißen Mehrheitsbevölkerungen der westlichen Staaten durch nichtweiße Migrant:innen ersetzt werden sollen. Vor dem Hintergrund dieses aus ihrer Sicht katastrophalen Zukunftsszenarios setzten die Rechtsextremisten auf eine Strategie der Beschleunigung, das darauf abziele, den ohnehin bevorstehenden Zusammenbruch der demokratisch angeblich nicht zu reformierenden Gesellschaften zu beschleunigen, um auf den Trümmern der alten Ordnung eine neue zu errichten. Da die Propagandisten des Great Replacement die Gefahr sowohl für real als auch für akut erachteten, hielten sie den Einsatz von Gewalt nicht nur für legitim, sondern geradezu für geboten. Sie sähen sich moralisch gerechtfertigt, um in ihrem eigenen Interesse, aber auch stellvertretend für zukünftige Generationen das Schlimmste zu verhindern. Rechte Aktivist:innen aus dem Umfeld der Querdenker-Bewegung, die eher der Verschwörungstheorie vom Great Reset (großer Neustart) anhingen, der zufolge Regierungen im Schatten der Corona-Pandemie die Errichtung totalitärer Überwachungsstaaten anstreben, orientierten sich demgegenüber an nicht apokalyptischen Zukunftsvorstellungen. Auch sie erachteten die Zukunft als bedrohlich und hingen verschiedenen Untergangsszenarien an, hielten eine Umkehrung der Entwicklung und die Errichtung einer ,wahren‘ Volksherrschaft aber immer noch für möglich, weshalb sie zwar Widerstand, aber nicht Terror für legitim hielten. Die vorgenommene Gegenüberstellung der zeitlichen Perspektiven und der mit ihnen verbundenen Zukunftsvorstellungen und Handlungsmuster überzeugte. Unklar blieb jedoch, was mit derartigen Beschreibungen angesichts einer sozialen Realität gewonnen ist, in der sich Zugehörigkeiten und Weltbilder längst nicht immer so eindeutig zuordnen lassen und das Mindset vieler Aktivist:innen von mehr als nur einer Verschwörungstheorie durchdrungen ist.
Im letzten, „Heterogener Kosmopolitismus und kommunitaristisches Nichts. Zur Kritik der These von einer ,neuen cleavage‘“ überschriebenen Vortrag stellte Floris Biskamp (Eichstätt) die seit einiger Zeit sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der breiteren Öffentlichkeit diskutierte Behauptung eines gesellschaftlichen Gegensatzes von Globalisierungsgewinnern und -verlierern auf den Prüfstand. Biskamp erinnerte zunächst knapp an den Entstehungskontext und den zentralen Gehalt der These, die „nach dem Dreifachschock von Trump, Brexit und AfD“ im Jahr 2016 formuliert und hierzulande unter anderem von Wolfgang Merkel und Cornelia Koppetsch recht erfolgreich propagiert wurde. Dieser These zufolge hatte die Globalisierung eine neue Spaltung der Gesellschaft in ökonomisch wie kulturell erfolgreiche Kosmopoliten und abgehängte Kommunitaristen erzeugt, die einander konflikthaft gegenüberstanden. Diese Spaltung, so die weitere Annahme, würde auch auf die politische Parteienlandschaft durchschlagen: Grüne und rechte Parteien könnten entlang der neuen Spaltungslinie erfolgreich mobilisieren, während die etablierten konservativen und sozialdemokratischen Parteien es zunehmend schwerer hätten, sich zu behaupten. Nachdem er die Vorgeschichte der neuen Cleavage-Theorie kurz und bündig referiert hatte, brachte Biskamp seine Einwände vor, die im Kern auf die Feststellung hinausliefen, dass die Einteilung in Globalisierungsgewinner und -verlierer nicht trennscharf genug sei, um die vielfältigen und häufig widersprüchlichen Effekte der Globalisierung adäquat abzubilden. Als Beispiel verwies er auf die Oppositionsbewegungen gegen Migration einerseits und Freihandel andererseits, die sich keineswegs nur aus dem Lager der Globalisierungsverlierer speisten. Zudem arbeiteten politische Organisationen sowohl auf der internationalen als auch auf der nationalen Ebene sehr arbeitsteilig und verfolgten selten einheitliche Strategien. Zwar gebe es ohne Frage in verschiedenen Gesellschaften Repräsentationslücken und abgehängte Schichten, aber zum einen divergierten die Ursachen von Land zu Land und zum anderen seien selbst globalisierungskritische Parteien nicht für ein Ende des grenzübergreifenden Personen- und Warenverkehrs. Und schließlich ließen sich den propagierten Großgruppen auch keine einheitlichen Weltbilder und Identitäten zuordnen. Was es gebe, sei „eine gewisse kosmopolitische liberale Selbstzufriedenheit“ und ein Gefühl der „moralischen Überlegenheit“, die aversive Affekte hervorriefen. Der beste Versuch, die Spaltungsthese zu retten, bestünde in der Behauptung, dass die Spaltung noch nicht da, aber im Entstehen sei. Angesichts der äußerst vielfältigen und zudem regional höchst unterschiedlichen Folgen von Globalisierungsprozessen räumte Biskamp aber auch einem solchen Thesenrettungsversuch nur äußerst geringe Erfolgschancen ein.
Am Ende meldeten sich mit Leo Roepert und Felix Schilk noch einmal die Organisatoren zu Wort, um gewissermaßen den Ertrag der Vorträge und Diskussionen zu bergen und sich an einem Fazit zu versuchen. Neben Gemeinsamkeiten in der Verwendung bestimmter Topoi und Begriffe hätten sich zwischen alter und neuer Rechten deutliche Unterschiede in der Konstruktion von Narrativen gezeigt. Zudem gäben die vorgestellten Analysen und Befunde Anlass zur Vorsicht gegenüber verführerischen Dichotomien. Sozialwissenschaftler:innen seien gut beraten, ihnen nicht nachzugeben, sondern ihre analytischen Kategorien aus dem Material zu gewinnen. Rechte Narrative zeichneten sich demgegenüber gerade durch die instrumentelle Verwendung empirisch nicht gesättigter Kategorien und Begriffe aus, die sie für polarisierende Gegenüberstellungen nutzten. Rechtes Denken funktioniere nicht ohne Polarisierungen, vielmehr seien diese für rechtes Denken geradezu konstitutiv. Das waren Thesen, die man gerne mitnahm; von ihnen ausgehend wäre weiter über Polarisierungssemantiken und Krisennarrative nachzudenken.
(Karsten Malowitz)
Simulierte Polarisierung
„Wir leben höchstwahrscheinlich in einer Computersimulation.“ – Mit diesem Satz ließe sich das Gespräch in einer Bielefelder Bar eröffnen, ein verlängertes Gedankenspiel bei zwei Bier. Der vom Philosophen Nick Bostrom formalisierten Simulationshypothese hat Elon Musk in den letzten Jahren neuen Zulauf beschert. Auf der Plattform des reichweitenstarken Podcasters Joe Rogan dozierte Musk des Öfteren über (a)soziale Medien, Bedingungen menschlicher Transzendenz und die (große) Wahrscheinlichkeit, dass unsere Lebenswelt lediglich das Spielzeug einer technisch weiterentwickelten Menschheit ist, die das Leben ihrer Vorfahren simuliert. In einer Bar dürfte das Wort Simulation am ehesten solche Assoziationen wecken – nicht aber auf dem Bielefelder Universitätsgelände.
Am Dienstagnachmittag tagte hier die Sektion „Modellbildung & Simulation“. Sie ging 1992 aus den Gruppen „Mathematische Soziologie“ und „Modellierung sozialer Prozesse“ hervor. In diesem Kreis wird Simulation als Methode eingesetzt, um Dynamiken und Implikationen von Modellen sozialer Strukturen und Prozesse zu erforschen. In Einklang mit dem diesjährigen Kongressthema wurden in der Paneldiskussion Simulationen parteipolitischer Polarisierung, urbaner Segregationsprozesse und sogar alternativer Abläufe der Gelbwesten-Bewegung vorgestellt.
