Jürgen Habermas | Essay |

Bildung als Erfahrung

Erinnerung an Oskar Negt

Oskar Negt war erstaunt, als ich ihn damals fragte, ob er mit mir als wissenschaftlicher Assistent nach Heidelberg gehen wolle. Daraus wurde, wie er mir später sagte, eine völlig unerwartete Weichenstellung seines weiteren Lebens. Er hatte soeben bei Adorno über Hegel und Comte promoviert, und ich wusste über ihn nicht viel mehr, als dass er regelmäßig nach Oberursel zu Diskussionsveranstaltungen mit Gewerkschaftlern fuhr. Wir kannten uns persönlich nicht. Von Werner Sörgel, bei dem er wohnte, hörte ich nur, dass sein Charakter dem ersten Eindruck einer gewissen Hartnäckigkeit entspreche. Von geschmeidiger Anpassungsbereitschaft konnte bei ihm keine Rede sein. Ich hatte immer das Gefühl, dass er in dem akademisch-bürgerlichen Milieu, das ihm nun zum Schicksal werden sollte, habituell etwas von seiner ostpreußisch-kleinbäuerlichen Herkunft festhalten wollte. Jedenfalls war mir klar, dass ich in das traditionsbewusste Milieu des Heidelberger philosophischen Seminars mit dieser Person ein etwas ungewohntes Element einführen würde. Wir beide kamen uns über politische Themen schnell näher. Das ununterbrochene Diskutieren beanspruchte vor allem meine Fahrkunst während der Autofahrten nach Heidelberg, die wir – bis zum Umzug der Familien – jede Woche gemeinsam unternahmen. Später hat mir Oskar seine schweißtreibenden Ängste gestanden, in die ihn, der keinen Führerschein hatte, die riskante Doppelbelastung meiner Aufmerksamkeit versetzt hat.

Unser gemeinsamer Freund Alexander Kluge hat soeben einen interessanten Satz über Oskar gesagt: Er sei eigentlich kein Soziologe und auch kein Fachphilosoph gewesen, sondern „ein Theoretiker“. Ich will versuchen zu verstehen, was damit gemeint sein könnte. Nach meinem Gefühl war Oskar ein Lehrer, der eigentlich nur eine einzige exemplarische Erfahrung erklären, aber nicht nur erklären, sondern seinen Hörern und Lesern „beibringen“ wollte, nämlich: was es heißt, einen Bildungsprozess ebenso zu „erfahren“ wie zu „erarbeiten“. Bildung verändert das eigene Selbstverständnis mit dem Ergebnis, sich als ein Wesen zu verstehen, das von seiner vernünftigen Freiheit Gebrauch machen soll. Das klingt trivial, vielleicht zu trivial.

In Deutschland gehört es ja immer noch zum Curriculum der Philosophie, von Kant bis Hegel die großen Texte des „deutschen Idealismus“ zu lesen. Aber was heißt schon ‚lesen‘? Solche Texte muss man studieren und erlernen; sie verlangen eine Art der Aneignung, die selbst schon den Bildungsprozess in Gang setzt, den sie zum Thema machen. „Bildung“ wird als eine geistige Anstrengung gedacht, die den Geist selbst verändert. Sie ist mehr und anderes als Erkenntnis, weil sie nicht nur zur Revision von Irrtümern führt und unser Wissen von der Welt verbessert. Vielmehr belehrt sie uns reflexiv über die uns selbst befreiende Kraft von Erkenntnisfortschritten, die zugleich den Charakter von eingreifenden Einsichten haben. Bildungsprozesse sind nicht nur Ergebnisse der Vernunfttätigkeit, sie haben die emanzipatorische Kraft, die dabei gebrauchte Vernunft selbst zu stärken.

Für Oskar Negt hat dieser idealistische Begriff der Bildung, wenn ich das richtig beobachtet habe, eine doppelte Bedeutung gehabt – sowohl für das Verständnis seiner eigenen persönlichen Entwicklung als auch des Zwecks, wozu wir Philosophie treiben. Dabei verändert er allerdings die Akzentuierung des rein geistigen Charakters von Bildung, indem er Marx systematisch in die Gedankenbewegung des Deutschen Idealismus einbezieht. Aus marxistischer Perspektive nimmt er einen Gedanken des Jenaer Hegel auf und begreift nicht die Kognition als solche, sondern die kognitive Kraft der gesellschaftlichen Arbeit als die Wurzel von Bildungsprozessen. Negt hat die gestaltende Bearbeitung materieller Gegenstände vor Augen und die gleichzeitige Entfaltung der „Wesenskräfte“ des Produzenten selbst. Mit dieser materialistischen Wendung verschiebt sich der Begriff der Bildung einerseits von Bereichen der Kultur zu denen der Gesellschaft und andererseits von den individuellen Lebensgeschichten zur sozialen Evolution. Vor allem aber konnte Negt als Lehrer und Schriftsteller sein Publikum von diesem Hintergrundmotiv einer nachhegelschen Anthropologie und Gesellschaftstheorie überzeugen, weil er dabei in actu, im Vollzug der Rede, aus den lebendig gebliebenen Quellen seines persönlichen Bildungsprozesses schöpfte. Ihm standen die dramatischen Umstände und Erfahrungen seiner Jugend vor Augen: die Umstände eines am Ende des Zweiten Weltkrieges aus der ostpreußischen Lebenswelt herausgerissenen Bauernjungen, die Erfahrungen einer Rettung des Geflüchteten in einem dänischen Auffanglager und die Lernprozesse eines Vertriebenen in der unbekannten kulturellen und gesellschaftlichen Umgebung der soeben entstehenden Bundesrepublik. Nicht als hätte er aus seiner Jugend erzählt – mir jedenfalls nicht. Es sind eher autobiografische Erinnerungen, die uns über Oskars frühe Lebenserfahrungen informieren. Aber der Stellenwert, den das Konzept der Bildung in seiner Theorie behalten hat, und die Intensität, fast Innbrunst, mit der er es seinem Publikum nahebringen wollte, sprechen dafür, dass Negt in diesen Augenblicken sein Verständnis von Philosophie aus den lebendig gebliebenen Emanzipationserfahrungen der eigenen Lebensgeschichte immer wieder von Neuem entwickelt hat.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Bildung / Erziehung Geschichte der Sozialwissenschaften Kritische Theorie Philosophie

Jürgen Habermas

Jürgen Habermas ist Philosoph sowie Soziologe und Professor emeritus an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschien 2022 „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ bei Suhrkamp.

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