Jana Hitziger, Janna Rath, Christian Dries, Ulrich Bröckling, Nina Boy, Frank Adloff | Rezension |

Bücher zur Apokalypse I

Kurz rezensiert


Abbildung Buchcover Facing Apocalypse von Keller

Catherine Keller:
Facing Apocalypse. Climate, Democracy and Other Last Chances
USA
Maryknoll, NY 2021: Orbis Books
176 S., $ 26,00
ISBN 978-1-626-98413-4

Jana Hitziger und Janna Rath zu „Facing Apocalypse“ von Catherine Keller

Mit ihrem Buch Facing Apocalypse erweist sich Catherine Keller als progressive Theologin und virtuose Konnektorin. Sie stellt Verbindungen her zwischen dem letzten Buch des Neuen Testaments und zeitgenössischen Blicken in die Zukunft, zwischen fatalistischen Botschaften der Engel, kalifornischen Waldbränden und massivem Fischsterben, zwischen dem großen roten Drachenmaul der Offenbarung und der planetaren Zerstörungskraft des carbon capitalism, zwischen Johannes von Patmos und William Shakespeare, Jacques Derrida, Walter Benjamin und Greta Thunberg, und schließlich zwischen Religion und Wissenschaft.

In ihrer Interpretation der Apokalypse in der Johannes-Offenbarung gelingt es Keller, philosophisch und sozialwissenschaftlich Bezüge zur Gegenwart herzustellen und ein breiteres Publikum als ihre klassisch wissenschaftlich-theologische Klientel zu erreichen. Sie formuliert die Apokalypse neu und verortet die Herausforderungen von Klimakrise, demokratischer Zerrüttung sowie wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in ihren jeweiligen Kontexten.

Ihr methodischer Zugang ist das Traumlesen (dreamreading) – das Erkennen von Mustern in der eigenen Gegenwart, die so tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelt sind, dass sie bis in die Zukunft reichen. Keinesfalls als Vorhersage einer bestimmten Zukunft, sondern immer als Lesart der Gegenwart können Prophezeiungen Muster offenbaren, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannen, weil sie an keine spezifische Zeitlichkeit gebunden sind. Ein Beispiel für ein solches Muster, das sich aus den Schriften des Propheten Johannes herauslesen lässt, erscheint im Kontext des Anthropozäns besonders aktuell: „He does seem to have been discerning a disturbing tendency for oppressive interhuman systems to spoil the extra-human integrity of the planet.“ (S. 46) So zeigt die Autorin eindrucksvoll, dass die Johannes-Offenbarung als relevanter Meditationsraum Anlass bieten kann, um über die Gegenwart nachzudenken.

Keller zieht uns mit ihrem poetischen und unterhaltsamen Schreibstil in die Johannes-Apokalypse hinein, führt uns durch das Buch mit den sieben Siegeln und seinen Bezügen zur Gegenwart und lässt uns die Kraft von Metaphern (metaforce) und symbolischen Sprachbildern spüren. Wer sich auf diesen Strudel einlässt, verzichtet zwar auf ein Happy End und darauf, die Verantwortung in göttliche Hände abzugeben, bekommt aber auch die Gelegenheit, die vereinzelnde Zukunftsverdrossenheit hinter sich zu lassen und stattdessen der Zukunft kollektiv entgegenzutreten. Die Autorin entlässt uns mit einer neugewonnenen apocalyptic mindfulness: einem Bewusstsein und einer Achtsamkeit für wiederkehrende Muster. Damit können wir Möglichkeiten und letzte Chancen im Umgang mit der Apokalyptik der Gegenwart erkennen.

Für Keller ist die Apokalypse keine lähmende Endzeiterzählung einer unvermeidbaren planetaren Katastrophe, vielmehr versteht sie die gegenwärtige Beschäftigung mit ihr als ökopolitische Praxis. Facing Apocalypse bietet einen Ausblick auf eine gestaltbare Zukunft und ist ein mobilisierender Appell, kollektiv den Fragen danach nachzugehen, was wir im Angesicht gegenwärtiger Krisen tun und wie wir zukünftig (zusammen-)leben wollen.