Die Sitzung begann mit ein wenig Verspätung, da die Teilnehmer:innen zunächst mit dem peinlich analogen Problem einer verschlossenen Tür konfrontiert waren. Erst im dritten Anlauf war der richtige Schlüssel dann an der richtigen Stelle und Andreas Tutić (Bergen) konnte gemeinsam mit Knut Petzold (Zittau) den ersten Redner anmoderieren.
Über Zoom zugeschaltet stellte Hanno Scholtz (Zürich) ein Modell vor, das parteipolitische Polarisierung auf die Institutionen repräsentativer Demokratie selbst zurückführt (und nahm vorweg, dass er in der Schweiz lebe, wo bekanntlich eine andere Auffassung von Demokratie herrsche als in Deutschland). Modelliert wurde die Abwägung eines Parteimitglieds auf der Schwelle zum Austritt. Dieses „marginale Parteimitglied“ wägt den Nutzen der Mitgliedschaft – in Form von „social benefits“, aber auch ideologischer Übereinstimmung – gegen anfallende Kosten. Angesichts einer exponentiell steigenden Individualisierung – so die auf Ulrich Beck verweisende Hypothese – nehmen die politisch errungenen „social benefits“, welche die Wählerschaft als Klasse beziehungsweise Gruppe genießen kann, tendenziell ab. Personen, deren Parteimitgliedschaft gerade durch die Aussicht auf solche Errungenschaften begründet ist (hier „moderate“ Parteimitglieder genannt), treten folglich vermehrt aus der Partei aus, sodass vor allem „radikale“ (weil primär „ideologisch motivierte“) Mitglieder übrigbleiben.
Manche der grundlegenden Annahmen – die Parteimitgliedschaft sei entweder materiell oder ideologisch motiviert – und der aus ihnen hervorgehenden Qualifizierungen – moderate vs. radikale Parteimitglieder –, scheinen allerdings konzeptuell problematisch (Ist Ideologie hinreichend für Radikalität? Und wenn ja, wie ließe sich Ideologie oder ihre Abwesenheit bei Individuen ausmachen?). Hier besteht das Risiko, den Begriff der Radikalität inflationär zu nutzen und damit einhergehend das Phänomen der Polarisierung zu überschätzen. Andererseits wartet das Modell mit Lösungsansätzen für das ins Auge gefasste politische Problem auf, mehr direktdemokratische Einbindung der Bürger:innen oder politische Repräsentation durch zivilgesellschaftliche Organisationen zum Beispiel. Genau das war der Zweck der Modellierung, wie Hanno Scholtz auf Anfrage klarstellte: Es gehe ihm darum, „Beiträge zu leisten, dass Probleme gelöst werden“ (Scholtz selbst hat übrigens über Crowdfunding ein Projekt namens „Civil democracy“ ins Leben gerufen). Neben einem originellen Erklärungsansatz für politische Polarisierung sorgte der Forschungsansatz für anregende Fragen: „Kann man sich das auch als Indifferenzkurve vorstellen: Bei Verlust von so und so viel sozialem Nutzen müsste man so und so viele Einheiten Ideologie substituieren?“
Anschließend ging es um die französische Gelbwesten-Bewegung, genauer gesagt um „ein Simulationsmodell zur Erklärung ihres Scheiterns und zur Exploration eines möglichen Erfolgs“ – nach wie vor betrachtet aus der Schweiz. Georg Mueller (Freiburg, CH) hatte zu diesem Zweck (De)mobilisierungsprozesse bei Protesten mithilfe verschiedener Variablen (politisch frustrierter Bevölkerungsanteil, mobilisierter Bevölkerungsanteil, Ansteckungsrate des Protests etc.) modelliert. Und so simulierte er anhand variierender Werte der verschiedenen Parameter alternative Abläufe und die Dauer der Gelbwestenproteste. Für einen Erfolg der „gilets jaunes“ hätte beispielsweise „der Wert der Repressionsvariabel“ sinken müssen: Ein „hoher R-Wert“ könne durch Kooperation mit der Polizei erreicht werden – „das ist jedoch unmöglich, die sind nämlich auf der anderen Seite“. Also hätten die Protestierenden mit schwindender Motivation einfach besser „bei der Stange gehalten werden müssen“.
Ähnlich wie bei Hanno Scholtz stellt eine individuelle Kostenfunktion dabei die Grundlage für das Modell gesellschaftlichen Verhaltens dar – Akteur X führt Handlung Y aus (in diesem Fall: protestieren gehen), wenn der dadurch zu erwartende Nutzen für ihn die damit verbundenen Kosten übersteigt. Im Fall der Gelbwesten, hat empirische Sozialforschung jedoch gezeigt, dass die besetzten Kreisverkehre sich im Laufe der Bewegung auch zu einem wichtigen Sozialisationsort entwickelten. Den damit verbundenen Nutzen für die Akteure zu quantifizieren, scheint ein sehr anspruchsvolles Vorhaben. „Wie hoch und wie anhaltend hätte das Protestniveau sein müssen, um die Regierung Macron von der Straße her zu stürzen?“ – diese Frage blieb jedenfalls trotz quadratischer Regression auch auf und nach der letzten Vortragsfolie offen.
Für etwas Verwirrung sorgte kurzzeitig Georg Muellers Aussage, in seiner Regressionsgleichung gäbe es keine Konstanten. Zumindest diese Behauptung schien nach dem verzögerten Sitzungsbeginn auf dem Weg hinaus in die (Raucher-)Pause endgültig widerlegt: „Sind hier eigentlich alle Türen verschlossen???“. Auch in Bielefeld gibt es also offenkundig doch einige Konstanten.
Nach der Pause stellten Daniel Schubert und Sören Petermann (beide von der Ruhr-Universität Bochum) Simulationen von Segregationsprozessen vor. Wie das für die Segregationsforschung grundlegende Schelling-Modell gehen sie dabei von einer individuell stärker oder schwächer ausgeprägten Präferenz dafür aus, die eigene ethnische Gruppe in seiner Nachbarschaft in der Mehrheit zu sehen. Gefüttert mit Daten aus dem Allbus-Umfrageprogramm zur Einstellung deutscher Bürger:innen zu verschiedenen ethnischen Gruppen wendeten Schubert und Petermann das Schelling-Modell auf den deutschen Kontext an und zeigten Simulierungen von möglichen Segregationsdynamiken in einer deutschen Stadt. In der Powerpoint-Präsentation sah das ein wenig wie eine Neuauflage des Computerspiels Minesweeper aus – zeitgemäß farbig und dynamisch. Zudem bot es den Anlass, Mängel und Nutzen von Modellbildung für die Sozialforschung zu besprechen: „Das Segregationsmodell ist im Gleichgewichtszustand schön, das Problem ist bloß die Realität“. Im Anschluss an den Vortrag wurde über realistische Ausgangsmodellierungen gestritten sowie über die allgemeine Leistungsfähigkeit von Modellen: Wie komplex sollen sie sein, wie ausdifferenziert?
Das letzte Wort der Sitzung nutzte Organisator Knut Petzold für Grundlegendes: „Die Stärke des Modells liegt nicht darin, die Realität als solche abzubilden, sondern etwas Licht ins Dunkle zu bringen.“ Und womöglich liegt gerade hier ein Unterschied zu empirischer Soziologie: Während Letztere damit beschäftigt ist, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse – also eine gesellschaftliche Wirklichkeit – aus der Gegenwart und Vergangenheit zu erklären und zu deuten, konzentriert sich die modellorientierte Soziologie auf Zukünfte, die unter bestimmten Voraussetzungen eintreten könnten.
Ob der Bielefelder Kongress selbst gemäß der Simulationshypothese in einer nachgestalteten Lebenswelt stattfindet oder nicht, wird sich kaum abschließend klären lassen. Sicher ist: Soziolog:innen modellieren hier selbst gesellschaftliche Verhaltensmuster und simulieren auf dieser Grundlage Dynamiken, die es ihnen ermöglichen, soziale Prozesse zu antizipieren und manchmal sogar Lösungsansätze anzudeuten. Ganz ohne existenzielle Fragen – Wie? Und vor allem wozu? – kommen sie dabei nicht aus. Das hat etwas Beruhigendes.
