Madlen Böert, Jens Bisky, Hannes Krämer, Aaron Sahr, Thomas Schmidt-Lux | Veranstaltungsbericht | 28.09.2022
Bielefelder Splitter III: Mittwoch
Bericht vom 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld
Von Natties und Juicern
Männliche Körper stellen in kontemporären Gesellschaften zwar die androzentrische Norm dar, zu der jedwede andere Körper ins Verhältnis gesetzt werden, sie werden als spezifisch vergeschlechtlichte Körper aber kaum thematisiert, bleiben seltsam abwesend – mit dieser Beobachtung leitete Marlene Hartmann (Chemnitz) die von ihr und Fabian Hennig (Mainz) organisierte Ad-hoc-Gruppe „Männlichkeit und Körperlichkeit“ ein. Zu konstatieren, dass die Veranstaltung auf Interesse stieß, wäre maßlos untertrieben. Schon einige Minuten vor Beginn war der Seminarraum bis auf den letzten Platz besetzt. Und je mehr Stühle aus den umliegenden Räumen herangeholt wurden, desto mehr, vornehmlich junge, Zuhörer:innen kamen hinzu, bis der Raum tatsächlich brechend voll war.
Die Verbreitung von Viagra, die Diskurse um Testosteron, die Sorge um umweltbedingte Unfruchtbarkeit und männliche Kontrazeptiva: Über die Frage, wie man derlei neue Phänomene einerseits erfassen und beforschen könne und was sie andererseits über das Verhältnis von Männlichkeit und Körpern aussagten, wollte die Ad-hoc-Gruppe sich verständigen. Das gelang auch deshalb sehr gut, weil viele der Vorträge aus laufenden Dissertationsprojekten berichteten und interessante Einblicke in die Schwierigkeiten und Herausforderungen gaben, mit denen die Wissenschaftler:innen beim Beforschen männlicher Körper und ihrer Vergesellschaftung konfrontiert sind.
Louka Maju Goetzke (Frankfurt am Main) sprach über das Promotionsprojekt „Doing Gender Transitions: Eine neomaterialistische Perspektive auf Geschlecht in Bewegung“. Goetzke will den materiell-diskursiven Prozessen, die Transition erfassbar machen, mittels problemzentrierten Interviews auf den Grund gehen. In deren Auswertung würden alle für die Transition relevanten Prozesse – von Fernsehserien über medizinische Leitlinien – nachverfolgt, um eine möglichst detaillierte und komplexe Beschreibung der Geschlechtergrenze und ihrer Überschreitung zu ermöglichen.
Dass Genitalamputationen oder -verletzungen bei Männern in der Öffentlichkeit kaum thematisiert werden, würde wohl niemand in Zweifel ziehen. Dass das jedoch auch im privaten, geschützten Rahmen der Regelfall ist, stellte Myriam Raboldt (Berlin) fest, als sie versuchte, Interviewpartner für ihr Dissertationsprojekt zu finden, das der Frage nachgeht, wie Cis-Männer den materiellen und funktionalen Verlust ihrer Geschlechtsorgane erleben. Raboldt schilderte eindrücklich die Schwierigkeiten, mit denen die empirische Erhebung sie konfrontierte: Versuche, etwa über Urologie-Netzwerke oder das Peniskarzinomregister Betroffene zu finden, die zu einem Gespräch bereit waren, seien zumeist erfolglos geblieben; Scham, Tabus und Schweigen hätten das Feld charakterisiert. Das Schweigen habe sie letztlich vor allem in über Online-Foren vermittelten Chat-Interviews brechen können, deren Auswertung natürlich diverse methodische Fragen aufwerfe, denen sie sich stellen müsse. Raboldt schloss mit dem treffend formulierten Verweis auf den Konflikt zwischen Inhalt und Form, der ihr Forschungsvorhaben auszeichne: Sie habe mit den Männern sprechen wollen, der Inhalt der Gespräche habe, wenn sie dann einmal stattfanden, aber in großen Teilen darin bestanden, dass die Interviewten ihr erklärten, dass sie im Alltag nicht über das Thema reden würden. Insofern war der Vortrag ein eindrückliches Beispiel für den Einfluss gesellschaftlicher Tabuisierungen auf die Datenerhebung in der empirischen Sozialforschung.
Tillmann Schorstein (Gießen) berichtete in seinem Vortrag über sein Projekt zu „Aftercaring Masculinities. Körper-reflexive Praktiken männlicher (Für-)Sorge im Kontext von BDSM“. Aftercare bezeichnet eine Reihe von Gesten und Handlungen, mit denen der dominante Part den submissiven im Anschluss an eine BDSM-Session umsorgt. Schorstein fragte, wie Männer Fürsorge in diesem Kontext erleben beziehungsweise gestalten und was das für körperspezifische Geschlechternormen bedeutet. Seine Einlassungen machten deutlich, dass die fürsorgende Bezugnahme auf einen fremden Körper auch als Selbstfürsorge wirksam werden können, die dem Ideal hegemonialer Männlichkeit entgegenstehe.
Inwiefern die Forschung an hormonellen Zeugungsverhütungsmitteln Männlichkeit in gleich doppelter Weise herstellt, zeigte Fabian Hennig in seinem Vortrag „,Neben-Wirkungen‘ – Zur hormonellen Konstruktion von Cis-Männlichkeit in der Zeugungsverhütungsmittelentwicklung“. Der Mechanismus, über den die Verhütung mit Testosteron wirke, sei die Unterdrückung der intertestikulären Produktion von Hormonen. Es werde, so Hennig, also ein Mangel geschaffen, der dann behoben werde, in dem man Hormone von außen zuführe. Da die spermienreduzierende Wirkung von Testosteron allerdings bei rund 30 % der Männer ausbleibe, müsse es mit Gestagenen kombiniert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Die damit einhergehenden Nebenwirkungen, die bei hormonellen Verhütungsmitteln für Frauen bekanntlich in Kauf genommen werden, seien vor allem dann ein Problem für die Zulassung der Medikamente, wenn die männliche Sexualität in ihrer Funktion eingeschränkt werde. Das Prinzip „No tinkering with male sexuality“ bleibe dominant.
