Claus Leggewie | Rezension |

Bleibt der Erde treu!

Rezension zu „Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens“ von Markus Schroer

Markus Schroer:
Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens
Deutschland
Berlin 2022: Suhrkamp
672 S., 30 EUR
ISBN 978-3-518-29924-1

In René Königs legendärem Soziologie-Lexikon[1] stand ein von ihm selbst verfasster Eintrag zur „Biosoziologie“, der vielen nachgerade antisoziologisch vorkommen konnte und nicht zu dem kosmopolitischen homme de lettres zu passen schien. Aus „interplanetarer Sicht“ stellte er Tier- und Pflanzengesellschaften nämlich in eine Reihe mit Menschengesellschaften, die sich gemeinsam entwickelt und ähnliche Formen der Geselligkeit und Gemeinschaft ausgebildet hätten. Man findet diese Parallelwelten jetzt in Markus Schroers Opus magnum neben zahlreichen weiteren Belegen dafür, dass sich die frühe Soziologie angelegentlich mit Steinen, Tieren und Pflanzen befasst, diesen Forschungsstrang aber alsbald aufgegeben hat – zu ihrem nachhaltigen Schaden, wie man an oberflächlichen Kritiken sehen kann, die in Schroers Abhandlung Aufschlüsse über die soziale Schichtung der Bedrohungslage durch das Corona-Virus oder die zeitweilige Außerkraftsetzung der funktionalen Differenzierung während der Pandemie vermissen oder Aussagen darüber, wie ökologische Risiken – oh Wunder! – ungleich verteilt sind.[2]

Der Mainstream des Faches hat anhaltende Schwierigkeiten, sich mit der nicht-menschlichen Natur auseinanderzusetzen, und klebt, ungerührt von Klimawandel, Artensterben und Pandemie, am cartesianischen Modernisierungsnarrativ des von Naturzwängen befreiten Menschen. Zum Glück ruft der in Marburg tätige Autor dagegen keinen „Geo-Turn“ aus, er ist vielmehr ins soziologische Archiv gestiegen und hat neben René König, Walter Bühl[3] und zahlreichen anderen einen noch stärker vergessenen Rudolf Steinmetz als Erfinder des Begriffs „Geosoziologie“ hervorgeholt.[4] In weit ausholenden, nur gelegentlich ermüdenden Schwüngen entfaltet er damit nicht weniger als eine komplettierte Gesellschaftstheorie in Zeiten des Anthropozän, wobei er natürlich an Dissidenten wie die mittlerweile legendären Donna Haraway und Bruno Latour anschließen kann, die stets über den Tellerrand ihrer Disziplinen hinaus in die Botanik, Geologie und Astrophysik geschaut hatten.[5]

Der Planet wird Subjekt

Das voluminöse Buch hat sieben große Kapitel. „Terra“ beschreibt die Umwandlung der Erde durch den Menschen als geologischen Faktor, „Leben auf der Erde“ behandelt sein Verhältnis zu Steinen, Pflanzen, Tieren sowie seine eigenen Metamorphosen und Anverwandlungen, in „Geo-Architektur“ geht der Autor auf diverse Varianten gebauten Raums von Höhlen bis zu Hochhäusern ein, als „geosoziale Gesellschaften“ bezieht er Pflanzen- und Tiergesellschaften sowie posthumane Gesellschaften ein, in „Geoverhältnisse und Geopraktiken“ kommen geoökonomische und geopolitische Faktoren in den Blick, die in „Terrapolitik“ als Kampf um den Planeten Erde ausgeführt werden, mit einem aktuellen Ausblick auf Ursachen, Folgen und Bedeutung der „Corona-Pandemie“. Von Schroer auch im Klappentext bündig zusammengefasst ist die Erde als Ganze das Untersuchungsobjekt:

„Im Kern geht es der Geosoziologie um den Umgang, den wir mit der Erde pflegen, um die Praktiken, mit denen wir mit ihr in Kontakt treten: Die Erde wird vermessen und erforscht (Geo-Wissen), umgewandelt und manipuliert (der Mensch als geologischer Faktor), eingenommen und aufgeteilt (Geopolitik), ausgebeutet und verbraucht (Geoökonomie), erschlossen und bebaut (Geo-Architektur), zu verlassen (Weltraumfahrt) und zu erhalten versucht (Terrapolitik).“

Das meint in seiner gesamten Stoßrichtung, den Planeten im Rahmen eines breiter und tiefer gefassten Gesellschaftskonzepts zum Subjekt zu erheben.