(Nikolas Kill)
„Es geht um Rap!“
Dem Plenum „Neue Polarisierungen auf alten Pfaden? Altersdifferenzierungen und Altersdiskriminierungen“ war mit dem Morgen des ersten „richtigen“ Kongresstages nicht der attraktivste Zeitslot vergönnt. Während sich an der Registrierung noch immer lange Schlangen bildeten, die trotz des um einige Minuten nach hinten verschobenen Veranstaltungsstarts sicher den einen oder die andere davon abhielten, rechtzeitig im Hörsaal 4 des Hauptgebäudes der Bielefelder Universität einzutreffen, verbrachten viele potenzielle Zuhörer:innen diesen ersten Kongressvormittag damit, sich zu akklimatisieren und zu vernetzen – sofern sie überhaupt schon angereist waren. All das führte dazu, dass das Panel keinen Ansturm an Besucher:innen zu verzeichnen hatte und der besagte Hörsaal, trotz im Verlauf der Veranstaltung vereinzelt eintreffender Nachzügler:innen, auffällig leer blieb.
Das war auch deshalb bedauerlich, weil das von Anja Schierbaum (Köln) und Miranda Leontowitsch (Frankfurt am Main) organisierte Plenum mit einer geradezu disparaten Zusammenstellung von Perspektiven auf das Thema Altersdifferenzierungen und -diskriminierungen aufwartete und so verdeutlichte, wie präsent und wirksam beide in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sphären sind, wie wichtig also eine soziologische Auseinandersetzung mit ihren Effekten ist.
Thematisch nicht ganz neu, im theoretisch ausgefeilten Zugang jedoch umso innovativer war der Vortrag von Brigitte Aulenbacher (Linz, AT) und Fabienne Décieux (Linz, AT / Wien, AT), der die „Sorge und Sorgearbeit in der neoliberalen Marktgesellschaft – Anforderungen und Ansprüche an den Polen der Kinder- und Altenbetreuung“ behandelte. Die beiden zeigten, dass und wie die Quasi-Vermarktlichung der Kinder- und die faktische Vermarktlichung der Altenbetreuung umstrittene Felder sind, in denen – mit Polanyi gesprochen – unterschiedliche gesellschaftliche Organisationsprinzipien aufeinandertreffen. So liege etwa der Live-In-Altenbetreuung, also der 24 Stunden-Stunden-Pflege, ein marktradikales Selbständigenmodell zugrunde, in dem die zumeist aus Osteuropa migrierten Betreuerinnen über Agenturen an Arbeitgeber:innen vermittelt würden. In der Folge werde die Sorge vertraglich geregelt und standardisiert verkauft, während die Arbeit selbst unreguliert bleibe und letztlich informell – und gemeinhin zum Nachteil letzterer – zwischen den zu Pflegenden und ihren Betreuenden ausgehandelt werde. Die Gegenbewegungen, die, wie die Referentinnen betonten, nicht grundsätzlich progressiver Natur seien, gehe in diesem Fall von Interessenvertretungen aus, die ein Angestelltenmodell und Arbeitnehmerinnenrechte forderten.
Ein aktuell so viel wie kontrovers diskutiertes Thema griff der Vortrag von Maximiliane Hädicke (Göttingen) auf, die aus medizinethischer Perspektive über „Polarisierte Kontroversen entlang des Alters und die Medizin“ sprach. Konkret ging es um den Umgang von Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen mit trans Kindern – und zwar vor dem Hintergrund der Debatte darüber, ob minderjährigen trans Personen Pubertätsblocker und Hormone verschrieben werden können und sollten. Die These des hervorragend präsentierten Vortrags war, dass in diesen Konstellationen eine alte Polarisierung – nämlich die um die Frage nach dem Kindeswohl – zum Tragen komme: Stehen der Schutz des Kindes oder dessen Partizipationsmöglichkeiten im Vordergrund? Die Zerrissenheit der Kontroverse, so Hädicke, spiegele sich auch im Handeln der Mediziner:innen wider, deren Rollenverständnisse im Umgang mit trans Kindern stark divergierten. Allerdings liefe gerade ein medizinisches Selbstverständnis, das als „Professionelle Beschützer:in“ zu fassen sei, in Gefahr, minderjährige trans Personen durch ein überprotektionistisches Handeln zu diskriminieren. Das Anliegen, die Kinder vor Schaden zu schützen, laufe dann Gefahr, in einem Mangel an Respekt und Wertschätzung resultieren.
Die anschließende Diskussion war angeregt, die Wortmeldungen zahlreich. Es ging um die Kontroverse um den Kindswohlbegriff, das zugrundeliegende Verständnis von Medizin und die Pathologisierung von Transgeschlechtlichkeit – womit viele der Topoi aufgegriffen wurden, die auch in der öffentlichen Debatte eine Rolle spielen.
Der so kluge wie unterhaltsame Vortrag von Heidi Süß (Magdeburg-Stendal) und Marc Dietrich (Trier) bewegte sich thematisch in einer anderen öffentlichen Sphäre, nämlich der Popkultur. Die beiden sprachen über „Alter und Geschlecht als polarisierende Kategorien einer 40-jährigen Jugendkultur. Grundzüge einer intersektionalen und intergenerationalen Szeneanalyse am Beispiel Rap“. Dass Geschlecht mit Recht als wirksame und „polarisierende Kategorie“ im Rap bezeichnet werden kann, sollte jeder unmittelbar einleuchten, die sich die Mühe gemacht hat, bei den mit Vorliebe misogynen Texten derjenigen Tracks, die in den letzten Jahren zunehmend die Charts dominierten, hinzuhören. Allerdings, und das ist eine der neuen Entwicklungen, die Süß und Dietrich diagnostizieren, gebe es mittlerweile auch entgegenstrebende Tendenzen: Denn nicht nur in der Gesellschaft verändere sich das Geschlechterverhältnis, auch im Rap seien die „homosozialen Männergemeinschaften“ nicht mehr konkurrenzlos. Sexismus und toxische Männlichkeit würden auch in der Hiphop-Szene zunehmend problematisiert, Frauen – eine im Rap zuvor nur mit wenigen Protagonistinnen vertretene Gruppe – gewönnen an Einfluss und Reichweite, sexuelle Orientierungen jenseits der Heteronormativität würden zum Thema, Initiativen wie #deutschrapmetoo prangerten sexualisierte Übergriffe in der Rap-Szene an.
Doch auch Generationalität und Alter seien mittlerweile relevante Kategorien im Szenediskurs. Der kultureigene „Trend zur Juvenilität“ baue darauf, dass der mit Hiphop assoziierte Lebensstil nicht in mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit dem biologischen Alter, derer, die ihn praktizieren, stehe. Im Gegenteil: Dass die Szene mittlerweile auf eine 40 Jahre lange Historie zurückschaue, bedeute vor allem, dass auch die Künstler:innen der ersten Stunden gealtert seien. Das Resultat sei eine generationale Kopräsenz, die, so der Clou des Vortrags, als Differenzierungsmerkmal benutzt werde. Anhand eines aktuellen Raptracks sowie eines Szenejournalismus-Podcasts zeigten die Referent:innen, wie eine paternale Adressierung, der Vorwurf der Herkunftsvergessenheit und die Selbstpositionierung als Kulturliebhaber herangezogen werden, um zu polarisieren.
Unweigerlich fragt man sich aber, ob diese Motive nicht schon das ein oder andere Jahrzehnt auf dem Buckel haben, ja möglicherweise so alt sind wie die Rapkultur selbst – ist intergenerationales Dissen doch ein wichtiger Mechanismus zur Herstellung von Authentizität, der bekanntlich wertvollsten Währung im Rapgame. Das imaginierte oder faktische Gegenüber als jung, unerfahren und damit auch unfähig zu diskreditieren, ist ebenso eine wiederkehrende rhetorische Figur in Raptexten, wie der, freilich auf gewisse generationale Differenzen angewiesene, identifizierende Verweis auf „olschool“ Szenegrößen, die, je nach Milieu, von 2Pac bis zu den Stieber Twins reichen können. Aber wie dem auch sei: Dem Fazit des Vortrags, dass die Erforschung von Szenekulturen die intersektionale Trias von race, class und gender um noch andere Differenzierungsformen erweitern und stärker an aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen angebunden werden müsse, ist vollumfänglich zuzustimmen.