Mit dem Thema Testosteron setzte sich der Vortrag von Marlene Hartmann vertiefend auseinander. Sie sprach über die „Hormonalisierung von Männlichkeit“, die, im Gegensatz zu jener von Weiblichkeit, verhältnismäßig wenig erforscht sei. Dabei ermögliche Testosteron andere Praktiken der Vergeschlechtlichung als etwa Penisse. Das habe unter anderem mit der spezifischen Durchlässigkeit zu tun, die dem Hormon zu eigen sei – etwa, dass man es injizieren könne. Es verfüge aber auch über bestimmte Widerständigkeiten, da es flüchtig und instabil sei und seine Zuführung unter Umständen auch unerwünschte Nebenwirkungen verursachen könne. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn Bodybuildern, die es zur Unterstützung des Muskelaufbaus applizierten, Brüste wüchsen. Daran anschließend veranschaulichte Hartmann den Einfluss – sie nennt es mit Latour „Agentialität“ – von Testosteron am Beispiel einer Spaltung der Fitness-Community: die Einnahme anabol-androgener Steroide, darunter Testosteron, zum beschleunigten Aufbau von Muskeln stelle einen Streitfall männlicher Subjektivierung dar. Die eine Seite, verkörpert durch die sogenannten „Natties“, stehe dem „Stoffen“ kritisch gegenüber, da sie Männlichkeit durch die Verletzung des Köpers und den Verstoß gegen das Arbeitsethos bedroht sähen. Die konträre Position der „Juicer“ schreibe Testosteron-Injektionen hingegen eine Steigerung der Agentialität zu, womit derselbe Körper- und Arbeitsethos besser verwirklicht werden könne. Hartmanns einleuchtendes Fazit lautete, dass der Körper, um ein spezifisch männlicher zu sein, vor allem eines sein müsse: das Produkt eigener Arbeit.
Steht Männlichkeit heute stärker unter Druck als früher? Zu einer solch umfassenden Diagnose ließ sich Fabian Hennig auch auf Nachfrage nicht hinreißen. Allerdings gebe es mit Testosteronlevel und Spermienanzahl neue Parameter, an denen Maskulinität gemessen werden könne.
(Hannah Schmidt-Ott)
Kein Nischenphänomen
In Bielefeld kennt man sich mit Verschwörungen aus – allerdings erfreut sich nicht nur die harmlos-nervige Bielefeld-Verschwörung anhaltender Beliebtheit: In ihrer Einführung zur Veranstaltung „Mythos im neuen Gewand? Völkische und antisemitische Elemente in Esoterik und Verschwörungsnarrativen“ der Sektion Politische Soziologie bemerkte Mitorganisatorin Lotta Mayer (Heidelberg), dass Verschwörungsnarrative deutlich weiter verbreitet und eben kein Nischenphänomen seien, wie man noch vor wenigen Jahren angenommen habe. Was auf den ersten Blick neu erscheint, muss es also nicht immer sein – vielmehr seien Verschwörungsnarrative über neue Trägergruppen stärker „in den öffentlichen Raum eingedrungen“ und bewiesen eine erstaunliche Anschlussfähigkeit.
Wie die Verbreitung dieser Narrative – buchstäblich – aussehen kann, zeigte der Beitrag „Despised or celebrated women, anti-semitic and racist images: translating the US Capitol Storming into German Right-Wing Digital Media“ von Nicole Doerr (Kopenhagen). Sich dem gesellschaftlichen Mainstream anzunähern, gelingt der extremen Rechten vor allem über Bilder, die rechte Narrative verdichten und so ermöglichen, dass ihre „Ideen wandern“ gehen. Ein von Doerr aufgegriffenes Beispiel sind Fotos der US-Amerikanerin Ashli Babbitt, die beim Sturm auf das Capitol im Januar 2021 getötet wurde. Breit lächelnd, ein knallrotes Basecap mit dem Slogan „Make America Great Again“ tragend ist sie ein Sinnbild dafür, dass diejenigen, die das Capitol stürmten, eben ganz normale „everybodies“ sind und keinesfalls irgendwelche Verrückten. Dass es dabei durchaus eine Rolle spielt, dass Babbitt eine Frau ist, macht Doerr mit ihrer Gegenüberstellung unterschiedlicher Frauenbilder deutlich, die in rechten Medien sowie über rechte Influencer verbreitet werden und über die kollektive Identität geschaffen wird. Die rechte Bildsprache vermittelt dabei eindeutig, wer Freund und wer Feind ist: „Unsere“ Frauen werden auf Gemälden und Fotos nostalgisch bis kämpferisch, aber immer positiv dargestellt – während „andere“ Frauen zu Memes werden, die zwischen Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und Fatshaming oszillieren. Besonders überzeichnete Memes der amerikanischen US-Kongressabgeordneten Alexandra Ocasio-Cortez sorgten im Publikum für Diskussionsstoff und zeigten, dass man über spezifisches Wissen verfügen oder schlicht dazu gehören muss, um die Memes auf Anhieb verstehen zu können: Doerr berichtete, sie selbst habe die Politikerin auf manchen Memes erst gar nicht erkannt – was sicherlich auch eine interessante Einsicht zur Reflexion der eigenen Positionierung hinsichtlich des Forschungsgegenstandes ist.
Auch der Vortrag von Johanna Fröhlich (Oldenburg) nahm Bezug auf kollektive rechte Identitäten und Narrative. Unter dem Titel „Die übergreifende Dauer des neu-rechten ›Volkes‹“ widmete sie sich der Frage, was eigentlich neu ist an der neuen Rechten. Dazu zeigte sie auf, dass in der neuen Rechten moderne Vorstellungen des Menschenrechtsindividualismus mit Vorstellungen eines homogenen Volkes und so individuelles mit kollektivem Leiden verknüpft wird. Konkret zeichnete sie dies an einem empirischen Fallbeispiel nach: Fröhlich zitierte aus einem Stammtischgespräch, bei dem die gemeinsame Zukunftsvorstellung, dass Deutschland in den nächsten 50 Jahren am Ende sei, wenn man sich jetzt nicht zur Wehr setzte, Gesprächspartner vereinte, die zuvor die widersprüchlichsten Diskussionspositionen über die zukünftige politisch-wirtschaftliche Ausrichtung des Landes vertraten. Um dieses zukünftige, kollektive wie individuelle Leid abzuwenden, müsse man sich in Stellung bringen – und außerdem kann man gleichzeitig durch gesellschaftliche Ausschlusserfahrungen eine Opferrolle als „illegitim Delegitimierte“ für sich reklamieren. Das zum jetzigen Zeitpunkt bereits individuell erlebte oder für die Zukunft antizipierte Leid macht es, so die in der anschließenden Diskussion zugespitzte These, plausibler, sich an den Mythos eines kollektiv leidenden Volkes anzuschließen. Allerdings, so der berechtigte Einwurf aus dem Publikum, bleibt dennoch die Frage, ob ähnliche Mechanismen nicht schon im Nationalsozialismus zum Einsatz kamen – und damit ob diese Verknüpfung von Individuum und Kollektiv ein tatsächlich genuin neues Element der neuen Rechten ist.
