Stephanie Kappacher, Karsten Malowitz, Clemens Boehncke | Veranstaltungsbericht |

Bielefelder Splitter V: Freitag

Bericht vom 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld

Cutting edge aus der Medizin- und Gesundheitssoziologie

Der Freitag ist bekanntermaßen kein besonders dankbarer Kongresstag. Viele sind schon auf der Heimfahrt oder sogar bereits am Vortag abgereist. Letzteres kann als probates Mittel erachtet werden, wenn es darum geht, die mit solch mehrtätigen Veranstaltungen verbundenen Belastungen in Grenzen zu halten: Rückenschmerzen wahlweise vom Hotelbett oder hervorgerufen durch stundenlanges Sitzen auf Unimobiliar, Kopfschmerzen infolge der berüchtigten DGS-Party oder aufgrund von Sauerstoff- oder Tageslichtmangel und dergleichen mehr. War man – mit gutem Grund – bis Freitag geblieben, bot die morgendliche Veranstaltung der Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie immerhin die Möglichkeit, sich in kleinem Kreis (anwesend waren etwa zehn, vielleicht zwölf Menschen) mit gesundheitlichen Aspekten auseinanderzusetzen. Von der geringen Anzahl an Zuhörer:innen unbeeindruckt versprachen die Organisator:innen Rasmus Hoffmann (Bamberg) und Nadine Reibling (Siegen) in ihrer Einleitung nicht einfach nur „Aktuelle Beiträge zur Medizin- und Gesundheitssoziologie“, wie der trockene Titel der Veranstaltung lautete, sondern „cutting edge und besondere“ Themen. Geboten bekam man in der Tat ein buntes Potpourri aus unterschiedlichen Forschungsarbeiten.

Den Aufschlag machte Dominik Röding (Hannover), der aus dem Feld der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung berichtete, genauer über „Gesundheitspraktiken und die Logik der Distinktion“. Bourdieus Distinktions- und Kapitalkonzepte gelten seit Jahren als Schlüssel zur Erklärung sozialer Ungleichheiten in Gesundheitspraktiken, etwa einer gesunden Lebensführung oder der Anwendung von Homöopathie. Röding wies nun anhand einer umfangreichen Querschnittstudie horizontale Ungleichheiten in distinguierten Gesundheitspraktiken nach, die eben nicht über Unterschiede in der Menge der zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kapitalvolumen erklärt werden konnten und mittels der klassischen SES-Indikatoren (socioeconomic status) generell nicht aufgedeckt werden könnten. Entsprechend plädierte Röding für ein Umdenken in der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung und eine Erweiterung ihres theoretischen wie methodischen Repertoires. Dies stehe jedoch im Widerspruch zu Forderungen aus der Politik. Das RKI etwa halte insbesondere an alten Konzeptualisierungen fest, weil von politischer Seite ein Schema bestehend aus maximal drei Klassen verlangt werde – mit der Begründung, dass man eine darüberhinausgehende Komplexität der Öffentlichkeit nicht verständlich machen könne.

An diese (er)nüchtern(d)e Erkenntnis anschließend gewährte ein engagierter Philipp Dierker (Rostock und Helsinki) Einblicke in die Arbeit am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Gemeinsam mit Mine Kühn (Rostock) geht er dort der Frage nach, inwiefern die Familiensituation Einfluss auf das Gesundheitsrisikoverhalten (hier: Konsum von Alkohol, Zigaretten und Drogen jeder Art) von Heranwachsenden hat. Sie untersuchten dabei allerdings nicht den Einfluss sozialer Prädiktoren – wie in der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung bislang üblich –, sondern fokussierten die Erblichkeit („heritability“) des Gesundheitsrisikoverhaltens. Denn während es in der Epidemiologie und den Public Health Studies längst Gang und Gäbe sei, genetische Aspekte zu berücksichtigen, stünde dies in den Sozialwissenschaften bislang noch aus. Neben dem Einfluss der genetischen Disposition berücksichtigen die Forscher:innen durch den Einbezug der Familiensituation auch eine etwaige Gen-Umwelt-Interaktion. Konkret wertete das Team Zwillingsdaten aus der deutschen TwinLife-Studie aus, um die genetischen Varianzkomponenten für Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum schätzenzu können und zu untersuchen, ob sie durch den elterlichen Partnerschaftsstatus beeinflusst werden. Die Forschungsergebnisse legen einen solchen Schluss nahe, denn die mit einer alleinerziehenden Mutter heranwachsenden Zwillinge konsumierten deutlich häufiger und mehr Zigaretten und Drogen als mit beiden Elternteilen zusammenlebende Zwillinge. Die Unterschiede hinsichtlich des Alkoholkonsums waren nicht signifikant, was das Team insbesondere mit der allgemeinen Akzeptanz und leichteren Verfügbarkeit alkoholischer Getränke erklärte. In der anschließenden Diskussion wurde der Umstand bemängelt, dass die Variablen zur Untersuchung etwa des Rauchens dummy-kodiert sind und das Design somit keine Rückschlüsse auf etwaiges Suchtverhalten zulässt. Auch zeigten sich Stimmen aus dem Publikum überrascht hinsichtlich des hohen Anteils an Erklärungskraft, der der genetischen Disposition in Bezug auf das Gesundheitsrisikoverhalten, bei Rauchen etwa 70 Prozent. So sah sich Dierker dazu veranlasst, erneut deutlich zu unterstreichen, dass es sich keinesfalls um einen genetischen Determinismus handele.