Abbildung Buchcover Nach dem Ende der Welt von Fœssel

Michaël Fœssel:
Nach dem Ende der Welt. Kritik der apokalyptischen Vernunft
Übersetzt von Brita Pohl
Österreich/Deutschland
Wien/Berlin 2019: Turia + Kant
308 S., 29 EUR
ISBN 978-3-851-32936-0

Christian Dries zu „Nach dem Ende der Welt“ von Michaël Fœssel

Das Ende der Welt ist in aller Munde. Ein im Original bereits 2012 erschienenes Buch von Michaël Fœssel, Philosoph an der École polytechnique bei Paris, will diesem Diskurs Paroli bieten. Mit seinem selbstbewussten Untertitel ist Nach dem Ende der Welt als Grundsatzrede in transzendentalphilosophischer Tradition markiert. Diese richtet der Autor – mit Kant, Heidegger, Arendt und Blumenberg im Rücken – gegen die (vermeintlichen) apokalyptischen Verächter der Moderne und die Propheten des bloßen (Über‑)Lebens, namentlich Günther Anders und Hans Jonas. Denn für Fœssel lassen sich alle gegenwärtigen Endzeitbeschwörungen als Symptom einer spezifisch modernen Krankheit deuten. Die von ihr Betroffenen zögen einen „irrige[n] Schluss aus einer richtigen Prämisse“ (S. 297): Ausgelöst durch den Kollaps der antiken Kosmosvorstellung werde der Erfahrungsraum neuzeitlich-moderner Individuen von wiederkehrenden und akkumulierenden Erlebnissen des Weltverlusts beziehungsweise der Entfremdung überschwemmt. Als „transzendental obdachlose“ (Georg Lukács), von Sterblichkeitszumutung und existenzieller Scheiternswahrscheinlichkeit Geplagte würden sie anfällig für mystische Weltflucht, Weltverneinung (Askese) und Endzeitfantasien. Darob verwechselten sie schließlich das Ende einer (= ihrer) Welt mit dem Ende der Welt.

Im ersten Teil seiner Abrechnung geht Fœssel diesen mundophobischen Umgangsweisen mit der neuzeitlichen Entzauberung der Welt genealogisch von Weber über Hegel und Kant bis zu Hobbes nach. Letzterer kommt dabei gut weg, habe er doch allererst den geistigen Weg für unsere moderne Lebensform geebnet, indem er den Staat aus dem Würgegriff einer heilsgeschichtlich fixierten Religion befreite. Diese drohe nun jedoch in säkularisierter Form – als „kupierte Apokalypse“[1] – das politische Feld erneut lahmzulegen. Mit dem Weltuntergang lässt sich bekanntlich nicht diskutieren.[2] Demgegenüber konzipiert Fœssel im zweiten Teil seines Buches die Welt mit Heidegger als Horizont des Möglichen und Politik mit Arendt als Ausdrucksfeld menschlicher Freiheit, um derart gerüstet einen „Beitrag zu einem neuen Kosmopolitismus“ (S. 25) zu leisten, der – wenig originell – „über eine Aufwertung der Gestalt des Fremden [verläuft]“ (S. 277).

Zusammengefasst kritisiert Fœssel am apokalyptischen Denken (er spricht meist von Katastrophismus) im Wesentlichen dreierlei: erstens den Versuch, die Zukunft berechenbar zu machen, um mit ihr die Gegenwart zu regieren; zweitens den der „zutiefst identitär[en]“ Logik der „Öko-logie“ inhärenten „Pessimismus des Möglichen“ (S. 221) mit seiner Verwechslung von Weltenende und Aussterben des Lebens; sowie drittens die falsche Ableitung des Untergangs aus den authentischen Erfahrungen des Weltverlusts. Wer sich so gerüstet allein aufs Überleben kapriziere, übersehe, dass das drohende Ende „ebensogut ein Anfang sein könnte“ (S. 297). Statt aus Wut über die hoffnungslos begrenzte individuelle Lebenszeit permanent Revolten gegen die Weltzeit anzuzetteln,[3] sollten wir uns, so Fœssels Fazit, demütig der „fragilen Potentialität des Aktuellen“ zuwenden (S. 69).