Das Anthropozän als Dauerkatastrophe

Ironischerweise hat die Pandemie dem Autor Zeit und Muße geboten, die umfangreiche Bibliografie von Klassikern und rezenten Autorinnen der Science-and-Technology-Studies (STS) durchzuarbeiten und auch einschlägige Filme von 1928 bis 2019 anzuschauen. Seine zutreffende Bilanz: Die Pandemie hätte soziologische Theorieschulen aufmischen und verunsichern müssen, stattdessen fanden sich alle – von Luhmannianern bis Agamben – bestätigt. Die Soziologie präsentierte sich in der Tat wieder als die Normalisierungs-Wissenschaft, für die alles schon immer mal da war und kein Grund für „Aufregungsschäden“ besteht. An „Überraschungen“, um nicht von „Zeitenwenden“ zu sprechen, vermeldet Schroer dagegen: die (allerdings großenteils illusionäre) Rückkehr inner- und zwischengesellschaftlicher Grenzziehungen gegen den Trend einer angeblich unaufhaltsamen Globalisierung, deren proklamierte Offenheit in den Lockdowns auf eine mehr oder weniger vorzeigbare eigene Behausung schrumpfte. Die globale Vernetzung, begleitet vom problematischen Umgang mit Tieren durch das Vordringen in ihre Lebensräume, der Verzehr exotischer Tiere und vor allem die Massentierhaltung waren Auslöser der Pandemie, der in dieser Linie weitere folgen dürften. Digitale Geräte haben genau wie der menschliche Körper in einer trans/humanen Virengesellschaft ihre große Vulnerabilität an den Tag gelegt. Vor allem aber: Die Menschheit hat es im Anthropozän nicht mit einer gewöhnlichen Krise zu tun, aus der sie sich prometheisch wie immer selbst befreien wird, sondern mit einer Dauerkatastrophe, die aus ihrer bislang abstrakten, zahlenvermittelten Unsichtbarkeit herausgetreten ist und auch die bequemsten Nischen erreicht hat.[6]

Gestandene Soziolog:innen werden das für normativ überfrachteten Kulturpessimismus halten und ein Buch zuklappen, in dem ein Satz wie dieser zu lesen ist: „Nicht nur der Mensch und das Tier wollen etwas, auch der Stein will von sich aus etwas, und zwar ganz entschieden.“ (S. 150) Sie werden Anstoß daran nehmen, dass ein Begriff wie „Lebensraum“ vorurteilsfrei der nur scheinbar sozialverträglicheren „Lebenswelt“ vorgezogen wird. Oder die Lebensphilosophie als Grundlage dient, in der es auch mal „spenglert“ und „heideggert“. Zwar werden Schroers Überlegungen durch die aktuelle Naturwissenschaft, speziell die relationistische Quantenfeldtheorie bestätigt, aber die Verbindung von Biologischem und Sozialem ist im Fach heute (zumeist als deterministische „Soziobiologie“ unseligen Angedenkens) verpönt. Wenn Schroer am Schluss dann doch, und eher paradox, das „Vitalozän“ ausruft, gibt er damit zu verstehen, dass die Krisen, die das relationale Gefüge von Tieren-Viren-Menschen-Maschinen wie aus dem Drehbuch der Akteur-Netzwerk-Theorie ins Licht gerückt haben, zur Einsicht in die Zusammenhänge von Natur und Gesellschaft, Leben und Denken führen müssen, soll die Welt nicht im „Thanatozän“ enden.