Nach dieser anregenden Diskussion sorgte Miriam Schanze (Kassel) mit ihrem Beitrag für ernste Stille im Raum, denn sie berichtete von ihrer qualitativen Forschung zur „Suche nach Normalität als subjektive[m] Bewältigungsprozess im Arbeitsalltag nach Brustkrebs“. Das von Schanze verwendete Längsschnittdesign – sie führte Interviews mit den betroffenen Frauen (1) während der Reha, (2) zu Beginn und (3) Ende der beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahme sowie (4) rückblickend zum Jahreswechsel – verdeutlichte den prozessualen, „fluiden“ Charakter der Genesung und vermittelte besonders eindrücklich, dass die institutionellen Phasen des Heilungsprozesses so gar nicht zum subjektiven Empfinden der Interviewten passen. Denn auch wenn sie den offiziellen Gesundenstatus nach Abschluss der Reha wiedererlangt hatten, fühlten sich viele zwar nicht mehr schwer krank, aber eben auch (noch) nicht gesund. Als besonders mangelhaft wiesen Schanzes Ausführungen die psychologische Begleitung der Betroffenen während dieser Zeit aus. So hätten die Befragten die Interviewsituation als eine Art therapeutische Sitzung und wohltuend empfunden, weil sie Schanze frei berichten konnten, ohne dass Letztere wie nahe Verwandte/Freund:innen in Tränen ausbrach oder wie Ärzt:innen medizinische Wertungen äußerte. Auch das Stigma der sogenannten Krebspersönlichkeit brachten die Befragten in den Interviews zur Sprache: Ohne dass ihr Umfeld sich entsprechend geäußert hätte, beschäftigten sie Fragen wie „Was habe ich falsch gemacht?“ Die Behandlung sollte derartige psychologische Belastungen, so Schanzes Fazit, dringend berücksichtigen. Daran schloss die Kasseler Forscherin ein eindringliches Plädoyer für einen Zwischenstatus der Betroffenen an, in dem sie nach dem Abschluss der vorgesehenen institutionellen Passagen weder als gesund noch krank gelten und finanziell abgesichert sind.

Einen in vielerlei Hinsicht bedeutsamen Beitrag präsentierte Nils Ellebrecht (Freiburg), der unter dem Titel „Tabu, Problem oder Standard? Race-Konzepte in der deutschen Medizin und Gesundheitsforschung“ von der Arbeit in der multidisziplinären Freiburger Forschungsgruppe SoSciBio berichtete. Zwar gelte die Einteilung von Menschen nach Rassen/race auch in der Forschung zu Gesundheitsfragen und Medizin als umstritten, dennoch würde hierüber je nach Standort sehr unterschiedlich debattiert: Auf der einen Seite sei die Erfassung von „race“ oder „ethnicity“ mittlerweile unabdingbarer Standard in der internationalen Medizinforschung und von großer Bedeutung, um möglichst viele gesellschaftliche Gruppen repräsentieren sowie etwa Aspekte gesundheitlicher Ungleichheit thematisieren zu können. Dem stünde eine deutsche „race mute society“ gegenüber, in der man sich gesamtgesellschaftlich, aber eben auch in der medizinischen Forschung, aus denkbaren Gründen mehr als scheue, den Begriff der Rasse zu verwenden. Denn wer den unsagbaren Begriff nutze, müsse damit rechnen, als rassistisch bezeichnet zu werden. Im Umkehrschluss gelte die Vermeidung des kritischen Terminus als Versicherung, genau dies eben nicht zu sein. Zwischen diesen beiden Lagern, also Standard und Tabu, zeigten sich deutsche Wissenschaftler:innen und Ärt:innen in den Gesprächen mit dem Freiburger Forschungsteam förmlich zerrissen und versuchten das Dilemma mittels verschiedener Strategien zu lösen. Dies geschehe etwa auf terminologischer Ebene, indem sie scheinbar synonyme, jedoch weniger problematische Begrifflichkeiten wie „Ethnie“ oder „Migrationshintergrund“ verwendeten, oder mittels eines integrativen Umgangs mit der race-Variable wie dies etwa der sogenannte „Ethnic Minority Status“ umsetze.

In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere der Umstand problematisiert, dass die race-Kategorie häufig als „self-reported“ Variable ermittelt und angegeben werde. Oftmals, so Ellebrecht, sei dies jedoch gar nicht der Fall, vielmehr würde die Variable entsprechend der Einschätzung des Erhebungspersonals (beispielsweise in Krankenhäusern und Kliniken) entsprechend phänotypischer Merkmale vermerkt. Und allzu oft werde die Variable auch im Nachhinein hinzugefügt, nämlich sobald sich ihre Relevanz im Laufe des Forschungsprozesses offenbare.

(Stephanie Kappacher)

Im Graubereich

In überschaubarer Runde und vertrauter Atmosphäre – etliche der Anwesenden kannten sich gut und sprachen einander mit Vornamen an – fand am Freitagmorgen die von Sarah Karim und Anne Waldschmidt (beide Köln) sowie Werner Schneider (Augsburg) organisierte Veranstaltung der Sektion Soziale Probleme und soziale Kontrolle statt. Unter dem Titel „Jenseits von ,Stigma‘ und ,totaler Institution‘: Dis/ability soziologisch denken in polarisierten Welten“ gewährten die insgesamt fünf Vortragenden interessante Einblicke in jüngst abgeschlossene oder laufende Forschungsprojekte, die ganz unterschiedliche Aspekte des Lebens und des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung thematisierten.