Auf die anschließende Frage aus dem Publikum, ob die beiden Referent:innen, da sie zumeist von der „Hiphop-Szene“ sprachen, ihre Diagnosen auf die gesamte Hiphop-Kultur beziehen würden, die neben dem Sprechgesang auch weitere Elemente umfasst, antwortete Dietrich mit einnehmendem Verve: „Es geht uns nicht um Breakdance oder Graffiti, es geht nicht um Turntablism – es geht um Rap!“
(Hannah Schmidt-Ott)
Umkämpfte Räume
Im August dieses Jahres, genauer: an jenen Tagen, an denen sich die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen zum dreißigsten Mal jährten, verübten Unbekannte im Leipziger Stadtteil Grünau Brandanschläge auf eine Gemeinschaftsunterkunft von Geflüchteten, auf einen Kindergarten und auf die Turnhalle einer Schule. Glücklicherweise kam dabei niemand zu Schaden. Die Ereignisse verweisen, ebenso wie zahlreiche andere Terroranschläge in Großstädten in den letzten Jahrzehnten, auf die Aktualität und Relevanz des Themas der politischen Gewalt im urbanen Raum – nicht nur für Polizei und Justiz, auch für die (Stadt-)Soziologie. Dies betonte Sybille Frank (Darmstadt) in ihren einleitenden Worten zu der mit „Stadt und politische Gewalt“ überschriebenen Ad-hoc-Gruppe.
Jeder der fünf Vorträge stellte mit je eigener Fragestellung einen empirischen Fall politischer Gewalt vor. Es ging um einen rassistischen Überfall im Berliner Mauerpark (Stefan Wellgraf, Berlin), um die Bedrohungswahrnehmung und Präventionsmaßnahmen in einer mittelschichtsgeprägten Vorstadt von Johannisburg (Manuel Dieterich, Tübingen) und um „Die Stadt Halle nach dem Anschlag“ (Marco Schott / Tobias Johann, Halle). Zwei weitere Fallbeispiele kamen aus Leipzig: Nachdem Paul Zschocke (Frankfurt am Main) „Rechte Raumnahme, rassifizierte Konflikte und politische Polarisierung in Leipzig-Grünau“ während der sogenannten Baseballschlägerjahre (1990er- und 2000er-Jahre) thematisiert hatte, zeichnete Annika Guhl (Dortmund) die „Ambivalente[n] Folgen politischer Gewalt im Kontext stadtpolitischer Proteste gegen Gentrifizierung in Leipzig-Connewitz“ nach. Eine nähere Betrachtung der Ereignisse in Leipzig-Grünau und Leipzig-Connewitz zeigt Unterschiede, Veränderungen und Entwicklungen im polizeilichen, öffentlichen und behördlichen Umgang mit politischer Gewalt in Städten.
Zunächst ein kurzer Abriss der jeweiligen Ereignisse: Der Leipziger Stadtteil Grünau – eine in den 1970er- und 1980er-Jahren entstandene Plattenbausiedlung im Westen der Stadt – war nach dem Ende der DDR mit Abwanderung, Privatisierung und teilweisem Abriss konfrontiert. Darüber hinaus kam es zu einer massiven „rechten Raumnahme“, das heißt zu sozialräumlichen Machtbestrebungen der (extremen) Rechten. Auch in Grünau gab es Anfang der 1990er-Jahre Angriffe auf Asylunterkünfte, rechte Gruppierungen ‚beherrschten‘ zentrale Orte des Viertels wie etwa Einkaufszentren, breite Straßen und Parks. Paul Zschocke konzentrierte sich in seiner Darstellung insbesondere auf die Dominanz der Rechten in der damaligen Grünauer Jugendkulturszene. Unter dem Label „akzeptierende Jugendarbeit“ gab es zum damaligen Zeitpunkt – und unter den Augen von Sozialarbeiter:innen und städtischen Behörden – einen selbstorganisierten rechten Jugendtreff, der wenig überraschend zu einem Umschlagplatz für rechtes Gedankengut, zum Kadertreff und Vernetzungsort wurde. Nicht zuletzt dadurch gehörten rechte rassistische Gewalttaten zum damaligen Alltag in Grünau, in der Folge verließ ein Großteil des alternativen Milieus den Stadtteil („alternative drain“).
In Connewitz, einer Nachbarschaft im tiefsten Leipziger Süden wiederum, gibt es seit 2011 linken Widerstand gegen steigende Mieten, Gentrifizierung, Privatisierung und mangelnde Bürgerbeteiligung. Annika Guhl untersuchte diskursanalytisch circa 350 öffentlich zugängliche Dokumente (mediale Berichterstattung, Blogeinträge, Pressemitteilungen, Wahlprogramme, Äußerungen der Aktivist:innen etc.). Das Protestgeschehen lässt sich ihr zufolge unterteilen in kooperativ-friedliche Protestformen und -gruppen sowie antagonistisch-konfrontative Aktionen und Akteure. Waren es 2011 noch ausschließlich friedliche Proteste, radikalisierte sich der Konflikt spätestens 2015: Es kam zu Brandstiftungen und Sachbeschädigungen; 2019 wurde die Prokuristin eines beteiligten Immobilienunternehmens verletzt. Die Zuspitzung der Ereignisse hatte positive wie negative Folgen. Einerseits zeigten sich Unternehmen und Stadt in der Folge deutlich gesprächsbereiter; es gründete sich ein Bündnis für bezahlbaren Wohnraum, um mehr Bürger:innenbeteiligung zu ermöglichen. Andererseits werden mit den von Polizei und Verfassungsschutz als linksextrem eingestuften Protestaktionen bis heute tiefgreifende ordnungspolitische Maßnahmen legitimiert. So erklärte die Polizei Leipzig-Connewitz aufgrund der Vorkommnisse zum sogenannten „Gefahrengebiet“ und eröffnete eine neue Polizeiwache eigens für den Leipziger Süden. Außerdem sind bestimmte Plätze und Straßenzüge seitdem dauerhaft videoüberwacht.
In den Fragerunden und Diskussionen im Anschluss an die beiden Vorträge ging es unter anderem um das behördliche und polizeiliche Vorgehen. Während es in Grünau in den 1990er-Jahren den Anschein machte, als tolerierten Polizei, Stadt und Sozialarbeiter:innen die offensichtlich zunehmende rechte Raumnahme, zeigte sich die Polizei bei den Protesten in Connewitz – und auch danach – sehr präsent. Offenbar reagiert vor allem die Polizei, aber auch die Stadt, sehr unterschiedlich auf politische Gewalt und geht auch unterschiedlich mit ihr um – je nachdem, aus welchem politischen Lager, dem rechten oder linken, sie kommt. Paul Zschocke verwies an dieser Stelle zu Recht auf den bedeutsamen Umstand, dass die jeweils untersuchten Zeiträume mindestens zwanzig Jahre auseinanderliegen und in den 1990er-Jahren Maßnahmen wie polizeilich erklärte Gefahrengebiete noch gar nicht existiert hätten. Er räumte allerdings auch ein, dass in Deutschland bis heute nur Gefahrenzonen aufgrund von linker Gewalt und Bandenkriminalität ausgerufen worden seien – keine einzige aufgrund von rechter Gewalt.
Der Vortrag von Annika Guhl provozierte einige kritische Nachfragen bezüglich ihrer Verwendung des Konzepts „Linksextremismus“ sowie ihrer trennscharf gezogenen Unterteilung in Linksaktivismus und -extremismus. Hier sei, so Stimmen aus dem Publikum, eine vorschnelle Übernahme der Kategorien, Beschreibungen und Definitionen des Verfassungsschutzes unbedingt zu vermeiden. Guhl verteidigte ihre wissenschaftliche Objektivität mit dem Hinweis auf die eigens von ihr eingeführte Unterscheidung zwischen kooperativ-friedlichem und antagonistisch-konfrontativem Protest.