Es ist kein geringes Verdienst des Buches, dieses Potenzial – des aktuellen wie des phänomenologischen Weltbegriffs – gegenüber dem Akosmismus und Nihilismus moderner Endzeiterzählungen, die ihren Autoren noch immer hohe „Verführungs- oder Einschüchterungsprämie[n]“[4] eintragen, stark zu machen. Doch angesichts ihrer Leibvergessenheit, ihrer Überbetonung des Logos und des Entwurfscharakters des Daseins, ihrer Blindheit für die materialistischen, ökologischen und pyrologischen[5] Bedingungen menschlichen Lebens sieht die transzendentalphilosophisch fundierte Apologie der Weltoffenheit am Ende ziemlich alt aus. Dies hätte der Autor, statt einen Strohmann aus ihm zu machen, schon bei Günther Anders lernen können.[6] Im Grunde adressiert Fœssel – selbst einen falschen Schluss aus vielen richtigen Überlegungen ziehend – die Falschen: Gerade modernes Endzeitdenken trainiert die Imagination alternativer, in diesem Fall jedoch verwüsteter, menschenleerer Welten – um sie zu verhindern. Als fantasielos erweisen sich demgegenüber jene, die vor lauter Möglichkeiten kein Ende der andauernden kapitalistischen „Katastrophe der Zivilisation“[7] zu sehen vermögen. So bleibt Fœssel mit seiner Rolle rückwärts in einen kosmopolitisch auffrisierten Existenzialismus am Ende die Antwort auf die alles entscheidende – transzendental-ontologische – Frage schuldig: Welche Möglichkeiten bleiben uns noch, wenn ihre ökologischen Bedingungen endgültig ruiniert sein werden?


Abbildung Buchcover Die Apokalypse enttäuscht von Düttmann/Quent (Hg.)

Alexander García Düttmann / Marcus Quent (Hg.):
Die Apokalypse enttäuscht
Schweiz
Zürich 2023: Diaphanes
264 S., 25,00 EUR
ISBN ‎ 978-3-035-80619-9

Ulrich Bröckling zu „Die Apokalypse enttäuscht“ von Alexander García Düttmann und Marcus Quent (Hg.)

„Die Apokalypse enttäuscht“ lautet die Überschrift eines 1964 veröffentlichten kurzen Textes von Maurice Blanchot. Im letzten Jahr nahm eine Tagung gleichen Titels an der Universität der Künste Berlin[8] die aktuelle Konjunktur apokalyptischer Rede zum Anlass, seine Kritik an Karl Jaspers’ Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen[9] neu zu lesen. Der vorliegende Band enthält neben einem Wiederabdruck von Blanchots Besprechungsessay ausgewählte Beiträge der Tagung sowie Aufsätze von Alenka Zupančič und Dietmar Dath. Zwei Überlegungen aus dieser klugen Vergegenwärtigung, die philosophische, psychoanalytische, narratologische, geschichts- und religionswissenschaftliche Perspektiven zusammenführt, will ich hervorheben.

Jaspers hatte in seinem Buch die atomare Drohung als „Problem des Daseins der Menschheit schlechthin“ charakterisiert, dem an Bedeutung „nur die Gefahr der totalitären Herrschaft“ gleichkomme. Beides fordere „Kräfte des Menschen, die aus solcher Tiefe hervortreten müssen, daß er selbst in seiner sittlich-vernünftig-politischen Erscheinung sich wandelt in einem Maße, daß es der Wendepunkt der gesamten Geschichte würde“.[10] Blanchot wirft dem deutschen Existenzphilosophen vor, in seiner Sprache, seinem Denken und seinen politischen Aussagen selbst die postulierte radikale Umkehr zu sabotieren. Jaspers rufe „Ändern wir uns, ändern wir uns“ – und bleibe doch derselbe. Indem er atomare Vernichtung und Ausbreitung der Sowjetherrschaft auf eine Ebene stelle und letztlich der Abschreckungspolitik das Wort rede, ebne er den welthistorischen Bruch ein, zu dem er die Bombe erkläre.

Den für Blanchot geradezu empörenden Widerspruch in Jaspers’ prophetischem Gestus deutet Zupančič psychoanalytisch als Fusion von Weckruf und Verleugnung. Der affektiven Dynamik, die diese „merkwürdige Komplizenschaft“ (S. 31) speist, entgehen auch die Apokalypsepropheten von heute nicht. Mit ihren Albträumen wollen sie uns wachrütteln, und wir wissen, dass sie recht haben, aber wie der von Jaspers verpufft auch ihr Alarmismus. „Wir wachen auf, um weiter zu träumen“, schreibt Zupančič dazu mit Verweis auf eine Äußerung Jacques Lacans: „Albträume zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen ein Reales erscheint, das realer, traumatischer und erschütternder ist als unsere Alltagsrealität. Als Reaktion darauf wachen wir auf und verkünden, dass wir wach sind, jedoch nur, um weiter träumen zu können, unberührt von dem Realen zu leben, das gerade erschienen ist.“ (S. 31) Die Beschwörung des Weltendes erweist sich als Selbstbetäubung, die affektiv jene Normalität absichert, die wir mit unseren Untergangsprognosen bestreiten.