Zu Beginn präsentierte Yvonne Wechuli (Köln) in ihrem Vortrag „Passing. Als behindert, nicht behindert oder Superkrüppel durchgehen. Drei Facetten einer Überlebensstrategie in einer ableistischen Gesellschaft“ Teile ihres Dissertationsprojekts, in dem sie sich – gestützt auf eine Auswertung einschlägiger Fachzeitschriften – insbesondere mit der Diskursivierung von Emotionen und Affekten in den Disability Studies beschäftigt. Im Anschluss an Erving Goffmans Konzept des „Passing“ stellte sie verschiedene Strategien vor, die Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag nutzen, um in einer leistungsorientierten Gesellschaft, die Nichtbehinderung als Normalfall und Misserfolg als individuelles Scheitern rahmt, zu bestehen. Bei der ersten Strategie, die darauf abzielt, als behindert durchzugehen, verzichten Betroffene auf die Nutzung von Hilfsmitteln oder die Inanspruchnahme von Unterstützung, um ihre Behinderung zu kaschieren und so Zugang zu ,Privilegien‘ zu erhalten, die für gewöhnlich nur Menschen ohne Behinderung offenstehen, etwa ein sogenanntes Normalarbeitsverhältnis – ein Wort, das in diesem Zusammenhang nicht zufällig einen merkwürdigen Klang bekommt. Im Gegensatz dazu geht es bei der zweiten Strategie gerade darum, vorhandene Einschränkungen bewusst zu betonen, um als behindert wahrgenommen zu werden und so die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen und Hilfsmitteln legitimieren zu können. Die dritte Strategie schließlich, bei der Betroffene versuchen als „Superkrüppel“ durchzugehen, verknüpft die Herausstellung der eigenen Behinderung mit dem Nachweis außergewöhnlicher Befähigungen und Leistungen. Wie Wechuli deutlich machte, ist jede der drei Strategien für die Akteure mit Vor- und Nachteilen sowie mit emotionalen Kosten verbunden. So setzen sich diejenigen, die versuchen, in unserer Gesellschaft als nicht behindert oder als „Superkrüppel“ anerkannt zu werden, nicht nur einem enormen Leistungsdruck aus, der langfristig erschöpfend wirken kann. Vielmehr müssen sie sich zudem häufig den Vorwurf gefallen lassen, sich unsolidarisch gegenüber denjenigen Menschen mit Behinderung zu verhalten, denen solche Bewältigungsstrategien nicht zur Verfügung stehen. Umgekehrt kann die Herausstellung vorhandener Handicaps und Einschränkungen dazu beitragen, Nichtbehinderung zu naturalisieren und die individuelle Zurechnung von Unvermögen und damit einhergehende Benachteiligungen wie Abhängigkeiten zu verfestigen. Angesichts dieses Dilemmas für die Betroffenen plädierte Wechuli dafür, alle drei Strategien als subjektiv bedeutsame Formen der Selbstbehauptung in einer ableistischen Gesellschaft anzuerkennen, in der Menschen mit Behinderung nicht nur einmal, sondern jeden Tag aufs Neue aushandeln müssen, wie sie von anderen wahrgenommen werden wollen.

Um die medial inszenierte Darstellung von Menschen mit Behinderung ging es im anschließenden Vortrag von Miklas Schultz (Hannover/Duisburg-Essen) mit dem Titel „Die interaktive Konstruktion von Hilflosigkeit im Kontext von Blindheit. Eine Analyse der Serie ‚Wir sind Anwalt‘ aus Perspektive der Critical Blindness Studies“. Im Zentrum der Serie, von der seit September 2018 bislang 25 Folgen in der ARD ausgestrahlt wurden und an deren Fortsetzung gegenwärtig gearbeitet wird, stehen die fiktiven Personen der blinden Anwältin Romy Heiland und ihrer Arbeitsassistenz Ada Holländer. Inspiriert vom Leben der Berliner Strafverteidigerin Pamela Papst, die als Beraterin bei der Produktion mitwirkte, erhebt die Serie den Anspruch einer authentischen Darstellung der alltäglichen und beruflichen Herausforderungen blinder Menschen. Schultz, der selbst blind ist, nahm diesen Anspruch zum Anlass für eine kritische wissenssoziologische Analyse der Serie, wobei er sich aus einer foucaultianischen Perspektive insbesondere für die Frage interessierte, welche Subjektformationen und welche diskursiven Wissensordnungen die filmische Darstellung reproduziert., kurz: welche stereotypen Vorstellungen und Vorurteile die Serie trotz ihrer ohne Frage hehren Absichten beim Publikum reproduziert. In den Drehbüchern, Audiodeskriptionen und Regieanweisungen, die er zu diesem Zweck analysierte, wurde er schnell fündig. Neben verbreiteten Topoi – Blinde sind gute Zuhörer, haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis und beherrschen mühelos das Zehn-Finger-Tast-System – führte Schultz anhand mehrerer Sequenzen vor, dass insbesondere die Darstellung des Verhältnisses zwischen der Anwältin und ihrer Arbeitsassistenz geeignet ist, unangemessene Rollenvorstellungen zu reproduzieren. Eigenmächtige Handlungen der Assistenz, die in der Serie als patente und resolute Person erscheint, wären im realen Leben nicht hinnehmbare anmaßende, gar übergriffige Akte. Trotz zahlreicher positiver Aspekte, zu denen er unter anderem die Darstellung einer Person mit Behinderung als Arbeitgeberin zählte, kam Schultz daher zu dem Urteil, dass die Serie entgegen ihrem Anspruch keine realistische Darstellung von Blindheit liefert, sondern vor allem Vorstellungen (wohlmeinender) nicht behinderter Menschen von Blindheit bedient. Das hielt Schultz mit Rücksicht auf das adressierte Publikum der Serie zwar für vollkommen legitim, doch verwahrte er sich gegen den von nicht behinderten Schauspieler:innen erhobenen Authentizitätsanspruch.