Trotz des engen Zeitplans – immerhin gab es zwischendurch eine kurze Pause – und der empirisch gesättigten Schilderungen aller Referent:innen war der Nachmittag erstaunlich kurzweilig. Dies mag der Anschaulichkeit der empirischen Fallbeispiele wie auch den eingängigen und informativen Darstellungen der Vortragenden zu verdanken sein. Leider wurde, wie die Organisatorin Sybille Frank zum Schluss selbst bedauerte, „die Stadt als gebauter Raum“ zu wenig thematisiert – vor allem in komparativer Perspektive. Schließlich waren alle Beiträge mit dem Auftrag angetreten, politische Gewalt im städtischen Raum zu verhandeln, und dafür explizierten sie gerade die physischen Gegebenheiten der jeweiligen Orte zu wenig: ein rassistisch motivierter Überfall in einem öffentlichen Park; rechte Raumnahme in einer am Reißbrett entworfenen Plattenbausiedlung mit breiten Straßen und gut einsehbaren Plätzen; linker Protest in einem gewachsenen und kulturell etablierten Altbauviertel; Misstrauen, Überwachung und Bürgerwehr in einem bürgerlichen Stadtteil, der an eine inoffizielle Barackensiedlung grenzt; zivilgesellschaftliche Erinnerungsorte für Betroffene, Hinterbliebene und Stadtbevölkerung nach einem antisemitischen und rassistischen Terroranschlag. Ein stärkerer Bezug auf die städtebaulichen Umstände wäre für die Themenstellung der Ad-hoc-Gruppe wichtig und interessant gewesen: Welche Rolle spielt die Architektur vor, während und nach den jeweiligen Ereignissen? Welche Konsequenzen hatten und haben die Geschehnisse auf den jeweiligen Ort als sozialen Raum? Welche räumlichen Konzepte lassen sich aus den jeweiligen Untersuchungen heraus entwickeln? Zwar gingen einige Bemerkungen der Referent:innen, auch Fragen aus dem Publikum in diese Richtung, eine ausführliche und vor allem vergleichende Betrachtung steht aber noch aus.
(Wibke Liebhart)
Die Ausweitung der Schreibzone
Seit einigen Jahren taucht die Literatur wieder verstärkt als Thema in der Soziologie auf, umgekehrt zeigt sich immer häufiger auch die Literatur von soziologischen Fragestellungen fasziniert. Ob in Deniz Ohdes Streulicht, in Christian Barons Ein Mann seiner Klasse oder beim unvermeidlichen Didier Eribon, die Auflösung jenes von Jürgen Habermas einst vehement betonten „Gattungsunterschieds“ zwischen Wissenschaft und Literatur wird derzeit immer seltener zum Problem gemacht, sondern eher als Herausforderung begriffen. Vor diesem Hintergrund luden Carolin Amlinger (Basel), Sina Farzin (München) und Carlos Spoerhase (Bielefeld) im Rahmen der Ad-hoc-Gruppe „Aktuelle Zugänge zur Literatursoziologie“ dazu ein, über die Frage zu diskutieren, warum sich gegenwärtig gerade das Literarische als Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung anbietet.
Im ersten Vortrag rückte Carlos Spoerhase jene Praktiken des Vergleichens in den Mittelpunkt, die maßgeblich den Boden dafür bereitet hätten, dass um 1900 der Sinnhorizont des Globalen in der Literatur entstehen konnte. Anhand der Geschichte des Literaturnobelpreises zeigte er, dass innerhalb der Akademie bereits früh die Idee einer sukzessiven Zirkulation des Preises bestand. Unterschiedliche Nationen sollten bei der Preisvergabe in einem ausgewogenen Verhältnis berücksichtigt werden. Zum entscheidenden Instrument in diesem Zusammenhang wurde die Liste. Durch sie konnten die Nationalitäten der Nominierten denen der Akademiemitglieder gegenübergestellt werden. Aber nicht nur die Akademie selbst fertigte derartige Listen zur internen Kontrolle an, auch in der Presse wurden zunehmend Ranglisten veröffentlicht, in denen – ähnlich den Medaillenspiegeln bei Olympischen Spielen – der Erfolg verschiedener Nationen dokumentiert werden sollte. Spoerhase sprach an dieser Stelle von einem „olympischen Internationalismus“, den er jedoch weniger als das Eindringen einer Wettbewerbslogik in künstlerische Bereiche, sondern in erster Linie als Etablierung eines globalen Vergleichsmaßstabs interpretierte.
Im darauffolgenden Vortrag widmete sich Oliver Berli (Köln) einem anderen Literaturwettbewerb, nämlich demjenigen um den Bachmannpreis. Anders als beim Nobelpreis sind hier nicht nur die Nominierten, sondern auch die Jury bekannt – ein alles andere als banaler Unterschied. Angesichts der Proliferation von Literaturpreisen und jährlich veröffentlichten Titeln lohne es sich, die konkreten Verfahrenskonstruktionen derartiger Wettbewerbe in den Blick zu nehmen. Mit den Mitteln der Bewertungssoziologie fragte Berli daher am Beispiel des Bachmannpreises nach den spezifischen Qualitätskriterien, den Verfahren der Nominierung sowie den Praktiken der Kritik. Für einen derartigen Zugang bietet sich der Bachmannpreis auch deswegen besonders an, weil hier aufgrund der für den Wettbewerb typischen Live-Lesung und Live-Kritik die Praktiken der Bewertung besonders gut nachvollziehbar sind. An dieser Stelle wäre es vielleicht noch interessant gewesen, über das Verhältnis von spezifischen Verfahren und Erinnerung zu diskutieren. Denn während im Falle des Nobelpreises nur die Gewinner öffentlich werden, sind im Falle des Bachmannpreises auch die Unterlegenen bekannt. Nicht nur sind Letztere somit Teil der Geschichte des Wettbewerbs, womöglich bleiben ja gerade sie im öffentlichen Gedächtnis. Oder weiß noch jemand, wer im Jahr von Rainald Goetz‘ blutender Stirn den Bachmannpreis gewonnen hat?
Vom Bachmannpreis ging es weiter zu einem Sieger des Prix Goncourt: Christian Steuerwald (Bielefeld) und Christine Magerski (Zagreb) sprachen über Michel Houellebecq und nahmen den Kongresstitel zum Anlass, in dessen Werk nach Polaritäten zu suchen. Neben den bekannten und entsprechend geschilderten Kollisionen der Geschlechter sticht im Werk Houellebecqs die wiederkehrende Unterscheidung von Gewinnern und Verlierern ins Auge. Der Liberalismus westlicher Prägung erzeuge Houellebecq zufolge bekanntlich nicht nur permanent in ökonomischer, sondern vor allem auch in sexueller Hinsicht Depravierte. Steuerwald und Magerski lesen Houellebecq also nicht unerwartet als düsteren Zeitdiagnostiker und stoßen in seinen Romanen entsprechend immer wieder auf Soziologie. Wer aber etwa jener ‚Auguste Comte‘ sein soll, der in Houellebecqs frühen Texten auftaucht und ob dieser als soziologische Quelle oder vielleicht doch eher als literarische Figur zu behandeln ist, wären hier wichtige Anschlussfragen gewesen. Steuerwald und Magerski beließen es jedoch dabei, mögliche Deutungen nebeneinanderzustellen, die in Houellebecqs Werk entweder eine Literarisierung der Soziologie respektive eine Soziologisierung der Literatur entdecken oder in Houellebecq gar den wirkmächtigsten Soziologen der Gegenwart sehen wollen.