Mit einer Kritik an der Rechtspopulismusforschung begann Leo Roepert (Hamburg) seinen Vortrag über den antisemitischen Gehalt des Rechtspopulismus: Der bisherige Forschungsstand unterstelle dem Rechtspopulismus Deradikalisierungstendenzen sowie einen Wechsel von Antisemitismus zu allgemeinem Rassismus und Islamfeindlichkeit. Schließlich sei das Rechte am Rechtspopulismus, dass der allgemeinen Gegenüberstellung von Volk und Elite ein fremdenfeindliches Element hinzugefügt werde. Roepert zufolge reproduzierten rechtspopulistische Weltbilder allerdings weiterhin alle Strukturmerkmale des Antisemitismus – der Jude als Feindbild werde nur durch elitäre „Globalisten“ ersetzt. Anhand eines Textes des AfD-Politikers Alexander Gauland zeigte Roepert unter Verwendung eines hermeneutischen Antisemitismusbegriffs auf, dass zwar keine expliziten Beschreibungen des Bösen als jüdisch im Rechtspopulismus vorhanden seien, aber dennoch spezifische antisemitische Deutungsmuster verwendet würden und es sich gerade nicht um eine allgemeine Kritik an gesellschaftlichen Eliten handelte. Dementsprechend „frappierend“ ist für Roepert, wie wenig Antisemitismus in der Rechtspopulismusforschung thematisiert wird. Es sei keineswegs davon auszugehen, dass Antisemitismus schlichtweg durch Islamophobie ersetzt wurde oder der Rechtspopulismus als deradikalisiert gelten könne, weil Juden nicht mehr explizit als Feindbild angeführt werden. Stattdessen, so Roeperts Diagnose, findet sich im Rechtspopulismus eine Grundstruktur, mit deren Hilfe die Schwelle zum offenen Antisemitismus schnell überschritten werden kann.
Thematisch schloss Elke Rajal (Passau) an Roeperts Ausführungen an und präsentierte einen Beitrag über antisemitische Verschwörungsmythen, die in den aktuellen Krisen Aufwind bekommen hätten. Rajals Beobachtungen zeigten, dass gerade der verdeckte Antisemitismus rechter „Desinformationsmedien“ vielfältig anschlussfähig sei, antisemitische Denkstrukturen abrufe und sie auf diese Weise wieder neu verankere. Antisemitismus werde durch Narrative wie jenes von der jüdischen Weltverschwörung als eine Art Meta-Erklärung für alle Krisenphänomene in Anschlag gebracht, indem gegenwärtige Krisen in unterschiedlichem Maße als inszeniertes Projekt interpretiert werden. Ähnlich wie Roepert beobachtete Rajal, dass der Rückgriff auf internationale Eliten oder „Globalisten“ als Krisenverantwortliche den zugrundeliegenden Antisemitismus verschleiere und mitunter nichtjüdische Personen als Feindbilder installiert würden, die als „Platzhalter“ in antisemitischen Denkstrukturen fungieren. Krisen seien folglich ein idealer Nährboden für Antisemitismus – und auch ein Umschlagen in antisemitische Gewalt könne nicht ausgeschlossen werden. Allerdings wurde in der anschließenden Diskussion auch die Frage aufgeworfen, ob gerade eine Verschiebung antisemitischer Denkstrukturen zu beobachten sei – etwa, weil im Zuge des Ukraine-Krieges queere Personen als „Weltzersetzer“ verantwortlich gemacht werden. Begrifflich ist dies selbstverständlich vom Antisemitismus abzugrenzen, Rajals impliziter Aufruf zu mehr intersektionaler Forschung in diesem Bereich ist aber in jedem Fall folgerichtig.
(Madlen Böert)
Bürgerliche Einflusssphären
Seit Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim im Jahr 2014 ist wieder viel von „Einflusssphären“ die Rede. Das Wort spielte vor allem für jene eine wichtige Rolle, die versuchten, die russische Aggression gegen die Ukraine zu verharmlosen oder zu beschönigen. Die Akzeptanz von Einflusssphären, so hieß es auf der einen Seite, könne Konflikten vorbeugen, Frieden stiften, pazifizierend wirken. Andere widersprachen: Das Konzept sei nicht mehr zeitgemäß, ein anachronistisches Überbleibsel aus dem imperialistischen Zeitalter, das der Rechtfertigung von Kriegen diene und die internationale Weltordnung gefährde. Diese Polarisierung ist nicht neu. Wie sie entstand und welche Implikationen mit dem Konzept der Einflusssphären verbunden sind, zeigte Simon Hecke (Bielefeld) in einem brillanten Vortrag über den „Wandel und die anhaltende Umstrittenheit einer imperialen Semantik seit 1870“. Seine Präsentation eröffnete am Mittwochvormittag die von Martin Petzke und Ralf Rapior (beide Bielefeld) organisierte Ad-hoc-Gruppe „Das Deutsche Kaiserreich als ,polarisierte Welt‘? Historisch-soziologische Zugänge“, in deren Rahmen neue Forschungen und aktuelle Probleme, welche die Wissenschaft wie die allgemeine Öffentlichkeit gleichermaßen beschäftigen, klug aufeinander bezogen wurden.
Simon Heckes begriffsgeschichtliche Betrachtung rekonstruierte die „normative Ambivalenz“ der „Einflusssphären“, eines gleichermaßen imperialistischen wie informellen Konzepts, dessen Entstehung eng mit der kolonialen Expansion des Kaiserreichs verbunden war. Der Begriff verbreitete sich um 1890 im völkerrechtlichen Diskurs, nachdem bereits auf der Berliner Konferenz 1884 davon die Rede war, „einen Einfluß auszuüben“. Wenig später bekundeten sowohl Großbritannien als auch das Kaiserreich ihren Willen, „eine Kollision der beiderseitigen Kolonialinteressen“ zu vermeiden. Mit dem Konzept der „Einflusssphären“ schien ein informelles, aber wirksames Mittel an die Hand gegeben, etwaige Konflikte zwischen den europäischen Großmächten zu regulieren. Auch Max Weber warb für eine „arrondierte Interessensphäre, wie andere sie auch haben“. In den Kolonial- und Völkerrechtswissenschaften verband sich damit die Frage, ob und wie Einflusssphären Teil eines „Steigerungsprozesses kolonialer Kontrolle“ seien, eine Vorstufe oder „ein notwendiger Durchgangspunkt“ zur Kolonie. Wer hier von „Einflusssphären“ sprach, bejahte abgeschwächte oder abgestufte Formalität und nahm Imperialität als selbstverständlich hin.