Nach dem Ausflug in die schöne Welt des Scheins stand im nächsten Vortrag das reale Arbeitsleben von Menschen mit Behinderung im Mittelpunkt. Unter der Überschrift „(Erwerbs-)Arbeit mit Hindernissen: Ein dispositivanalytischer Zugang zu biographischen Erzählungen von Menschen mit Behinderungen“ präsentierte Fabian Rombach (Köln) Einblicke in ein unter der Leitung von Anne Waldschmidt gemeinsam mit Sarah Karim und Lisa Prior (alle Köln) durchgeführtes laufendes Forschungsprojekt. Ausgehend von einem dispositivanalytischen Zugang, der Behinderung als heterogene Gesamtheit diskursiver und institutioneller Elemente fasst, und gestützt auf eine Reihe qualitativer Interviews mit Betroffenen interessiert sich das Forscher:innenkollektiv dabei insbesondere für die Frage, welche Rolle disponierende Praktiken professioneller und institutioneller Akteure für den beruflichen Werdegang von Menschen mit Behinderung spielen, die – sofern sie überhaupt Arbeit finden – häufig niedere, schlecht bezahlte und selten zufriedenstellende Erwerbstätigkeiten ausüben. Die von Rombach kursorisch aufgerufenen Fallbeispiele zeigten, dass die Berufsaussichten von Menschen mit Behinderung oftmals nicht allein von den Fähigkeiten der Betroffenen abhängen, sondern maßgeblich auch von dem vorhandenen oder gerade nicht vorhandenen Engagement von Lehrer:innen, Ausbilder:innen oder Sachbearbeiter:innen. So endete die schulische Karriere etwa von Herrn Adam bereits auf der Volksschule, weil die verantwortliche Lehrkraft dem überaus begabten, aber blinden Schüler nicht mehr zutraute, während Frau Apel es mit der Unterstützung ihrer Lehrer:innen und Mitschüler:innen auf das Gymnasium schaffte. Herr Brose wiederum musste die Erfahrung machen, dass ihm aufgrund seiner körperlichen Behinderung trotz eines vorhandenen Schulabschlusses bei der Arbeitsvermittlung ausschließlich Tätigkeiten in einer Behindertenwerkstatt angeboten wurden. In den Interviews werden Rombach zufolge aber nicht nur die Handlungsspielräume und damit die Macht der qua Amt disponierenden Anderen deutlich, sondern es kommen auch die von Verweigerung und Widerstand bis hin zu Anpassung oder Resignation reichenden Verhaltensweisen zur Sprache, mit denen die Betroffenen auf derartige Erfahrungen reagieren. So kritisiert Herr Albrecht selbstbewusst das Handeln professioneller Akteure, die nur auf die Defizite und nicht auf die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung schauen, während Frau Arndt nach vierzig erfolglosen Bewerbungen die Verantwortung für den ausbleibenden beruflichen Erfolg bei sich selbst sucht. Was die verschiedenen Fälle neben dem von Abwertung und Geringschätzung bis hin zu Unterstützung und praktischer Hilfe reichenden Verhaltensrepertoire professioneller wie institutioneller Akteure vor allem zeigen, ist nach Rombach das Bemühen der Betroffenen um Selbstverantwortlichkeit und das Vorhandensein einer arbeitnehmerischen Orientierung, die darauf gerichtet ist, zumindest ansatzweise so etwas wie eine „Normalbiografie“ zu verwirklichen.

Um das Verhältnis von professionellen Anderen und Menschen mit Behinderung ging es auch in dem Vortrag von Tobias Boll (Mainz), der ebenfalls aus seiner laufenden Feldforschung berichtete. Ausgehend von dem Befund, dass Menschen mit Behinderung häufig gar keine oder allenfalls eine eingeschränkte Befähigung zur Sexualität zugesprochen wird, untersucht das von Boll und seiner Forscher:innengruppe durchgeführte Projekt „Die Konstruktion von Dis/Ability als ,sexuelle (Un-)Fähigkeit‘“ die Angebote von Einrichtungen, die sich für die Resexualisierung beziehungsweise das sexuelle Empowerment von Menschen mit Behinderung einsetzen. Ihr besonderes Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Diskurse und Praktiken, mit denen die Sexualität von Menschen mit Behinderung seitens der Expert:innen als beherrschbare Fähigkeit konstruiert und vermittelt wird. Dabei geht es Boll und seinen Mitstreiter:innen nicht um eine bloße Bestandsaufnahme der existierenden Formen von Unterstützung. Vielmehrsetzen sich die Forscher:innen kritisch mit der Frage auseinander, inwiefern die zur Lösung des als behandlungsbedürftig diagnostizierten sozialen Problems „behinderter Sexualität“ entwickelten Angebote und Techniken dieses Problem im Zuge seiner Bearbeitung gewissermaßen immer wieder neu hervorbringen und damit zur Stabilisierung des eigenen professionellen Tuns beitragen. Zur Beantwortung dieser komplexen Fragestellung konzentrieren sich Boll und sein Team vor allem auf die Kategorie des „Wissens“, der sie unter Verwendung verschiedener Verfahren und Methoden in drei unterschiedlichen Zusammenhängen nachgehen: nämlich anhand der Wissensproduktion in der Sexualpädagogik, im Rahmen der Wissensvermittlung in der Sexualberatung sowie im Zuge der Wissensanwendung in der Sexualassistenz. Im Zentrum stehen dabei jeweils die Verfahren, mit denen ein besonderes Wissen um die Sexualität von Menschen mit Behinderung erzeugt und seine Vermittlung zur Voraussetzung für eine erfüllte Form von Sexualität gemacht wird. Wie Boll unter Rekurs auf Beispiele aus dem Projekt illustrierte, kommt es dabei vor, dass verschiedene Expert:innenmeinungen miteinander konkurrieren, während das lebensweltliche Wissen der als aufklärungsbedürftig konstruierten entwertet wird. Auch sexuelles Desinteresse seitens der zu befähigenden Personen scheint als Option im Problemhorizont der Expert:innen nicht vorgesehen. Auf die zukünftig folgenden Forschungsergebnisse darf man gespannt sein.