Über die außergewöhnlichen Schreibstrategien einer leider in Vergessenheit geratenen Soziologin informierte Tobias Schlechtriemen (Freiburg) in seinem Vortrag: Die in den 1920er-Jahren am Kölner Institut für Sozialwissenschaft tätige Hanna Meuter erprobte früh eigenwillige literatursoziologische Zugänge. In expliziter Abneigung gegen das methodische Instrument des Fragebogens griff sie in ihren Untersuchungen zum Erfolg und Misserfolg sozialer Beziehungen auf Situationen aus Émile Zolas Rougon-Macquart-Zyklus zurück. Literatur galt ihr als „soziologische Fundgrube“. Nicht nur ließen sich in Romanen soziale Typen in besonders plastischer Form ausmachen, auch gäbe es literarische Genres, die sich unmittelbar als empirisches Material behandeln lassen. So verarbeitete Meuter in ihrer Studie zur Heimlosigkeit entsprechende Hobo- und Heimlosenliteratur, um so die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen zu können.
In dieser Ad-hoc-Gruppe wurden also Praktiken des Vergleichens und Bewertens in Literatur-Wettbewerben thematisiert, es wurde an die Schreibpraktiken einer frühen Soziologin erinnert, und Michel Houellebecq wurde als Provokateur, durchaus auch als Provokation für die Soziologie vorgestellt. Wie lässt sich aber nun die Konjunktur literatursoziologischer Fragestellungen erklären? Warum gelingt es gerade einem so stark mit der Biografie des Autors verknüpftem Text wie Rückkehr nach Reims, Soziologisches zu popularisieren? Wie sollte die Soziologie mit den verschiedenen Ernauxismen umgehen, die in den nächsten Jahren wohl noch zu erwarten sind? – alles Fragen, für die in dieser kurzweiligen Veranstaltung zwar kein Platz mehr war, die aber hoffentlich in zukünftigen Veranstaltungen angegangen werden.
(Julian Müller)
Hört die Signale!
Es gibt gute Gründe, forschen Spaltungsdiagnosen und floskelhaft vorgetragenen Warnungen vor Polarisierungstendenzen skeptisch zu begegnen. Aber wenn Menschen in abgehängten Regionen auf dem Lande ihre soziale Welt als eine „Zweiklassengesellschaft“ beschreiben, dann verbietet sich das besserwisserische Abwiegeln. Dann gilt es, genauer hinzuschauen: Was ist da eigentlich los? Tine Haubner und Mike Laufenberg (Jena) gingen der Frage in einer dichten Präsentation nach. Sie eröffneten damit die Sitzung der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie unter dem Titel „Zur Zukunft der Klassengesellschaft“, der schlicht klingt, aber voraussetzungsreich ist, und mithin erklärungsbedürftig. Bevor Mike Laufenberg skizzierte, welche Begriffsarbeit vonnöten ist, um den Wandel ländlicher Klassengesellschaften in Deutschland in Anlehnung an internationale Forschungen zu Ländern des globalen Südens angemessen zu verstehen, stellte Tine Haubner Befunde aus der Untersuchung informeller Ökonomien in vier ländlichen Armutsräumen vor. Das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt gilt Regionen in Ost wie West, in denen sich Haubner zufolge mehrere, einander in den Wirkungen verstärkende Prozesse der Peripherisierung beobachten lassen: Die alten Jungen und Gutqualifizierten wandern ab, Erwerbslosigkeit wie Altersdurchschnitt sind hoch, die Einkommen dagegen niedrig, Privathaushalte und Kommunen sind überdurchschnittlich verschuldet, Infrastrukturen werden zurückgebaut. Kleine Betriebe prägen die Wirtschaft, Verwaltung und Erziehung sind die größten Arbeitgeber. Sie klagen über Fachkräftemangel, während für viele Geringverdiener Arbeitsmöglichkeiten fehlen. Früher waren sie in der Landwirtschaft beschäftigt, heute finden sie, wenn überhaupt, Arbeit in der Gastronomie, dem Einzelhandel oder der Pflege.
Wer Tina Haubners knapper Charakterisierung folgte, hatte gewiss Beispiele vor dem inneren Auge, doch wurden die Regionen nicht benannt, könnte dies doch eine der Aufwertungsstrategien gefährden, mit denen die zuständigen Verwaltungen auf die miserable Lage vor Ort zu reagieren versuchen, nachdem sie Hoffnungen auf Besserung durch Gewerbeansiedlung oder Förderung der Landwirtschaft offenbar endgültig begraben haben. Neben der Digitalisierung ist Touristifizierung die vorherrschende Vorgehensweise. Beide Aufwertungsstrategien richten sich an urbane Mittelschichten. Haben sie Erfolg, kauft eine einkommensstarke Klientel Land und Häuser, geriert sich dabei gern als „Retter der Dörfer“ und bezahlt doch beispielsweise lokale Handwerker nur schlecht. Auf diese Asymmetrie spielte der Obertitel der Präsentation an: „Zwischen ,neu-moderner Gutsherrenschaft‘ und ,Putzfrauen für die Ferienwohnung‘“.
Der Zuzug urbaner Mitteklassen polarisiere die Sozialstruktur, es komme zu „Binnenperipherisierung“ und in Folge des Strukturwandels zur intergenerationalen Verfestigung von Armutslagen. Es entstehe ein Subproletariat, eine „Klasse exkludierter Pauper“. Informelle Reproduktionsstrategien gewönnen an Bedeutung, Familie, Freunde, der eigene Garten, Kleintierhaltung, „Schwarzarbeit“, Nachbarn und die Mitleidsökonomie der Tafeln sicherten das Überleben. Beobachten ließen sich „Reservate von Abgehängten“, die direkt oder indirekt ausgebeutet würden, deren Tätigkeiten im dritten Sektor und auf dem dritten Arbeitsmarkt, sei es für die Tafeln oder zum Müllsammeln, genutzt würden, um die sozialen Reproduktionskosten mit öffentlicher Hilfe gering zu halten.
Das ebenso düstere wie plausible Bild warf Fragen auf, die in der Diskussion auch gestellt wurden: Wer sind die Zuzügler? Woher kommt die Oberklasse? Wie viele sind abgehängt? Wovon leben sie? Wie versteht und rechtfertigt die Verwaltung ihr Handeln? Erkennt sie die Folgen? Leider war die Zeit zu knapp, um ausführlicher aus den Interviews mit Expert:innen und Betroffenen zu zitieren oder konkrete Beispiele im Detail vorzustellen.
Mike Laufenberg ging im zweiten Teil der Frage nach, was die Befunde klassentheoretisch bedeuten. Der In-vivo-Code „Zweiklassengesellschaft“ sei zu unterkomplex, also brachte Laufenberg zunächst den Begriff des „Lumpenproletariats“ ins Spiel, der jedoch schon bei Karl Marx und Friedrich Engels analytisch nicht besonders ergiebig, weil mit allerlei sozialmoralischen Urteilen verbunden gewesen sei. Für eine zeitgemäße Klassenanalyse, so schlug Laufenberg vor, sei die zentrale Stellung formaler Lohnarbeit zu hinterfragen. Um der Fluidität gerecht zu werden, einer Lage, in der die Grenzen zwischen formeller und informeller, entlohnter und substituierter Arbeit, zwischen den Formen direkter und indirekter Ausbeutung fließend sind, erinnerte er an Michael Dennings Essay Wageless Life und daran, dass nicht lohnarbeitszentrierte Reproduktion global zunehme. „Marginale Massen“ würden in Lohnarbeit getrieben, aber nicht integriert.
Ob man den großen Apparat, die Werkzeuge der Klassentheorie wirklich brauche, fragte anschließend Christoph Weischer (Münster). In der gedrängten Darbietung am Dienstagnachmittag ließ sich die erschließende Kraft der Klassenanalyse in der Tat nur vermuten, zu vieles blieb angesichts der knappen Zeit nur angedeutet. Aber dieser Präsentation hätte man auch dann noch weiter gern zugehört, wenn sie eine Stunde oder länger gedauert hätte. Vermutlich wäre die Zahl der Fragen zu empirischen Befunden und analytischen Thesen danach eher größer gewesen.