Sozialistische und liberale Kritiker:innen des Konzepts und der mit seiner Hilfe legitimierten Großmachtpolitik sahen das anders. „Imperialismus ist der Drang nach Kolonien, Schutzgebieten und Einflußsphären“, schrieb etwa der sozialistische Publizist Max Beer 1902. Die Kritik, ob von Kautsky, Luxemburg oder später Lenin vorgetragen, erkannte eine neue Form des Imperialismus, die dazu dienen sollte, neue Absatz- und mehr noch neue Anlagemärkte zu erschließen. Der Begriff wurde als „verbale Täuschung“ bezeichnet, eine Art zynischer Imperialismus. Gerade aufgrund der Informalität und Latenz handelte es sich aus Sicht der Kritiker:innen um ein Konflikte erzeugendes und verschärfendes Prinzip. Mit ihm waren und sind bestimmte, einander diametral entgegengesetzte Weltordnungsmodelle verbunden. Das Prinzip der Einflusssphären impliziert nach Hecke „governance by the few“. Es gehört zu einer Grauzone. Ungeachtet der vorausgesetzten Gleichheit aller Staaten gibt es eine ungleiche Machtverteilung, zu der man sich verhalten muss. Soll man diese mit der Akzeptanz des informellen Einfluss-Prinzips legitimieren und Handlungen der Stärkeren rechtfertigen? Der Vortrag beantwortete die normative Frage nicht, zeigte aber, wie das Konzept der Einfluss- oder Interessenssphären zu einem zentralen Baustein für den Aufbau und das Verständnis der internationalen Ordnung wurde.
Lange Zeit wurde die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs geschrieben, als ob dessen Kolonialreich nebensächlich gewesen sei. Es ging um Nationenbildung, das Hauptinteresse beanspruchten interne Prozesse, die man in erster Linie mit endogenen Faktoren erklärte. Wie Kolonialismus und Nationalstaatsbildung hingegen sinnvoll als verflochtenes Geschehen verstanden werden können, zeigte Matthias Leanza (Basel) in seinem Vortrag. Verabschiedet man sich von der Vorstellung, Reiche oder Imperien und Nationalstaaten seien kategorial inkompatibel, bekommt man die historisch-genetischen Verflechtungen in den Blick. Zum einen wies die Nationalstaatsbildung im deutschen Fall in Form des Reiches selbst koloniale Eigenschaften auf. Die Geschichte der preußischen Ostgebiete, in denen Millionen plötzlich zu einer nationalen Minderheit gehörten, worauf mit Grenzkolonisation und Ansiedlungsprogrammen, Ausgrenzung der polnischen Bevölkerung und Zwangsmaßnahmen zur kulturellen Assimilation reagiert wurde, liefert viele Beispiele dafür.
Zudem beförderte die Weltmachtpolitik die Nationenbildung, weil sie den Zentralstaat im Kaiserreich stärkte. Gerade wegen der Krisenanfälligkeit der Schutzgebiete, die ein Zuschussgeschäft waren und politische wie militärische Probleme aufwarfen, wurde, so Leanza, das Kolonialreich ein konsolidierender Faktor. Die dezentral agierenden Compagnien, deren unternehmerische Aktivitäten für die Entstehung der Schutzgebiete entscheidend waren, verlangten staatlichen Schutz, was die Begehrlichkeiten anderer Mächte weckte. Entstanden aus dem Versuch, den Überseehandel politisch einzubinden, wuchs mit dem Schutzgebietsgesetz von 1886 die zentralstaatliche Verantwortung. Ähnliche Wechselwirkungen und Verflechtungen lassen sich für die Flottenpolitik oder das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 rekonstruieren.
So falsch es ist, die Geschichte des Kaiserreichs ohne Aufmerksamkeit für die Kolonialpolitik zu erzählen, so wichtig ist es andererseits, deren Bedeutung nicht zu überzeichnen. Methodischer Globalismus, so schloss Leanza, überzeugt so wenig wie methodischer Nationalismus oder Eurozentrismus.
Zwischen den insgesamt fünf Vorträgen der Ad-Hoc-Gruppe ergaben sich aufschlussreiche Korrespondenzen, was ja nicht selbstverständlich ist. Lea Rénard (Berlin) sprach über „Die polarisierte Produktion von Statistiken im Kaiserreich“ und stellte die Organisation von Volkszählungen und die Erhebung statistischer Daten im Reich wie in den Kolonien dar. Leider blieb unklar, welche Frage die Fülle des ausgebreiteten Materials beantworten sollte. Dass auch diese Wissensproduktion der Legitimierung des imperialen Systems diente, wird man kaum bestreiten, aber Wechselwirkungen, Verflechtungen oder gar Polarisierungen zeigte der Vortrag nicht auf.
Theresa Wobbe (Potsdam) widmete sich „Polarisierten Arbeitswelten zwischen imperialen und nationalen Logiken des Kaiserreichs“. Sie fragte, wie in den Ostgebieten, die Preußen sich im Zuge der drei Teilungen Polens im 18. Jahrhundert angeeignet hatte, Arbeitsmigration reglementiert wurde. Dazu wählte sie einen wissenssoziologischen Zugang und stellte dar, wie die Furcht vor Verdrängung der Deutschen, die in der Landwirtschaft jedoch auf Saisonarbeiter aus anderen Ländern angewiesen waren, Herrschaftspraktiken der Diskriminierung und Kontrolle legitimierte. Dabei war der Glaube an die eigene kulturelle Überlegenheit, die Verbindung von Deutschtum und Leistungsfähigkeit entscheidend. Die damaligen Sozialwissenschaften hielten kaum oder nur geringe Distanz zu anti-polnischen Klischees wie Maßnahmen und Ansiedlungsprogrammen.
Den Zusammenhang von „Deutschtum und Bürgerlichkeit“ behandelte Martin Petzke (Bielefeld) in seinem Empirie und Theorie überzeugend verbindenden Vortrag über den Verein für Socialpolitik und die „Entpartikularisierung bildungsbürgerlicher Kultur“. Petzke betrachtete vor allem zwei umfangreiche Studien des Vereins für Socialpolitik: „Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ (1892) und „Die Ansiedlung von Europäern in den Tropen“ (1912–1915).