Im letzten Vortrag „Problematisierungswissen und epistemische Grenzbearbeitung der Sozialen Arbeit im Kontext von Dis/ability und Fluchtmigration“ zeigte Matthias Otten (Köln), welche theoretischen und praktischen Probleme sich der Sozialen Arbeit im emergenten, rechtlich und institutionell noch ungeordneten Feld der Aufnahme von geflüchteten Menschen mit Behinderung stellen. Anhand einer Fallstudie aus einem Modellprojekt zur Beratung und Unterstützung von Geflüchteten mit Behinderung schilderte er, wie sich die performative Markierung von „Claims“, die konkurrierenden politischen Rahmungen von Subregimen (Asyl vs. Inklusion) sowie unterschiedliche Policy-Frames (Restricted Membership vs. Eglitarian Rhetoric) in der Praxis auswirken. M., ein blinder Musiker aus Syrien, war 2016 im Alter von 33 Jahren ohne seine Familie über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Während seine Frau und seine Kinder in der Türkei festsaßen und warteten, wurde M. in Köln aufgenommen, wo er eine Unterkunft erhielt und Deutsch lernte. In seiner Darstellung des Falles schilderte Otten anschaulich die diskursiven Strategien, mit denen die M. begleitenden Sozialarbeiter:innen und -pädagog:innen im Austausch mit den Behörden gleichermaßen versuchten, ihren eigenen Mandatsanspruch zu beglaubigen wie auch vorhandene Ermessensspielräume der Verwaltung in dem noch nicht durch eingespielte Routinen und klare Zuständigkeiten geregelten Verfahren zugunsten von M. auszuschöpfen. Der Rekurs auf die verschiedenen Rollen von M. als Vater, Ehemann, Wohnungssuchender, anerkannter Geflüchteter, Künstler, Musiker oder Mensch mit Behinderung war dabei ebenso von Belang wie die moderate Skandalisierung von Vollzugs- und Versorgungsdefiziten in lokalen Medien oder die Konstruktion einer fallbezogenen Verantwortungskette durch direkte Ansprache der beteiligten Sachbearbeiter:innen. Auch wenn Otten seine Ausführungen auf den Bereich der Fluchtmigration von Menschen mit Behinderung beschränkte, bestätigte sein Vortrag den bereits zuvor in Hinblick auf andere Zusammenhänge entstandenen Eindruck, dass sich Menschen mit Behinderung hierzulande nach wie vor oft in einem Graubereich bewegen, in dem sie – zum Guten oder Schlechten – auf das Wohlwollen anderer, in der Regel nicht behinderter Personen angewiesen sind oder, drastischer formuliert, sich der Willkür ausgesetzt sehen.

Wie bei den meisten Veranstaltungen blieb der im Titel angekündigte Bezug auf die „polarisierten Welten“ zwar auch hier nur ein oberflächliches rhetorisches Zugeständnis an das Kongressthema. Dafür warteten die Vorträge mit erhellenden Einsichten zu Problemen und Konflikten auf, die nicht behinderten Menschen häufig verborgen bleiben, sei es, weil es ihnen an Fantasie, Interesse oder schlichtweg an Empathie fehlt, oder weil sie ihre Sicht auf die Dinge für die vermeintlich normale halten. Die kritische Analyse vermachteter diskursiver und sozialer Ordnungen und ihrer exkludierenden Effekte, die andere Subdisziplinen der Soziologie gelegentlich mit moralischer Emphase und radikaler Attitüde betreiben, wird in den Disability Studies jedenfalls mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit praktiziert. Wer wissen will, wie kritische sozialwissenschaftliche Forschung aussehen kann, ist hier richtig. Ein größeres Interesse seitens der Nachbardisziplinen wäre dem Fach und seinen Protagonist:innen jedenfalls zu wünschen. Vielleicht ja beim nächsten DGS-Kongress 2024.

(Karsten Malowitz)

Weder Weber noch Hegel

Im Rahmen der Abschlussveranstaltung wurde der Preis für ein „hervorragendes soziologisches Lebenswerk“ an Hans Joas (Berlin) verliehen. Laudator war Stephan Moebius (Graz), Lobrede und Festvortrag vorangestellt waren einige den Kongress beschließende Worte der DGS-Vorsitzenden Paula-Irene Villa Braslavsky (München). In Rückgriff auf Formulierungen aus ihrem Eröffnungsvortrag vom Montagabend hob jene erneut ihre Freude darüber hervor, dass der Kongress in „körperleiblichem Zusammendasein“ abgehalten werden konnte. Auch der Ort der Austragung wurde hoch gelobt: Das Universitätshauptgebäude in Bielefeld, in welchem sich der Kongress in weiten Teilen abgespielt hatte, sei „das beste Gebäude der Bundesrepublik“, auch wenn eine solche Einschätzung sicherlich „Geschmackssache“ sei.[1] Mit der überleitenden Bemerkung, der DGS-Vorstand habe sich die Preisvergabe „gut, gründlich abwägend“ überlegt und letztlich „eindeutig“ für Hans Joas entschieden, gab die Vorsitzende das Wort an Stephan Moebius.