Marcus Quent betont in seinem Beitrag die Differenz zwischen dem zeitlich verdichteten und von benennbaren Akteuren geplanten Ereignis eines Nuklearkriegs, über das Jaspers wie Blanchot nachdenken, und dem schleichenden beziehungsweise sich als kumulative Abfolge von Kipppunkten vollziehenden Klimakollaps, der sich schwerlich als intentionaler Handlungszusammenhang rekonstruieren lässt. Während die Idee einer Vereinigung der Menschheit überhaupt erst im Schatten der Bombe aufkommen konnte, wenn auch nur negativ als Bedrohungs- oder Untergangsgemeinschaft, fehlt den zeitgenössischen Auslöschungsszenarien diese integrierende Kraft. Blanchot hatte in der Infragestellung der gesamten menschlichen Existenz noch dialektisch die Voraussetzung einer positiven, im vollgültigen Sinne kommunistischen Totalität sehen wollen. Ein solcher Umschlag scheint heute weder möglich noch wünschbar. Der erneute Versuch, „über die Negativität eine endgültige Vereinigung der Menschheit in Aussicht zu stellen, […], indem man sich als zeitgenössischer Endzeitaktivist auf die Klimakatastrophe beruft, muss scheitern“ (S. 115 f.). Das Erwachen eines universellen Wir, das sich zusammenschließt, um das Zeitenende aufzuhalten, setzt, so Quent, eine Frist zwischen dem Jetzt und dem antizipierten Untergangsereignis voraus, wie sie die Vorstellungswelt der atomaren Apokalyptik beherrscht. Die Klimakatastrophe hat dagegen längst begonnen, und ihre Auswirkungen vertiefen die globalen Spaltungen. „Es ist, als ob man nicht mehr zur Idee eines Ganzen erwachen kann, nicht nur weil man schon mittendrin ist, sondern auch weil sich diese Idee selbst fragmentiert, zerstreut hat.“ (S. 116) Die politische Herausforderung besteht heute darin, sich den multiplen Katastrophen entgegenzustellen, und dabei weder auf die Totalität eines Wir zu setzen noch Zuflucht bei der Dialektik von Revolution oder Untergang zu suchen.


Abbildung Buchcover New Ecological Realisms von Kaup

Monika Kaup:
New Ecological Realisms. Post-Apocalyptic Fiction and Contemporary Theory
United Kingdom
Edinburgh 2021: Edinburgh University Press
352 S., £ 26,99
ISBN 978-1-474-48310-0

Nina Boy zu „New Ecological Realisms“ von Monika Kaup

Mit New Ecological Realisms – veröffentlicht in der Reihe Speculative Realism von Edinburgh UP – hat Monika Kaup einen anregenden Denkanstoß vorgelegt, der sich dem apokalyptischen Zeitgeist durch eine Untersuchung von Genres nähert. Verbunden mit der Frage „Was kommt nach dem Poststrukturalismus?“ ist ihr Ziel „eine Wiederbelebung des Realen und des Realismus“ (S. 1), die Ersterer sträflich vernachlässigt habe. Die interessante These ergibt sich aus dem Befund, dass die verlorene Wirklichkeit letztlich nur in der Gattung der Fiktion, und insbesondere der postapokalyptischen Fiktion, geborgen werden kann.

Nach einem einführenden Kapitel, das die theoretischen Grundlagen für diese Position darlegt, verbinden die folgenden Kapitel je eine Theorie des New realism mit einem postapokalyptischen Roman: Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie mit Margaret Atwoods Trilogie Madd Addam; Humberto Maturanas und Francisco Varelas Autopoiesis mit Jose Saramagos Roman Blindness; Markus Gabriels Theorie des Sinnfelds mit Octavia Butlers Reihe Parable und die ‚neue‘ Phänomenologie von Jean-Luc Marion und Alphonso Lingis mit Cormac McCarthys Roman The Road.