Für seine Argumentation griff Petzke auf Bourdieus Vorlesungen „Sur l’État“ zurück und fragte, wie partikulare Formen sich als offizielle Form, als Vorbild und Norm etablieren. Bourdieu hatte die „Entpartikularisierungsarbeit“ am Beispiel der Herausbildung der Hochsprache dargestellt; Petzke ging es um den bürgerlichen Lebensstil, den die Proletarier vermissen ließen. Dass sie auf methodische Lebensführung, Sparsamkeit, Häuslichkeit, Lektüre und anderes mehr zu verzichten schienen, weckte bekanntlich Ängste und motivierte die Hoffnung auf Verbürgerlichungsprozesse der gefährlichen Klassen, die oft als ,Wilde‘ im eigenen Land beschrieben wurden. Berücksichtigt man auch den kolonialen Kontext, lässt sich eine aufschlussreiche Verschiebung beobachten: Mochten die Arbeiter im Vergleich mit den Bürgern wie ,Wilde‘ erscheinen, so änderte sich das, stellte man sie und die Bürger den Eingeborenen in den Kolonien gegenüber; dann überwog die Gemeinsamkeit der Deutschen, Weißen, während den Eingeborenen unter Rückgriff auf ein tradiertes Beschreibungsvokabular mangelnde Voraussicht, das Fehlen von methodischer Lebensführung und Aufstiegswillen vorgeworfen wurden. Auf diese Weise, so Petzke, universalisiert sich die bürgerliche Kultur als deutsche, als europäische Lebensform. Die Partikularität wird vergessen oder verschattet, die bürgerliche Herkunft dieses spezifischen Lebensstils wird latent. Zugleich amalgamieren sich bürgerliches Selbstbild und Rassismus. Für die deutschen Arbeiter wird eine Perspektive des Aufstiegs entwickelt, des sich Emporarbeitens, wozu es einer bestimmten inneren Spannkraft bedarf, die im Gegensatz zum Abschlaffen steht. Im Erschlaffen, im sich Verlieren bestand, vielen zeitgenössischen Berichten zufolge, dann auch die größte Gefahr für Europäer in den Tropen. Nach 1907 wurde, so Petzke, im Reichskolonialamt unter Staatsminister Dernburg die „Eingeborenenfrage als Arbeiterfrage“ verhandelt.
Das Spannungsfeld von Metropole und Kolonie hatte die Ad-hoc-Gruppe in den Blick genommen. In den Vorträgen und der Diskussion wurde deutlich, dass dabei die Begriffe, mit denen wir üblicherweise Kolonie wie Metropole, Nationalstaaten, Imperien und die Moderne beschreiben, nicht unbeschadet davonkommen, vielmehr der Revision bedürfen. Die Notwendigkeit von Begriffsarbeit und Selbstreflexion verbindet Historiker:innen und Soziolog:innen. Zu gern hätte man hier in Bielefeld die Kommentare des 2014 verstorbenen Historikers Hans-Ulrich Wehler gehört. Was hätte er zu den neuen Debatten über das Kaiserreich gesagt? Seine Kommentare würden gewiss polarisieren.
(Jens Bisky)
Vorhersage mit Algorithmen
Vorhersagen gehören schon lange zum Geschäft angewandter Sozialforschung. Seit einiger Zeit macht auch die (theoretische) Soziologie Vorhersagen verstärkt zu ihrem Gegenstand. Die Techniken und Reichweiten der Prädiktionen, so ein wiederkehrendes Argument, verändern sich durch den technologischen Wandel. Vor allem der Einbezug algorithmischer selbstlernender Verfahren könne einen maßgeblichen Einfluss haben. Nur welchen? Warum und wie setzt die Gegenwartsgesellschaft Algorithmen ein? Das sind die Ausgangsfragen eines Forschungsprojekts mit dem Titel „The Future of Prediction“, das an der Universität Bielefeld und Bologna angesiedelt ist. Die vom Projektverbund um Elena Esposito organisierte Session „Zukunft der Prädiktion. Gesellschaftliche Folgen algorithmischer Vorhersage“ erörterte ebenfalls diese Fragen. Dazu stellten sich die einzelnen Unterprojekte vor und wurden abschließend kommentiert. Das Interesse an der Veranstaltung war groß, der kleine Raum platzte aus allen Nähten. Man könnte sagen, die Erwartung beziehungsweise Vorhersage, welche Raumkapazität nötig wäre, hat hier nicht funktioniert.
In einem ersten kurzen Aufriss führte Esposito in das Forschungsprojekt ein: Es gehe darum, vor dem Hintergrund der Verbreitung algorithmischer maschinenlernender Arten der Datenverarbeitung Formen und Folgen der Vorhersage herauszuarbeiten. Publikumsnah erläuterte Esposito den historischen Switch, dem das Projekt nachspüren will: Wurden Vorhersagen lange mittels probalistischer statistischer Verfahren getroffen, finden inzwischen vielerorts algorithmenbasierte lernende Technologien Anwendung. Die darin implizierten Veränderungen untersucht das Projekt anhand dreier Fälle: Versicherung, Polizei, Medizin.
In allen drei Bereichen gelten folgende Vorannahmen in Bezug auf algorithmische Prognosen: Sie zielen auf die Produktion individueller Vorhersagen, beziehen ihren eigenen performativen Effekt mit ein und sind in ihrer Ergebnisfindung tendenziell eher undurchsichtig. Aber, und das sei wohl schon ein erstes vorläufiges Ergebnis des Projekts, die damit einhergehende Vermutung, dass sich Vorhersagen nun personalisieren ließen, habe sich nicht ohne Weiteres bestätigt. Außerdem seien Vorhersagen nicht ausschließlich algorithmisch, sondern würden kombiniert, um eine „neuartige Form statistischer Präzision zu erreichen“, so Esposito. Damit war der Grundstein für die folgenden drei Projektvorstellungen gelegt.
Den Auftakt machte Alberto Cevolini (Modena/Bologna), der sich für die Versicherungsindustrie interessierte. Vorhersagen seien für Versicherungen essenziell, sie würden nicht einfach eine größere Menge an Daten, sondern auch qualitativ andere Daten einbeziehen. „Datengierige“ Versicherungsunternehmen hofften, dadurch die Zukunft besser einschätzen zu können. Anhand personalisierter Vorhersagen telematikgestützter KFZ-Haftpflichtversicherung zeigte Cevolini, wie sich statistische und algorithmische Ansätze wechselseitig ergänzen. Dies habe Folgen für die Einzelnen (geringere Prämien), aber auch für die Gemeinschaft der Versicherten: Wenn das persönliche Risiko vorhergesagt werden kann, verändert sich der solidarische Grundgedanke einer Versicherung. In der Diskussion zeigten sich nicht alle von den genannten Auswirkungen überzeugt. Es folgte ein Hin und Her versicherungslogischer Argumente.