Gabe und Gegengabe

Dass die Preisverleihung zur besten Mittagszeit am fünften und letzten Tag stattfand, insofern innerhalb der Dramaturgie (oder sollte man sagen: Liturgie?) des Soziologie-Kongresses vielleicht nicht unbedingt den prominentesten Platz zugeteilt bekommen hatte, tat dem Interesse an der Veranstaltung glücklicherweise keinen Abbruch: etwa die Hälfte der Plätze des großen Hörsaals war besetzt. Und freilich könnte man ohnehin meinen, die Verleihung eines Lebenswerk-Preises sei besonders gut aufgehoben innerhalb einer Abschlussveranstaltung, schließlich hat eine derartige Auszeichnung viel mit einem „Abschluss“ zu tun. Allein entzieht sich der diesjährige Preisträger dieser Art der Würdigung in gewisser Hinsicht, da er de facto nach wie vor in einschüchternden Mengen publiziert: In den letzten fünf Jahren hat Joas unter anderem zwei Monografien und eine Aufsatzsammlung veröffentlicht,[2] und er sollte in seinem Festvortrag von weiteren, im Entstehen begriffenen Arbeiten berichten. So lag es nahe, dass auch Laudator Moebius zu Beginn seiner Rede den vielleicht weniger handlichen, aber wohl zutreffenderen Begriff „Lebensabschnittswerkpreis“ wählte.

Die Laudatio ging der Frage nach, wie Hans Joas „zu einem der international renommiertesten Soziologen“ habe werden können – dem Zuschnitt nach blieb der auf den Bereich der Soziologiegeschichte spezialisierte Moebius so gewissermaßen in seinem Metier. Akademischer Bildungsgang, institutioneller Karriereweg sowie einige der wichtigsten Arbeiten wurden mehr oder weniger ereignischronologisch abgeschritten und vorgestellt. Weit davon entfernt jedoch, den Preisträger lediglich bei lebendigem Leibe zu historisieren, war der Laudator darum bemüht, Joas‘ akademische Interessen und seine publizistische Aktivität innerhalb wie außerhalb der Fachwissenschaft begreifbar zu machen und griff dafür sowohl auf die Schilderung biografischer Erfahrungen wie gesellschaftsgeschichtlicher Ereignisse zurück. Als entscheidend für die Entstehung eben jenes „Lebensabschnittswerks“ hob Moebius etwa Joas‘ „Entdeckung“ des amerikanischen Pragmatismus in der Studienzeit und dessen „Begeisterung“ für George Herbert Mead hervor, betonte aber auch die Bedeutung des Prager Frühlings und Joas‘ anfänglicher Sympathie mit der Friedensbewegung für sein demokratisches Engagement. Hinweise auf gewisse produktive Spannungen fehlten dabei nicht: etwa, dass Joas zeitweise einen denkenden Umgang damit habe finden müssen, sich zugleich als links und als katholisch zu verstehen. Im Hinblick auf die Werke würdigte Moebius die sozialtheoretischen Innovationen insbesondere zweier Monografien ausführlich: der Kreativität des Handelns sowie der Entstehung der Werte.

Moebius ergänzte die eindrückliche Würdigung Joas‘ als soziologische Produktivkraft zudem durch persönliche Erinnerungen an den Preisträger, wie er ihn selbst am Erfurter Max-Weber-Kolleg erlebt hatte. Er hob Joas‘ „neugierige, zugleich kritische, immer menschlich aufgeschlossene, an der Sache und am Menschen orientierte, sokratisch-dialogische Art“ ebenso hervor wie dessen Wirken als „begabter Didaktiker und Lehrer“. Die Auszeichnung mit dem Preis für ein herausragendes soziologisches Lebens(abschnitts-)werk, so schloss der Laudator, sei in vielerlei Hinsicht als eine Art „Gegengabe“ zu betrachten: was Joas der Soziologie als Fachwissenschaft wie Fachgemeinschaft gegeben habe, werde nun – zumindest gestisch – erwidert.

Eine historische Soziologie des moralischen Universalismus

Joas zeigte sich von der Laudatio bewegt und nutzte zu Beginn die Gelegenheit, viele der vor ihm mit dem Preis bedachten Soziologinnen und Soziologen namentlich zu vergegenwärtigen und ihre Bedeutung für sein eigenes Schaffen zu würdigen. Auch bemerkte er, dass die Nachricht über die Auszeichnung ihn gefreut, aber auch ein wenig überrascht habe: Schließlich hätten seine Arbeiten seit vielen Jahren „stark interdisziplinären Charakter“ und trügen, neben der Soziologie, auch seinen Interessen im Bereich der Geschichte, Philosophie und Theologie Rechnung – und insbesondere ein Interesse an Theologie sei innerhalb der Soziologie keineswegs „reputationsförderlich“. Nun ist wohl kaum zu bestreiten, dass das Gros der Soziologie, mit einem Wort Friedrich Engels‘, auf unterschiedlichsten Wegen „durch den Feuer-Bach gegangen“ ist – und hierüber die Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen eines wie auch immer gearteten Universalismus mit verabschiedet hat. Dass allerdings wer von Universalismus spricht, nicht sogleich sub specie divinitatis christianae argumentieren muss,[3] weiterhin ein arbeitendes Verständnis davon haben kann, dass die Rede von ‚der Menschheit‘ oftmals betrügerisch ist, zeigte Joas in seinem Vortrag auf eindrückliche Weise.