Auf diese Weise will Kaup eine für die Gegenwart bezeichnende Übereinstimmung und Konvergenz des theoretischen und des literarischen Realismus aufzeigen: Im Unterschied zum ‚alten‘ Realismus besteht die Realität nicht darin, alles aufzuzählen, was existiert – nicht in „isolated parts and things“ (S. 4 f.) –, sondern in „mapping worlds“ und „exploring contexts“ (S. 5). Innerhalb der von Theorie und Fiktion geteilten Affinität zur Singularität von „irreducible wholes“ (S. 154) erweist sich das postapokalyptische Narrativ allerdings überlegen: Anders als die propositionale Form der Theorie, die sich auf direkte Aussagen und logische Schlussfolgerungen stützt, verwirklicht das Narrativ seinen Inhalt durch enactment und emplotment. Zum einen ist das Narrativ apokalyptisch, indem es seine Bedeutung einzig durch das Ende erhält,[11] zum anderen kann die Apokalypse selbst nur narrativ artikuliert werden. Das apokalyptische Denken ist somit „inherently ontological“ (S. 6), denn in der Vision der Zerstörung und Neugestaltung der Welt enthüllt es deren wirkliches Wesen.

Auch der literarische speculative realism unterscheidet sich von seinem Vorgänger des 18. Jahrhunderts, indem er das poetologische Kriterium der Wahrscheinlichkeit an die Anforderungen an die Darstellung der Welt im Anthropozän anpasst: „Truth-likeness, or believable truth – the unique standard of novel realism, where fiction becomes a higher form of truth-telling – can thus be appreciated in a new futurist form […] tailored to the needs of our own time.“ (S. 64) Die postapokalyptische Wahrscheinlichkeit ist erstens durch kognitive Verfremdung gekennzeichnet.[12] Zweitens folgt sie der Logik von Risikoszenarien, die zwischen der prädeterminierten biblischen Apokalypse und der weit offenen Zukunft der Moderne angesiedelt sind und eine fiktive Extrapolation gegenwärtiger Trends vollziehen, das heißt in Kaups framework: realisieren.

Das Ergebnis ihrer faszinierenden Überlegungen scheint damit zum einen auf eine differenziertere, poetologische Form des scenario-planning hinauszulaufen, das die Sicherheitspolitik in allen Bereichen dominiert. Zum anderen verlangt die Beschreibung der mutierten Wahrscheinlichkeit mehr Klarheit. Schließlich macht Catherine Gallaghers klassische Herausarbeitung des Fiktionsbegriffs des Romans vor allem eines deutlich: „It affirms nothing.“[13] Ihr Fiktionsbegriff macht einen truth claim allenfalls für die Konditionen, für die die einzelnen, fiktiven Charaktere stehen, nicht aber für die Charaktere selbst.[14] Wie kann das Reale mit dem Realismus zusammenfallen? Die Gleichwertigkeit von Theorie und Fiktion scheint indes die gesamte generic differentiation,[15] die das moderne Verständnis von Fakt und Fiktion prägt, gleichsam aufzulösen und uns wieder in einem vormodernen fact-fiction continuum zu verorten.

Obwohl Kaups Behauptung, die poststrukturalistische diskursive Realität laufe darauf hinaus, das Reale zu leugnen, nicht überzeugt, muss man dennoch zugestehen, dass der Poststrukturalismus tendenziell die Realität der Macht über die Macht der Realität stellt. Durch den präferierten Begriff von imaginaries scheint er daher nicht ganz zufriedenstellend auf die „Rache der Realität“[16] eingehen zu können, die sich als existenzielle Bedrohung in Polykrise und Zeitenwende niederschlägt: Letztendlich erscheint das Buch paradoxerweise jedoch auch symptomatisch für ein zeitgenössisches Verlangen nach wörtlichen Wahrheiten: Kaups literary ontology wäre womöglich treffender als literal ontology bezeichnet. Somit macht sie aber nichtsdestotrotz deutlich, dass gattungstechnische Überlegungen für ein umfassendes Verständnis der Apokalypse unumgänglich sind.