Keine Fanfarenstöße, sondern elaborierte Theorie

Zum Glück sind diese Fanfarenstöße durch ein konsistentes Theorieprogramm unterlegt, das selbst den mit der Thematik Vertrauten neue Einsichten verschafft, vor allem aber den eher aversen Kolleg:innen einen Impuls geben sollte, sich über eine spezielle „Umweltsoziologie“ hinaus anderen Lebenswissenschaften zu nähern und für deren Befunde zu öffnen. Schroer ist dabei weniger auf Neuentdeckungen und Rückkoppelungen mit den Naturwissenschaften aus, denn auf eine Systematisierung der Forschungen der letzten Jahre, die von ihm an das beachtliche Repertoire der Klassiker des eigenen Faches rückgebunden werden. Besonders lesenswert ist das zweite Kapitel, das unterstreicht, wie sehr wir auf den Schultern von Riesen stehen, von denen einer Spinoza heißt und ein weniger bekannter Roger Caillois, während auch bei Schroer kein Bezug zu außereuropäischen Kosmologien zu finden ist. Sie alle widersprechen der in westlichen Gesellschaften stereotypen Grundannahme, dass „Steine wegen ihrer physiognomischen Ausdrucksstarre, Pflanzen wegen ihrer mangelnden Beweglichkeit und Tiere wegen ihrer mangelnden Sprachfähigkeit aus dem Bereich des Sozialen und des Gesellschaftlichen ausgegliedert“ gehören (S. 143). Es ist der homo insapiens, der das Leben der Anderen nicht hören, sehen und übersetzen will und dabei eigene schöpferische Instinkte, Metamorphosen und Projektionen unterdrückt.

Schroer erdet die miteinander verflochtene Gesellschaftsformation von Menschen, Tieren und Pflanzen „terrestrisch“, ein Schlüsselbegriff wie beim späten Latour[7]. Gemeint ist der Bezug zu diesem Planeten Erde, eine Form der Bezugnahme, die Schroers bisheriger Spezialisierung auf Körper, Raum und deren Materialität geschuldet ist.[8] Von planetaren oder Gaia-Ansätzen distanziert er sich mit der Absage an überkandidelte Hoffnungen auf Raumfahrt, Terraforming etc., doch sitzt er damit einem Missverständnis auf: Die planetare Relativierung und Relationierung der Erde sieht nicht etwa utopisch von ihr ab, sie erleichtert vielmehr historisch wie epistemologisch einen selbstreflexiven (und demütigen) Ansatz.[9] Insofern scheint mir Schroers Raumkonzept ein zu enges Korsett und die Erde in dieser Froschperspektive ein kaum weniger mystifiziertes Objekt zu sein wie in James Lovelocks Gaia. Grenzziehungen im „Schonhof des Territoriums“ (Wolfgang Lipp) werden nicht obsolet, im „posthumanen“ Ineinanderfließen hybrider Pflanzen-, Tier-, Menschen- und am Ende wohl auch Maschinengesellschaften allerdings deutlich fluider. Damit ist man wieder bei René König angekommen, den Schroer rühmt, in seinem Sizilien-Buch[10] die Verflechtung der Inselgesellschaft mit Höhlen, Steinen und dem Ätna herausgestellt zu haben – eine geosoziologische (und planetare) Symbiose.