Den leitete er mit einer Einbettung in seinen eigenen größeren gedanklichen Kontext ein: Schon in einigen früheren Arbeiten habe er sich mit den wohl „einflussreichsten historischen Narrativen über Religion und Politik“ befasst. Zum einen mit Max Webers Erzählung vom „welthistorischen Prozess der Entzauberung“. Hier hatte Joas zeigen können, dass sie, wenn auch in einzelnen Teilen zustimmungsfähig, als Gesamtkomposition unzutreffend sei.[4] Eine Alternative bestehe in der Untersuchung der realhistorisch wirkmächtigen und potenziell gefährlichen „Fusionen von Macht und Sakralität“ sowie den sich diesen erwehrenden „Gegenkräften“. Diese Gegenkräfte könnten jedoch nur Wirksamkeit entfalten, wenn ihr Bezugspunkt jenseits jeder Partikularität liege, sie also einen „moralischen Universalismus“ verträten. Der Begriff, so Joas, ziele ab auf „eine moralische Orientierung auf das Wohl und Heil aller Menschen“, gegenwärtig wie in der Zukunft.

Um dem „historischen Schicksal“ des moralischen Universalismus nachgehen zu können, müsse die Gegenerzählung zu Weber, wie sie sich in Gestalt der Geschichtsphilosophie Hegels zeige, jedoch ebenfalls verabschiedet werden.[5] Sie behaupte eine „Kontinuität zwischen dem protestantischen Christentum und der neuzeitlichen politischen Freiheit“. Jedoch sei in dieser Erzählung „Rückschritt“ oder „Rücknahme“ keine kategoriale Möglichkeit, was vor dem Hintergrund insbesondere der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts unhaltbar sei. Darüber hinaus gehe sie mit einer, so Joas, „teils grotesken Abwertung“ nicht-christlicher, gar nicht-protestantischer Formen von Religion einher.

„Weder Weber noch Hegel“ lautete also die Parole, vor deren Hintergrund Joas‘ Vortrag die anvisierte alternative Erzählung programmatisch konturierte. Im Zentrum stand dabei sein Plädoyer für eine „historische Soziologie oder eine soziologisch informierte Geschichte des moralischen Universalismus“, welche „drei Desiderate“ zu bearbeiten habe: die konsequente Anerkennung der „Pluralität des moralischen Universalismus“; eine Berücksichtigung der ständigen „historischen Ungesichertheit aller Institutionalisierungen“ desselben; zuletzt das Schreiben einer Geschichte des moralischen Universalismus, die „nicht als Selbstentfaltung einer Idee“ gefasst werde, sondern die „Wechselwirkung mit der Geschichte der Macht“, insbesondere staatlicher Macht, in Rechnung stelle.

Dabei sprach sich Joas mit Blick auf das erste Desiderat dafür aus, den „okzidentalozentrischen“ Zugriff auf den moralischen Universalismus ebenso zu überwinden wie die Grabenkämpfe zwischen einer bloß das Christentum oder bloß die Aufklärung akzeptierenden Haltung. Als „Pionier“ einer solchen Überwindung wurden die Arbeiten Karl Jaspers‘ zur weltgeschichtlichen Achsenzeit vergegenwärtigt. Jener sei, seiner persönlichen Bewunderung zum Trotz, von Webers wie von Hegels Positionen stark abgewichen, da er im antiken China und im antiken Indien einen „parallelen Durchbruch in universalistischer Richtung“ identifiziert habe. Jaspers habe sich darüber hinaus gerade entgegen derjenigen, die sich dem „Schock der historischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts“ nicht hatten aussetzen wollen, für die Anerkennung der „faktischen Ko-Existenz vielfältiger Formen“ des moralischen Universalismus ausgesprochen. Sich der Einwände gegen Jaspers‘ Thesen wohlbewusst, plädierte Joas dafür, dessen „Intuitionen“ in „empirische Fragen“ zu überführen und zu eruieren, wann, wo, wie genau und warum eigentlich so etwas wie ein moralischer Universalismus entstanden sei.[6]

Mit Blick auf die Kontingenz des moralischen Universalismus betonte der Preisträger, dass Ideale wie dieser weder als bloße „Illusionen“, noch als reine „Machtinstrumente“ zu sehen seien. Insbesondere aber sei die Geschichte nicht als eine nur fortschreitende Annäherung an jene Ideale zu schreiben. Joas sprach von der „Falle“, in Epochen oder Akteuren – hier einer Wendung von Ernst Troeltsch folgend –, lediglich eine „Vorbereitungsstufe für ein in der Historie doch nie auffindbares Absolutes“ auszumachen. Zur Veranschaulichung verwies Joas unter anderem auch auf den obstinaten Begriff der „Moderne“ und dessen schwerwiegende Implikationen.

Moralischer und politischer Universalismus

Die Ausführungen zum dritten und letzten Desiderat – dem Verhältnis von moralischem Universalismus und politischer Macht – bezeichnete Joas als „theoretischen Schlüsselgedanken“.[7] Jaspers etwa habe in seinen Arbeiten nie die Frage angemessen beantwortet, warum es eigentlich zum zeitlich parallelen Strukturbruch der Achsenzeit gekommen sei – er habe die Ursprünge des Bruchs gar als „mysteriös“ bezeichnet. Um diese nun zu erhellen, argumentierte Joas dafür, die Entstehung des moralischen Universalismus in „echter und ständiger Wechselwirkung“ mit dem – so Joas‘ Begriffsschöpfung – „politischen Universalismus“ zu begreifen. Damit bezeichnete er die Tendenz archaischer Staaten, aufgrund ihrer „höheren Organisationsfähigkeit“ und stets knapper Ressourcen, auf nachbarschaftliche, nicht-staatlich verfasste Völker und Stämme überzugreifen, um zusätzliches Land oder neue Revenuen zu gewinnen. Im archaischen Staat sei damit die „Tendenz zur Expansion“, und bei erfolgreicher Expansion die Tendenz zur Bildung eines Imperiums, angelegt.