Das zweite Feld, die Präzisionsmedizin, stellte Dominik Hofman (Bielefeld) vor. Sie verspricht, auf der Grundlage von genetischen Informationen individuelle Behandlungen anzubieten. Diese Art der Medizin setze man Hofmann zufolge vornehmlich bei „unzweifelhaft kranken Personen“ ein – etwa Krebspatient:innen. Damit, so wird in der Medizin argumentiert, verschwimmen die klassischen Trennungen zwischen Prognose, Diagnose und Therapie. Diese unscharfen Grenzen macht das Feld selbst zum Thema – Hoffman sprach von re-entries: Anhand von Biomarkern lässt sich eine individualisierte algorithmische Prädiktion durchführen. Die Biomarker prognostizieren jedoch nicht nur die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen, sondern bearbeiten das Krankheitsrisiko auch präventiv über die sogenannte actionability, eine individuelle Bestimmung von Genvarianten, die therapeutisch wirken sollen. Auch hier gab es in der Diskussion Zweifel, inwiefern sich die Prozesse Prognose, Diagnose und Therapie tatsächlich so stark gewandelt hätten wie von Hofmann proklamiert. Darüber hinaus seien insbesondere die Felder Prognose und Therapie schon immer stark miteinander verwoben. Auch bräuchte es mehr Zeit, um etwaige Lerneffekte der Algorithmen zu identifizieren.
Das dritte Feld untersuchte Predictive Policing, vorgestellt von Simon Egbert und Maximilian Heimstädt (beide Bielefeld). Predictive Policing gehöre wohl zu den bekanntesten Formen algorithmenbasierter Vorhersage – wie wir alle seit „Minority Report“ und ähnlichen Filmen wissen. In Deutschland nutzen einige Bundesländer solche Verfahren in Modellprojekten. Die Vortragenden präsentierten erste Ergebnisse aus einem Data Science Lab der Polizei, in dem (immer montags) Vorhersagen zu Einbrüchen getroffen werden. Dabei sei die Generierung des Prognosewerts nicht für alle Mitarbeiter:innen des Labs durchsichtig. Der Algorithmus wirke sich – in Form einer „selbstverhindernden Prophezeiung“ – auf die Wirklichkeit aus (Performativität). Denn die prädektive Polizeiarbeit führt beispielsweise dazu, dass in bestimmten Gegenden viel mehr Polizist:innen Streife laufen oder fahren, und damit die vorhergesagten Straftaten letztlich vereiteln. Die Diskussion kreiste um verschiedene Aspekte behördlicher Arbeit und um die Möglichkeit, diese empirisch zu erfassen.
Den Abschluss machte Jens Beckert (Köln), der die Vorträge als „critical friend“ kommentierte. Er wies zunächst auf die Aktualität und Bedeutung der Projekte hin, nur um daraufhin die scharfsinnige Beobachtung zu äußern, dass die Technologien das, was sie versprächen, bei Weitem nicht einlösen könnten. Was also sei die Funktion dieser Versprechen? Ganz bestimmt bedürfe es zur Beantwortung dessen einer Organisationsperspektive, die auch die institutionellen Umstände berücksichtige, beispielsweise die rechtlichen Rahmenbedingungen im Fall des Versicherungswesen. Ließen sich hier etwa organisationale Beharrungskräfte ausmachen? Haben die Formen algorithmenbasierter Prädiktion in der Polizeiarbeit auch Auswirkungen auf die Dimensionen der Surveillance und Diskriminierung? Beckert schließt seinen Kommentar zum Projekttreffen „Zukunft der Prädiktion“ mit dem berechtigten Hinweis: „Es ist wichtig, was am Ende dabei raus kommt.“ Das bleibt abzuwarten, die Studien versprechen interessante Ergebnisse.
(Hannes Krämer)
Latente Sinnkrisen umkreisen
Die Vorsitzende der DGS hatte den Anwesenden im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung für den diesjährigen Kongress unter anderem viele „unbeabsichtigte Begegnungen“ gewünscht. Dafür aber hatten die Organisatoren der Ad-hoc-Gruppe „Kritische Theorie und multimethodische Praxis“, namentlich David Adler (Oldenburg), David Waldecker (Siegen), Felix Knappertsbusch (Hamburg) keine Geduld: Sie – das wurde durch ihre thematische Einführung deutlich – hatten eingeladen, um eine Begegnung zu forcieren. Die kritische Theorie, die schließlich von Anfang an in Ablehnung eindimensionaler Zugriffe auf die Erscheinungs- und Erfahrungswelt entworfen wurde, sei schon immer Multimethodenforschung gewesen, erklärten sie. Dennoch gäbe es nur wenig wechselseitige Befruchtung mit den populären Mixed-Methods-Ansätzen, die in geradezu allen soziologischen Teildisziplinen mittlerweile zuhauf zu finden seien. Hier und heute, so dämmerte dem Publikum, ging es also um den Versuch wechselseitiger Befruchtung und damit (auch) um Herrschaftsansprüche. Während die halbe Disziplin ihre Gegenstände nunmehr multiperspektivisch umkreise, dabei aber eben nicht kritisch genug sei, hätte die kritische Theorie den Anschluss an die Front methodologischer Entwicklungen verloren. Beides sei nun zu beheben, indem die kritische Theorie die Mixed Methods umgarnen und gleichzeitig von ihnen lernen solle.
Zum Einstieg in die vierteilige Vortragsreihe rief Robin Mohan (Frankfurt am Main) die Motive von Adornos Methodenkritik in Erinnerung. Um Einzelphänomene als Ausdruck einer (falschen) Totalität zu entlarven, sollte das forschende Subjekt die „unreglementierte Erfahrung“ verschiedener Facetten und Methoden zulassen und engagiert reflektieren, anstatt sich dem bürgerlichen Diktat reglementierter Beobachtung zu unterwerfen. Letztendlich geht es wohl darum, den eigenen Forschungsgegenstand stets aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, mithilfe verschiedener Wahrnehmungswerkzeuge zu untersuchen und – wichtig – dabei stets ein substanzielles Methodenkapitel zu verfassen, das die eigene Beobachtungsposition selbstkritisch ausbreitet. Dass mit einem solchen Vorgehen womöglich der monierte „Methodenfetischismus“ durch einen „Subjektfetischismus“ ersetzt wird, ist wohl keine ganz neue Befürchtung und kann deswegen getrost hintangestellt werden.