Schroers Schrift, die übrigens auch die festgefahrene Debatte über kulturelle Diversität und Intersektionalität aufbricht, wünscht man in der nächsten Generation möglichst viele Leser und Leserinnen. Als „Letzte Generation“ haben sich unterdessen Protestbewegungen gegen das Versagen einer geosoziologisch und planetarisch viel zu kurz greifenden und bereits im Scheitern begriffenen Klimapolitik gebildet. Im Kapitel „Terrapolitik“ postuliert Schroer jenseits der meist eher fatalistischen oder quietistischen Schlussfolgerungen diverser Gaia-Konzepte politische Transformationen, die Kooperationen und Konflikte innerhalb einer „symbiotischen“ Gesellschaft einkalkulieren und bearbeiten. „Der Löwe wird nicht beim Lamm liegen“[11], warnt die Anthropologin Anna Tsing vor irenischen Harmonieillusionen, und der Philosoph Edgar Morin[12] sah schon wahre Bürgerkriege im Bio/Anthropotop kommen. Von Spezies-Ähnlichkeit darf also nicht auf Friedfertigkeit geschlossen werden. Damit ist die politische Dimension benannt, doch herrscht diesbezüglich, wie Schroers etwas blutarme Evaluation der Klimapolitik zeigt, große Rat- und Fantasielosigkeit, die Frage betreffend, wie diese Einsichten institutionell zu übersetzen und das Latour‘sche „Parlament der Dinge“ aus dem Status einer bloßen Metapher zu erlösen wäre, wobei sich, was noch angemerkt sei, auch die „zuständige“ Politikwissenschaft ähnlich indolent wie die Soziologie gibt.

  1. René König (Hg.), Das Fischer-Lexikon Soziologie [1958], umgearbeitete und erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main 1980.
  2. Gerald Wagner, Das Soziale und die Natur lassen sich nicht mehr voneinander trennen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2022.
  3. Walter L. Bühl, Soziologie und Systemökologie, in: Soziale Welt 37 (1986), 4, S. 363–389.
  4. Sebald Rudolf Steinmetz, Die Stellung der Soziographie in der Reihe der Geisteswissenschaften, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. VI (1912–13), S. 492–501.
  5. Nicht zitiert wird das wichtige Werk von Nigel Clark und Bronislaw Szerszynski, Planetary Social Thought. The Anthropocene Challenge to the Social Sciences, Hoboken, NJ 2020.
  6. Dazu auch mein Beitrag „Nicht die beste der Welten. Von der Corona-Krise zum Klima-Kollaps: Wie lernfähig ist die Weltgesellschaft?“ in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Corona. Pandemie und Krise, Bonn 2021, S. 175–185.
  7. Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin 2018. Vgl. seine Online-Lecture, in der er von einer „sozialdemokratischen“ Vorstellung abrückt, wonach man nach dem Modell von Jean-Jacques Rousseau einen neuen Gesellschaftsvertrag schließen könne, in dem Menschen „der“ Natur Rechte gewähren. Die Debatte nahm insofern eine „tragische“ Wende als Warnerinnen wie Greta Thunberg und Leugner wie Donald Trump sich im Plenum der Vereinten Nationen schließlich wie Bewohner zweier verschiedener Welten gegenübertraten, womit es keine Kompromisse mehr gab und die letzten Chancen für einen gebremsten Anstieg der Erderwärmung und des Meeresspiegels vergeben wurden. Damit hat sich die Grundlage des Vertrags verändert: Nicht mehr verleihen „wir“, die einsichtig gewordenen Menschen, der Natur Rechte; vielmehr verlangt die Natur, dass wir sie um Erlaubnis und um Mitwirkung bitten: „from grant to submit“.
  8. Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt am Main 2005; ders., Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006; ders., Räume der Gesellschaft. Soziologische Studien, Wiesbaden 2019.
  9. Dazu Frederic Hanusch / Claus Leggewie / Erik Meyer, Planetar denken. Ein Einstieg, Bielefeld 2021; erweiterte Neuausgabe, Cambridge 2024 (i.V.).
  10. René König, Sizilien. Ein Buch von Städten und Höhlen, von Fels und Lava und von der großen Freiheit des Vulkans, München 1950 (Neuausgabe in: René König, Schriften, Bd. 5, hrsg. von Hans Peter Thurn, Wiesbaden 2017).
  11. Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt, Berlin 2019, S. 342.
  12. Edgar Morin, Heimatland Erde. Versuch einer planetarischen Politik, Wien 1999.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Gesellschaft Gesellschaftstheorie Lebensformen Ökologie / Nachhaltigkeit Recht Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

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Claus Leggewie

Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet das dortige „Panel on Planetary Thinking“. Von 2007 bis 2017 war er Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen.

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