„Klassenkonflikte und Geschlechterverhältnisse in der Pflege“ behandelte Iris Nowak in ihrer Präsentation. Sie zeichnete strukturell bedingte Konflikte nach und fragte, was das fürsorgliche Ethos für die Beschäftigten bedeutet. Darunter wollte sie vor allem die sensible Beachtung der Asymmetrie im Verhältnis von Pflegenden und Gepflegten sowie die Anerkennung der unvermeidbaren Abhängigkeiten in der Pflegetätigkeit verstanden wissen. Nowak konzentrierte sich aus guten Gründen auf die stationäre Altenpflege. Denn während es gesellschaftlich anerkannt sei, dass Kranke professionell und von speziell dafür Ausgebildeten gepflegt werden müssen, werde die Pflege alter Menschen gesetzgeberisch überwiegend als Aufgabe der Familie und der Nachbarn verstanden. In den stationären Einrichtungen komme den Pflegehelfer:innen eine immer größere Bedeutung zu. Welche Rolle spielt im Konflikt zwischen Rationalisierungsanforderungen und den Interessen der Beschäftigten nun das traditionell als weiblich verstandene fürsorgliche Ethos? Stärkt es die Aufopferungsbereitschaft und führt, wie gesagt worden ist, in eine „Zuneigungsgefangenschaft“? Es sei ein „Terrain von Konflikten“, so Nowak, die mehrfach den ambivalenten Charakter des Ethos betonte. Es könne einerseits kritische und selbstkritische Reflexionen der Arbeitsbedingungen befördern, andererseits aber auch dazu beitragen, entgrenzte Erwartungen etwa an junge Kolleg:innen zu formulieren. Auch individueller Widerstand gegen strukturell bedingte Vernachlässigung der zu Pflegenden sei eine mögliche Folge. Nowak empfahl, die betrieblichen Herrschaftsmodi genauer zu untersuchen, repressive Kontrollmechanismen ebenso zu rekonstruieren wie Strategien der subjektiven Einbindung in betriebswirtschaftliche Zielsetzungen. Dass durchgehende Professionalisierung eine vernünftige politische Forderung wäre, legte die gesamte Präsentation nahe.
Auf das große Ganze der Arbeitswelt richtete Torben Krings (Linz) den Blick in seinem Vortrag „Die Polarisierungsdebatte im Spannungsfeld von beruflichem Upgrading und atypischer Beschäftigung“. Arbeitsökonomen haben vor allem für die Arbeitsmärkte in den USA eine abnehmende Bedeutung von Routinetätigkeiten infolge der digitalen Revolution konstatiert. Das führe zu einer Polarisierung, die Mitte schrumpfe. In Europa seien die Befunde hingegen weniger eindeutig. Zur Klärung analysierte Krings Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für 21 Berufsgruppen. Von 1995 bis 2017 stellte er einen Anstieg der wissensbasierten Tätigkeiten wie der niedrig bezahlten Dienstleistungstätigkeiten fest. Die zwei wichtigsten Trends seien das berufliche Upgrading, aber eben auch eine Polarisierung. Damit widersprach Krings unter anderem Daniel Oeschs Behauptung vom „Polarisierungsmythos“, obwohl er – eine feine Pointe – Oeschs Klassenschema für seine Analyse nutzte. Die Polarisierung des Arbeitsmarktes in oben und unten sei nicht unausweichlich und auch nicht allein aus technologischen Entwicklungen herzuleiten. Es komme auf den institutionellen Kontext, die Verfasstheit der Arbeitsmärkte sowie das System der Tarifverträge an. Damit sei auch die Möglichkeit einer Re-Regulierung gegeben. Diese Befunde entsprechen in vielem dem, was sich, anders hergeleitet und dargestellt, auch in Oliver Nachtweys Studie Die Abstiegsgesellschaft aus dem Jahr 2016 nachlesen ließ. Dass betriebliche Kontexte wichtig und besonders interessant sind, legte auch diese Präsentation nahe.
Abschließend hielt Hajo Holst (Osnabrück) ein schwungvolles Plädoyer für eine „postpandemische Arbeitsbewusstseinsforschung“. Er konnte dafür auf die Daten des Arbeitswelt-Monitors zum Arbeiten in der Corona-Krise zurückgreifen, für die etwa 30.000 Online-Befragungen und 150 qualitative Interviews durchgeführt wurden – Material genug, um die Frage „Was bleibt von der Pandemie?“ zu stellen und über die „langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Klassengesellschaft“ zu sprechen. Die Ergebnisse scheinen indes wenig überraschend: die unteren Klassen trugen das höhere Infektionsrisiko und die größeren wirtschaftlichen Lasten, hatten aber kaum oder sehr viel seltener die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. So weit, so vorhersehbar. Interpretation verlangen einige der von Holst zitierten Selbstauskünfte aus den Interviews, etwa die einer Kinderbetreuerin von Anfang 50, die sagte: „Wir sind Kanonenfutter“. Ein Berufskraftfahrer, Mitte 40, erklärte: „Wir wurden schon vorher von der Gesellschaft wie Abfall behandelt“; eine Verkäuferin, angestellt bei einem Lebensmitteldiscounter, erinnert sich an die Monate nach dem ersten Lockdown: Anfangs hätten sie „für alle den Laden gewuppt“, auch hätte das Management weniger genervt, schon bald aber, um wieder mehr Gewinn zu machen, Studierte angestellt, die nun die Mitarbeiter:innen piesackten und ihnen Knebel anlegten. „Für die Studierten da oben“, so die Verkäuferin, „sind wir das Fußvolk, keine ernstzunehmenden Wesen.“
Hajo Holst erklärte diese scharfen, oft in Frontrhetorik vorgebrachten Äußerungen mit den Erfahrungen des ersten Lockdowns, jener Zäsur, in der Maßnahmen ergriffen wurden, die vorher ausgeschlossen schienen, in denen mancher Druck nachließ und „systemrelevante Tätigkeiten“ plötzlich große öffentliche Anerkennung fanden. Das hätten die Menschen wahrgenommen und nicht vergessen, dann aber festgestellt, dass ihnen nach wie vor und weiterhin viele Möglichkeiten verschlossen bleiben und keine grundsätzliche Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen eintritt. Das empfänden sie als Würdeverletzung, während der Anfang der Pandemie einen Blick auf andere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Organisation eröffnet habe. Die relative Normalisierung heute stehe im Gegensatz zu dieser Erfahrung des Frühsommers 2020. Ob dies nicht eine bildungsbürgerliche Projektion sei, fragte Patrick Sachweh. Würde man die zitierten Äußerungen nicht allein des Datums wegen auf die Zäsur der Pandemie beziehen? Holst widersprach und warb, um diese und andere Fragen zu klären, für die „postpandemische Arbeitsbewusstseinsforschung“.
Leider war nach den vier sehr unterschiedlichen Präsentationen eine abschließende Diskussion nicht vorgesehen. Gewiss, die Zeit ist begrenzt, Kongresse haben ihre eigene Logik und bewährte Formen. Dennoch hätte man gern gehört, wie die verschiedenen Befunde und Thesen einander ergänzen, ob sie miteinander in Einklang zu bringen sind und was sie über die „Zukunft der Klassengesellschaft“ verraten oder verdecken.
(Jens Bisky)
Polarisierung und Problematisierung
Den zweiten Kongresstag eröffneten drei Plenarveranstaltungen, von denen sich Plenum 1 – organisiert von Ruth Ayaß (Bielefeld) und Hubert Knoblauch (Berlin) – mit „Konzepten und Methoden des Polarisierens“ befasste. Den Anfang machte Boris Traue (Esch-sur-Alzette), dessen Vortrag den Titel „Erkenntniskonstitutive Polarisierung. Wie die Soziologie das dilemmatische Verhältnis von Komplexitätsdarstellung und Positionierungszwang reflektiert“ trug. Zur Diskussion stand hier also vor allem die Soziologie selbst, deren Situation Traue als „widersprüchlich“ bezeichnete: einerseits gefragt, andererseits ignoriert bis missachtet. Die Soziologie reagiere darauf vor allem mit einer Diskussion von Methodenfragen und Selbstverständnisdebatten. Anfänglich rekonstruierte Traue darauf bezogen relativ breitflächig verschiedene Diskussionslinien aus Frankreich, den USA und Deutschland. Im Laufe des Vortrags konturierte sich immer deutlicher eine von Traue vorgenommene Differenzierung des derzeitigen soziologischen Feldes: in erstens eine an statistischen Verfahren interessierte sociological science, zweitens eine interpretative Soziologie und, als dritten Strang, eine Soziologie, die vor allem von den jüngst entstandenen unterschiedlichen studies gekennzeichnet sei. Diese hätten das Thema der Parteilichkeit von sozialwissenschaftlicher Forschung noch einmal ganz neu auf die Diskussionsagenda gesetzt.