Der Beitrag zu „›Kultur‹ und professionelle[m] Wissen“ von Anja Weiß (Duisburg-Essen) bereicherte durch eine transnationale Perspektive: Sie berichtete, freimütig gestehend, von dem ersten aus einer langen Reihe an bisher durchgeführten Forschungsprojekten, bei dem sie nicht vorab bereits sehr genau ahnte, welches Resultat sie am Ende würde präsentieren können. In einer umfangreichen Studie untersuchte Weiß die Vermittlung professionellen Wissens über Herzinsuffizienz durch 71 Ärzt:innen in der Türkei, in China, in den Niederlanden und in Deutschland. Wie aber, so das von ihr vorgestellte, ganz praktische Problem, vermeidet man bei solch einem Design den methodologischen Nationalismus? Die Lösung ist so bemerkenswert wie simpel: Man sortiert die zu untersuchenden Fälle von vornherein nicht nach Ländern (was 4 Fälle ergäbe), sondern nach Ärzt:innen (71 Fälle). Derart untersucht finden sich im Ergebnis große Ähnlichkeiten in Inhalt und Form der Wissensvermittlung, bis hin zu habituellen Vermittlungsformen und Gesten. Individuelle Variationen lassen sich kaum den Ländern, sondern eher universalen Faktoren wie etwa der Erfahrung zuordnen; Hashtag: Weltgesellschaft. Fast entschuldigend räumte Weiß am Ende ein, ihr lehrreiches Projekt hätte kaum Subversives zu bieten und würde sich bedauerlicherweise auch nur mit Eliten und keinem revolutionären Subjekt befassen. Bemerkenswert, dass dieser Umstand dem Erkenntnisgewinn so gar keinen Abbruch tat, was unter Umständen (aber das lässt sich jetzt nicht ad-hoc triangulieren) Rückschlüsse auf die Totalität der Ad-hoc-Gruppe zulässt (jedenfalls wurde in der Abschlussdiskussion schon die Frage in den Raum gestellt, ob eine solch kluge Mixed-Methods-Forschung durch die Auszeichnung als kritische Theorie noch etwas hinzugewinnen würde).
Im Anschluss beklagte Stefan Baumgarten (Graz) in seinem mit „Translation als instrumentelle Vernunft?“ überschriebenem Vortrag die mangelhafte Ideologiekritik in der Übersetzungswissenschaft. Dazu machte er das Publikum mit Beispielen verschiedener Adorno-Zitate in englischer Sprache, die er einer umfangreichen, korpusbasierten Diskursanalyse entnahm, mit den Tücken von Übersetzungen vertraut. Mit dem Bezug zum Thema der Ad-hoc-Gruppe – wir erinnern uns: „Kritische Theorie und multimethodische Praxis“ – nahm es Baumgarten nicht allzu genau, sondern warb stattdessen für einen lockeren Begriff der kritischen Theorie, der sich als Empathie für Leid genügt.
Zuletzt schließlich gewährte Saskia Gränitz (Frankfurt am Main) Einblicke in ihre Forschung zu „Bilder[n] über Obdachlose“ und Wohnungsnot. Mit ihrer Arbeit versuchte sie zu enträtseln, wie das Feld der Wohnungsnot (in München) materiell und symbolisch strukturiert wird. Mithilfe einer Triangulation aus – zunächst! – Grounded Theory und Bourdieuismus vermaß sie Grauzonen der neuen Wohnungsnot, was im Ergebnis vornehmlich in einem interessanten Katalog unterschiedlicher Portraits allesamt präkarisierter Wohnverhältnisse mündete. In methodologischer Hinsicht erinnerte sie dabei an Adornos Studien zum autoritären Charakter, die einen schwergewichtigen Punkt machten: Es ist für die kritische Theorie notwendig, etwas über jene Verhältnisse in Erfahrung zu bringen, welche die Subjekte selbst gar nicht explizit zur Sprache bringen können. Wie aber erforscht man empirisch, was die Untersuchungssubjekte gar nicht ausdrücken können?. Um unter die Oberfläche von auf den ersten Blick beinahe belanglos anmutenden Interviewpassagen zu gelangen, kündigte Gränitz an, die Psychoanalyse zu Rate zu ziehen, um „tiefenhermeneutisch“ aus kleinsten Interviewpassagen latente Sinnstrukturen rekonstruieren zu können.
Die vorgestellten Projekte waren allesamt vielschichtig und interessant, so dass in der Abschlussdiskussion immer wieder Einzelnachfragen geklärt werden mussten. Die Organisatoren bemühten sich dabei geduldig, die Leitfragen der Sitzung immer wieder in Erinnerung zu rufen. Eine wirkliche Einsicht zur forcierten Begegnung zwischen kritischer Theorie und Mixed Methods, die uns alle hatte antreten lassen, wollte sich aber nicht so recht einstellen. Die Projekte eint ein irgendwie gearteter emphatischer Blick auf Problemkonstellationen und Leid, über den sie aber auch mehr oder weniger ohne eine lange Zitationsliste aus alten Frankfurtern klug und hellsichtig berichten können. Schließlich kam es, wie es kommen musste, es ging um Grundsätzliches: Die kritische Theorie dürfe sich, so die aus dem Publikum vehement vorgetragene Mahnung, heute nicht mehr davon entlasten, ihre eigenen Vorstellungen von einer richtigen Gesellschaft selbst (empirisch) zu rechtfertigen. Die Kritikfolie einfach mitzubringen, führe häufig zu einer totalisierenden Einordnung von alledem, was einem nicht passe, als (falsche) Herrschaft. Man könne aber nicht einerseits den Gegenstand in permanenter Selbstreflexion umkreisen, und sich selbst andererseits als die Referenz der Realitätsbemängelung ansetzen. Auf diesen Einwand, so einer der Organisatoren, könne man nun aus Zeitgründen leider nicht mehr eingehen.[1]
(Aaron Sahr)
[1] Zu jeder Veranstaltung der kritischen Theorie gehört natürlich auch ein weißhaariger Zeitgenosse der alten Meister, der unzufrieden dazwischen murmelt - was die Organisatoren aber dankenswerterweise sofort unterbanden. Zur heutigen kritischen Theorie gehört offenbar endlich auch eine angenehme und nichtdiffamierende Diskussionskultur – das, immerhin, wäre mal etwas Neues.
Von Baustellen, Tankstellen und Supermärkten
Bis auf den letzten Platz gefüllt war Raum U2-223 am frühen Mittwochmorgen, und dass dies auch nach einer kurzen Pause in der Mitte der Session so blieb, zeugt von der Qualität der Ad-hoc-Gruppe „Polarisierungen in öffentlichen Räumen“. „Klare, eindeutige Regeln + Strukturen“ forderte ein Aushang an der Wand des Seminarraums; übriggebliebenes Zeugnis einer Sitzung, bei der eine unbekannte Gruppe offenbar ein „Teamkonzept“ erarbeitete. Das Plakat stand in schönem Gegensatz zu vielen Situationen, über die in den Vorträgen des Panels, organisiert von Katharina Hoppe und Lars Meier (beide Frankfurt am Main), berichtet wurde. Denn öffentliche Räume sind selten von klaren und eindeutigen Regeln gekennzeichnet. Dies macht sie anfällig für Konflikte und, wenn man unbedingt so will, Polarisierungen.