Die Formen des moralischen Universalismus seien dann zu begreifen als „Produkt“ der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen politischen Universalismus –beispielsweise mit der Bedrohung durch ein Imperium von außen oder Gefährdungen eines Imperiums von innen. Welche konkrete Gestalt ein moralischer Universalismus als ein solches Produkt annehmen würde, sei immer Ergebnis eines letztlich „kreativen Prozesses“, der sich mittels historisch-soziologischer Forschung rekonstruieren lasse. Entscheidend sei daran anschließend unter anderem die Frage, was eigentlich aus dem jeweils betrachteten moralischen Universalismus nach seiner Entstehung werde, wie er sich weiterentwickle. Die „Wirkkraft“ für keiner weiteren Untersuchung würdig zu erachten, wäre „soziologisch naiv“. Joas hob hier erneut die Wechselwirkung zwischen moralischem und politischem Universalismus hervor: Ein Menschheitsethos könne dem politischen Herrschaftswillen ebenso Widerstand leisten wie umgekehrt Imperien ihre Expansion unter Berufung auf eben jenes Pathos rechtfertigen.

Das umrissene, zweifelsohne anspruchsvolle Programm wurde in zwei Hinsichten eingeschränkt: Einmal seien die drei Desiderate wohl kaum von einer Einzelperson umfassend zu bearbeiteten. Nichtsdestotrotz könne die „Art des Zugriffs“ neue Sichtweisen auf alte Forschungsfelder ermöglichen: Die Reformation als eine Form des moralischen Universalismus etwa könne anders gedeutet werden, wenn sie auch als Produkt der Auseinandersetzung mit dem historisch parallel entstehenden Imperien Spaniens und Portugals gesehen werde; im 20. Jahrhundert seien, etwa in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der anti-kolonialen Bewegung Indiens und der chinesischen Kulturrevolution auf ähnliche Weise Wechselwirkungen zwischen Formen des moralischen wie des politischen Universalismus zu untersuchen. Damit seien die „zu bewältigenden Aufgaben“ allerdings zunächst nur benannt, ihre detaillierte Ausarbeitung stehe noch aus.

Eine Erinnerung an Ernst Troeltsch

Den Schluss des Festvortrags bildete, in Joas‘ Worten, eine „soziologiehistorische Reminiszenz“, die zugleich als sachte Mahnung an und Volte gegen die deutschsprachige Soziologie gedeutet werden konnte. Er erinnerte an den ersten Soziologentag, der 1910 in Frankfurt am Main stattfand, und den Vortrag, den Ernst Troeltsch unter dem Titel „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“ gehalten hatte. Joas konstatierte, er erahne das „Befremden in den Augen der Zuhörer“, würde der Hauptvortrag auf dem heutigen Soziologie-Kongress ein derartiges Thema behandeln. Dafür machte der Preisträger zwei aktuelle Tendenzen innerhalb der Disziplin verantwortlich: eine starke „Enthistorisierung“ einer- und die „Marginalisierung des Themas Religion“ andererseits. Im Bielefelder Hörsaal würden die Bewertungen dieser Entwicklungen wohl unterschiedlich ausfallen. Hinsichtlich Joas‘ Einschätzung herrschte indes kein Zweifel: er warb dafür, die Historischen Soziologie nicht nur als „Rückzugsreservat“, etwa für Literatur zu und über Max Weber, zu begreifen, sondern sie „ins Zentrum des Faches“ zu rücken – davon könnten nicht zuletzt die gegenwärtig so gefragten Zeitdiagnosen profitieren. Worauf Joas damit zielte, war weniger ein „institutionelles Proporzdenken“, sondern vielmehr einen „wirklichen intellektuellen Wandel“. Dass der Preis in diesem Jahr an ihn verliehen worden sei, so schloss er, empfinde er als auch als Ermutigung, Soziologie auf diese von ihm befürwortete Art zu betreiben.

Den tatsächlichen Abschluss der Veranstaltung wie des Kongresses bildete dann der gebührende Dank, den Paula-Irene Villa Braslavsky den zahlreichen helfenden Händen und Köpfen aussprach, die die Großveranstaltung möglich gemacht hatten. Danach blieb vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern nichts übrig, als sich der Kontingenzerfahrung schlechthin zu überantworten: dem Geschäftsbetrieb der Deutschen Bahn.

(Clemens Boehncke)

[1] Ein einschränkender Zusatz, den der Autor dieser Zeilen bekräftigen würde.
[2] Hans Joas, Die Macht des Heiligen – Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017; ders., Im Bannkreis der Freiheit – Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche, Berlin 2020; ders., Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft, Freiburg u. a. 2022.
[3] Gegen eine ungebührende Vereinnahmung seiner Arbeiten im Geiste einer solchen Grundhaltung durch die Politikwissenschaftlerin Tine Stein musste sich Joas sogar vor einigen Jahren öffentlich wehren, s. Hans Joas, Mit prophetischem Schwung – Rezension zu Tine Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, in: FAZ vom 14.12.2007.
[4] Hierzu ausführlich Joas, Macht des Heiligen, S. 165 ff.
[5] Hierzu Joas, Bannkreis, S. 14 ff.
[6] Hierzu auch Joas, Bannkreis, S. 604.
[7] Hierzu auch Joas, Bannkreis, S. 606.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott, Wibke Liebhart, Stephanie Kappacher.

Stephanie Kappacher

Stephanie Kappacher ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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Karsten Malowitz, Politik- und Sozialwissenschaftler, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis.

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Clemens Boehncke M. A. ist Wissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Forschungsinteressen liegen im Bereich der Historischen Soziologie und Rechtswissenschaftsgeschichte

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