Traue machte deutlich, dass er vor allem mit den beiden letztgenannten Positionen sympathisiert. Beiden attestierte er aber Gesprächs- und Klärungsbedarf, insbesondere zu Weber und den explizit verhandelten Fragen von Parteilichkeit. Einen Entwurf von Soziologie, der für beide möglicherweise anschlussfähig wäre, skizzierte Traue dann selbst, indem er eine Disziplin forderte, die sich an gesellschaftlichen Debatten beteiligt. Dies sei weder eine Grenzüberschreitung noch drohe die Gefahr einer „Überpositionierung“ der Soziologie. Vielmehr würde die Soziologie dabei Vorstellungen aus der gesellschaftlichen Peripherie – etwa von marginalisierten Gruppen – aufgreifen und auf ihre Tauglichkeit zur Umsetzung in Politik und Rechtswissenschaft prüfen.
Der folgende Vortrag von Marian Burchardt (Leipzig) und Johannes Becker (Göttingen) stand unter dem Titel „The West and the Rest? Soziologie und Polarisierung als Verräumlichung“. Aufgerufen war damit eine der zentralen Unterscheidungen in der Soziologie, die zum einen zweifellos polarisiert und zum anderen selbst mit Polarisierungen arbeitet: die Trennung zwischen „westlichen“ und „nichtwestlichen“ Gesellschaften. Der Vortrag startete mit einer plausiblen Rekonstruktion der beiden Begriffsentwicklungen als „verräumlichende Begriffe des Polarisierens“. Chronologisch begann dies bekannterweise in den Anfängen der Soziologie, als nichtwestliche Gesellschaften gern und lediglich als Kontrastfolie dienten. Die Moderne fand woanders statt, resultierend in Bezeichnungen wie „westlichen Industriegesellschaften“ und der „Dritten Welt“.
Postkoloniale Autor:innen kritisierten nicht zuletzt die raumbezogenen Aspekte solcher Vorstellungen. In den Fokus gerieten dabei Orientalismus, Eurozentrismus und die mangelnde Thematisierung des Kolonialismus in der westlichen Sozialwissenschaft. Als Gegenentwurf – und damit in gewisser Weise als produktiver Ausweg aus der bisherigen Debattenlage – positioniert sich nun eine Global Sociology. Ziel ist dabei, die bisherige Privilegierung etwa Europas zu überwinden und die alten Dichotomien aufzulösen. Gesucht werden stattdessen taugliche Strategien, Instrumente und Methoden für global vergleichende Forschungen; die Stichworte „kollaborativ“ und „multiperspektivisch“ zeigen die erhoffte Richtung an.
Als konkretes Beispiel für Problem und Lösungsversuch diente Burchardt und Becker daraufhin die Biografieforschung. Dabei knüpften sie an Debatten aus dem „Netzwerk Qualitative Sozialforschung und transregionale Theoriebildung im Kontext globaler Soziologie(n)“ an. Im Kern griff das die regelmäßig wiederkehrende Frage auf, ob die Biografieforschung durch ihre spezifischen Annahmen – über das Individuum und die Erzählbarkeit seiner Lebensgeschichte – eigentlich an westliche Gesellschaften gebunden und damit als Forschungsperspektive kaum auf andere Kontexte übertragbar sei. Burchardt und Becker verwiesen als Antwort zum einen auf eine breit aufgestellte, globale Biografieforschung. Zum anderen führten sie aus, dass und wie sich gerade das Instrument des biografischen Interviews dazu eignet, empirisch offen zu forschen. Dafür müsse Biografie als soziales Konstrukt ernstgenommen und forschungspraktisch reflektiert werden.
Den abschließenden Vortrag hielten von Michaela Pfadenhauer und Katharina Miko-Schefzig (beide Wien), er stand unter dem Titel „Soziologie der Polarisierung oder Polarisierung der Soziologie? Zur Wiederentdeckung einer alten soziologischen Debatte“. Pfadenhauer und Miko-Schefzig bereiten derzeit ein Forschungsprojekt vor, das sich am Beispiel jüngster Debatten (Stichwort Impfen) mit unterschiedlichen Positionierungen gegenüber ‚der Wissenschaft‘ befassen soll. Im Kern des Vortrags standen ihre konzeptionellen Überlegungen und bisherigen Beobachtungen.
Hier gab es (endlich!) auch einen Bezug zu den rezenten Polarisierungsdebatten. Angesichts von (nur) circa 15 Prozent der österreichischen Bevölkerung, die nach wie vor gegen eine Impfung seien, schlossen sich Pfadenhauer und Miko-Schefzig der These von Steffen Mau an, der zufolge Polarisierung nicht in der viel zitierten „Mitte der Gesellschaft“ stattfinden würde. Stattdessen könne man vor allem eine „Radikalisierung der Ränder“ beobachten, Polarisierung sei also in erster Linie ein Diskursphänomen. Deshalb will sich das Forschungsprojekt von Pfadenhauer und Miko-Schefzig nicht mit den politischen Extremen, sondern mit ebendieser Mitte der Gesellschaft befassen, mit ihren Entwicklungen und ihren kleinen Lebenswelten.
Beispielhaft skizzierten die Referentinnen hierfür die Biografien von zwei Personen, die im Laufe der Corona-Pandemie zunehmend wissenschaftsskeptisch wurden und schlussendlich dem mit Polarisierung überschriebenen Spektrum zuzurechnen waren. Im Zentrum der künftigen Forschung sollen „Subjektivierungsweisen“ stehen – vorgestellt und auch in der Fragerunde thematisiert wurde dabei vor allem das Instrument der „Vignettenbasierten Fokusgruppe“. Diese bringt Personen zusammen, die sich sonst eher an unterschiedlichen Orten des sozialen Raums aufhalten (beispielsweise Polizist:innen und vor der Abschiebung stehende Personen).
Ein Fazit zu diesem Auftakt fällt nicht so leicht: Zu unterschiedlich waren die Perspektiven der Vorträge, Polarisierung fungierte letztlich nur als gemeinsame Überschrift, nicht aber als inhaltliche Klammer. Traue analysierte soziologische Reaktionen auf polarisierende Debatten und innersoziologische Polarisierungen; Burchardt und Becker gingen polarisierenden Raumkonzepten und darauf bezogenen Methoden nach; Pfadenhauer und Miko-Schefzig skizzierten mögliche Wege zur soziologischen Erforschung von individuellen Polarisierungskarrieren.
In all dem wurde am ehesten deutlich, wie gut und gründlich die Soziologie (mittlerweile) darin ist, überkommende Perspektiven und Begriffe zu problematisieren. Neue begriffliche und konzeptionelle Setzungen sind damit zwar nötig, werden aber gleichzeitig ebenso argwöhnisch beobachtet. Man merkte dies an einigen Nachfragen nach dem Kulturbegriff oder dem Umgang mit Empirie und Quellen: Analysiere ich noch oder verbreite ich schon Argumente aus dem Feld?
Hier und da klang etwas an, das in den kommenden Tagen deutlicher thematisiert werden sollte (no pressure, colleagues!): Geht eigentlich mit jedem Konflikt eine Polarisierung einher? Und wenn schon Polarisierung: Wer polarisiert hier eigentlich wie, mit welchen Argumenten und mit welchen Zielen? Und mit welchen Begriffen und Konzepten analysieren wir etwaige Polarisierungen, bei denen wir selbst mittendrin stecken? Aber es geht ja alles erst los…
(Thomas Schmidt-Lux)
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart, Karsten Malowitz, Stephanie Kappacher, Jens Bisky.
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