Katharina Hoppe, Lars Meier und Nils Richterich (alle Frankfurt am Main) rekonstruierten auf der Basis von Interviews die besondere Rolle von Supermärkten zu Beginn der Corona-Pandemie. Rewe und Co. seien in dieser Zeit „Dreh- und Angelpunkt des öffentlichen Lebens“ geworden. Die kollektiven Wallungen, wenn eine neue Kasse öffnet, haben wir wohl alle schon vor 2020 oft genug erlebt; mit Beginn der Pandemie habe sich die Atmosphäre in den Märkten, so die These, jedoch deutlich verschärft. Denn die veränderten Interaktionsregeln waren nur zu Teilen klar und mussten dadurch immer wieder neu ausgehandelt werden. Wiederholt berichteten die Interviewten von Auseinandersetzungen über den angemessenen Abstand zu fremden Personen. Die anderen erschienen häufig als „egoistisch“ oder „garstig“, und ganz grundsätzlich konstatierten die Forscher:innen eine Atmosphäre „affektiver Ansteckung“ in den Märkten.
Anlass zu zahlreichen Neuverhandlungen und temporären Regelungen sind auch städtische Baustellen. Christine Neubert (Hamburg) verdeutlichte dies in einem inspirierenden Vortrag zum „Alltag einer Straßenbaustelle“. Baustellen erwiesen sich dabei als überaus präsente Phänomene, die gängige Routinen und Praktiken wirkungsvoll unterbrechen: Sie beanspruchen Platz, verändern Räume, legen Verdecktes frei und vieles mehr. Häufig ist situativ neu zu entscheiden, wie die veränderten Räume genutzt werden können und der gewohnte Betrieb am Laufen gehalten werden kann. Nicht zuletzt machen Baustellen Dinge sichtbar, die sich zuvor eher in der Latenz befanden. Sie legen Leitungen und Rohre frei, aber auch Baumwurzeln oder Ruinen.
Sichtbarkeit erwies sich als Topos, der in mehreren Referaten auftauchte. Am explizitesten war dies im Vortrag „Die Erfahrung auf die Straße tragen – widerständige Praktiken als transformative Interventionen“ von Jördis Grabow (Göttingen) der Fall. Sie befasste sich mit der Praxis des Ankreidens. Dabei markiert man – buchstäblich mit Kreide – Orte im öffentlichen Raum, an denen Personen beleidigt, angegriffen oder auf andere Weise belästigt wurden (Catcalling). Auch wenn die Betroffenheit der Opfer dieser Übergriffe anhaltend ist, das Ereignis als solches ist flüchtig. Das Ankreiden lässt sich auf Instagram und anderen digitalen Kanälen aber dokumentieren und visualisieren, Catcalling wird über den Moment hinaus sichtbar.
Um Sichtbarkeit ging es auch im Vortrag von Ira Zoeller (Aachen) zu „Plurale Performativität. Geteilte Vulnerabilität im öffentlichen Raum“. Im Anschluss an und in konstruktiver Auseinandersetzung mit Judith Butler analysierte die Vortragende öffentliche Versammlungen und Demonstrationen. Dabei konturierte sie insbesondere deren performative Dimension: Durch ihre schlichte Existenz sind Körper im urbanen öffentlichen Raum präsent und machen Personen, Anliegen und Gefährdungen sichtbar. Zoellers Insistieren auf die körperliche Dimension des Sozialen und dessen Polarisierungspotenzial war instruktiv. Zudem griff es Beobachtungen auf, die schon bei der Analyse der Supermärkte, aber auch beim Ankreiden beziehungsweise Catcalling anklangen: Körper affizieren, sei es als Protestierende oder als Co-Wartende an der Supermarktkasse.
Eher unscheinbar und oftmals übersehen sind hingegen Tankstellen, denen sich Julian Müller (Graz) unter dem Titel „An der Kreuzung der sozialen Kreise – Ethnographie einer innerstädtischen Tankstelle“ widmete. Der Vortrag war in vielerlei Hinsicht aufschlussreich und anschlussfähig. Er verdeutlichte die Bedeutung von Tankstellen als lokale Kommunikations- und Versorgungsorte. Sie seien eine jener selten gewordenen Stätten, an denen sich soziale Kreise zumindest überschnitten, auch wenn sich die Angehörigen unterschiedlicher Milieus dabei kaum wirklich miteinander austauschten. Zu unterschiedlich sind dafür die Verweildauern an der Tankstelle, und die Personen, die dort mehrere Stunden zubringen und dabei auf dem Fernseher das Geschehen in der Autowaschanlage verfolgen, sind eben doch selten. Schließlich prognostizierte Müller, dass Tankstellen mittelfristig verschwinden würden – schon jetzt machten sie ihre Umsätze eher über Sonntagsbrötchen und Magnum-Mandel als über den Verkauf von Benzin.
Konflikte an Tankstellen seien eher selten, so der Vortrag. Jedoch erwies sich der Ort – auf Nachfrage – als durchaus polarisiert in dem Sinne, dass die Tankstelle männlich dominiert ist. Damit ist ein weiterer wiederkehrender Topos aufgerufen: die geschlechterbezogene Strukturierung und potenzielle Polarisierung des öffentlichen Raums. Sie spielte explizit beim Catcalling und Ankreiden eine Rolle (circa 85 Prozent der von Catcalling betroffenen Personen sind nichtmännlich), aber auch bei den Supermärkten, in denen gerade während der Pandemie eher Frauen als Männer sich der affektiven und biologischen Ansteckung aussetzten beziehungsweise aussetzen mussten.
Theoretisch waren die Vorträge sehr vielfältig ausgerichtet. Goffman tauchte trotz der Überschrift der Session nur selten auf, Bezugspunkte waren stattdessen Gabriel Tarde, Bruno Latour, Judith Butler oder Michel Foucault. Auch vor diesem Hintergrund hätte es der Kohärenz der Session sicherlich nicht geschadet, wenn die Vorträge einen stärkeren gemeinsamen Fokus beziehungsweise analytischen Fluchtpunkt gehabt hätten. Aber auch so erwiesen sich alle Vorträge inklusive der konstruktiven Nachfragen und Diskussionen als überaus anregend, produktiv und, so mein Eindruck, inspirierend für alle Beteiligten. In allen Vorträgen erschien der öffentliche Raum als dynamisch und sich immer wieder transformierend; dazu als konfliktiv und umkämpft, und das auf Arten und Weisen, die nicht immer sofort ersichtlich sind. Bei vielen Zuhörer:innen wird die Ad-hoc-Gruppe vermutlich noch nachwirken: Kaum vorstellbar, dass man nach dieser Session noch achtlos an Baugerüsten oder Tankstellen vorbeiläuft.
(Thomas Schmidt-Lux)
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart, Stephanie Kappacher, Karsten Malowitz.
Kategorien: SPLITTER
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