Frank Adloff zu „Wie alles zusammenbrechen kann“ von Pablo Servigne und Raphaël Stevens & „Une autre fin du monde est possible“ von Pablo Servigne, Raphaël Stevens und Gauthier Chapelle

Vor einigen Jahren entstand in Frankreich die Kollapsologie, eine interdisziplinäre Perspektive, die zunächst kaum rezipiert wurde und als abwegige und esoterische Schwarzmalerei galt. Dies änderte sich jedoch relativ rasch, und spätestens im Zuge der Dürren und Hochwasser der letzten Jahre, der Coronakrise und möglicher Nahrungsmittel- und Energieknappheiten durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ist die Möglichkeit eines infrastrukturellen Kollapses für viele längst nicht mehr unwahrscheinlich. Die Kollapsologie geht zurück auf ein 2015 erschienenes Buch des Agrarwissenschaftlers und Biologen Pablo Servigne und des Umweltaktivisten Raphaël Stevens mit dem Titel Wie alles zusammenbrechen kann. Handbuch der Kollapsologie. Die Publikation ist keinem Genre eindeutig zuzuordnen: Auf interdisziplinär-wissenschaftlicher Basis beschwören die Autoren Resilienz und Aktivismus und verkünden ein nicht mehr abzuwendendes Unheil. Mit dem Begriff des Kollapses beschreiben sie einen sozialen Prozess, an dessen Ende es nicht mehr auf legalem Wege gelinge, die Grundbedürfnisse weiter Teile der Bevölkerung nach Sicherheit, Wasser, Nahrung, Wohnen, Bekleidung und Energie zu befriedigen.

Der Zusammenbruch drohe in den kommenden Jahren einerseits, weil planetare Grenzen überschritten und Kipppunkte des Erdsystems erreicht würden, sodass die Ökosysteme schlagartig ihre Kapazität verlören, sich zu regenerieren. Weitere Gründe liegen für die Autoren in gesellschaftlichen Lock-in-Mechanismen, die moderne Gesellschaften auf einen Pfad zunehmender Komplexität, Abhängigkeit und Fragilität gebracht haben. Zudem seien die modernen Institutionen in ihrer Stabilität abhängig vom Wirtschaftswachstum. Diese Abhängigkeiten müssten zugunsten größerer Resilienz überwunden werden. Hier zeigt sich eine Nähe der Kollapsologie zur in Frankreich stark verbreiteten Degrowth-Bewegung, die auf eine vom Wachstumszwang unabhängige Wirtschaft abzielt. Servigne und Stevens stellen heraus, dass nicht nur natürliche, sondern auch soziale Systeme tipping points aufweisen. So kann es zu plötzlichen, unvorhersagbaren und irreversiblen Effekten kommen, weshalb Gesellschaften und Sozialwissenschaften mit instabilen, nichtlinearen Zukünften zu rechnen haben. Im Unterschied zur Krise wird ein gesellschaftlicher Kollaps jedoch kein nur kurz andauerndes Ereignis sein.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, während des Kalten Krieges, galt ein Atomkrieg als prinzipiell möglich und zeitweise auch denkbar, zugleich wurden Verträge und Abkommen geschlossen, um ein solches Szenario zu verhindern. Demgegenüber rechnen wir heute mit zukünftigen katastrophalen Klimaereignissen, auch wenn ungewiss ist, wann, wo und wie sie auftreten werden. Diese Unsicherheiten und Risiken sind mit herkömmlichen Verfahren der Prognostik kaum kalkulierbar und im Detail nicht prognostizierbar. Servigne und Stevens formulieren daher die ethische Maxime, dass man zur Abwehr von Katastrophen zunächst einmal an ihre reale Möglichkeit glauben müsse. Was die schwierige Frage aufwirft, ob man den zivilisatorischen Kollaps ernstnehmen kann, ohne ihn im Zuge einer selbsterfüllenden Prophezeiung herbeizuführen.

Die Kollapsologen bemängeln, dass es kein belastbares Wissen über Kollapse gebe: Man brauche Forschungsergebnisse zu den Fragen, wie es zu Zusammenbrüchen kommen kann, welche Dynamiken sie kennzeichnet und welche wirtschaftlichen, psychologischen, sozialen und politischen Folgen sie mit sich bringen können. Schließlich sei noch weitgehend unbekannt, inwiefern sich Krisen kumulieren und eine gesellschaftliche Abwärtsdynamik in Gang setzen können. Mit der Katastrophe und dem Kollaps zu rechnen, bedeutet für die beiden Autoren primär, sich gegen die Verleugnung der kommenden Realitäten zu stellen. Sie verstehen die Kollapsologie somit als ein Feld transdisziplinärer Untersuchungen zum Kollaps der industriellen Zivilisation und ihrer Folgen. Dabei betonen sie immer wieder, dass sie keine düsteren Untergangsszenarien zeichnen wollen, sondern dass aus dem Zusammenbruch neue Zukünfte erwachsen können.

Für Servigne und Stevens kommt der mögliche zivilisatorische Neustart von der gesellschaftlichen Peripherie, von den sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, die nach alternativen Formen des Zusammenlebens suchen. Diese Perspektive entfaltet ihr gemeinsam mit dem Biologen Gauthier Chapelle verfasstes Buch Une autre fin du monde est possible. Vivre l’effrondement (et pas seulement y survivre) – dt.: Ein anderes Ende der Welt ist möglich. Den Kollaps leben (und nicht nur überleben)) –, das 2018 erschien und von dem bisher keine deutsche Übersetzung vorliegt. Hier geht es ihnen um die Fragen, wie man Resilienz aufbauen und Hoffnung erhalten kann, wie sich eine Kultur des Lebens entwickeln lässt, wie sich Verbindungen zur Natur herstellen lassen und wie andere Wissensformen zur Geltung kommen könnten. Das Buch stellt ein Programm zur Entwicklung pluraler gesellschaftlicher Nischen und Alternativprogramme vor, die nach dem Kollaps reüssieren und sich verbreiten sollen. Die Autoren fordern eine postnormale Wissenschaft, skizzieren Ökopsychologie und Ökofeminismus als zukunftsweisend und wollen Männliches und Weibliches versöhnen.

Alles in allem geht der zivilisatorische Neustart für die Kollapsologen primär von einem kleinteiligen sozialen und einem inneren Wandel aus, der Wirkungen auf das gesellschaftliche Außen entfalten soll: eine assoziative und spirituelle Erneuerung mit dem Ziel, sich neu mit der Welt zu verbinden. Ihnen geht es um eine neue Erzählung, die den Zukunftshorizont – trotz Realismus ob der bevorstehenden Kollapse – für Gutes offenhält. Es wird auch nach dem Kollaps weitergehen und die zu erbringenden Opfer müssten letztlich gelingende Möglichkeiten des Zusammenlebens in den Trümmern der Zivilisation hervorbringen. Ohne Rechtfertigungslehre und ein Fünkchen Hoffnung geht es dann doch nicht.

  1. Klaus Vondung, Apokalypse ohne Ende, Heidelberg 2018.
  2. Armin Nassehi, Mit dem Weltuntergang lässt sich nicht diskutieren, in: Der Spiegel (2023), 3, S. 42–43.
  3. Fœssel rekurriert hier auf Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main 1986.
  4. Jacques Derrida, Apokalypse, hrsg. von Peter Engelmann, übers. von Michael Wetzel, Wien 2012, S. 21.
  5. „In-der-Welt-Sein bedeutet für den Menschen: mit-dem-Feuer-im-Bunde-Sein“, heißt es in der brillanten Studie von Jens Soentgen, Pakt mit dem Feuer. Philosophie eines weltverändernden Bundes, Berlin 2021, S. 38.
  6. Vgl. seine frühe Kritik an Heidegger: Günther Anders, Über Heidegger, hrsg. von Gerhard Oberschlick, München 2001; sowie den Aufsatz, noch als Günther Stern, Pathologie de la liberté. Essai sur la non-identification, in: Recherches Philosophiques (1936/1937), 6, S. 22–54.
  7. Jean-Luc Nancy, Äquivalenz der Katastrophen (nach Fukushima), übers. von Thomas Laugstien, Zürich/Berlin 2013, S. 49.
  8. https://www.udk-berlin.de/veranstaltung/die-apokalypse-enttaeuscht/ [19.6.2023]; vgl. den Tagungsbericht von Samir Sellami, Die Apokalypse überzeugt [19.6.2023], in: Soziopolis, 20.5.2022.
  9. Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit, München 1958.
  10. Ebd., S. 15.
  11. Frank Kermode, The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction, New York 1967.
  12. Dies ist Darko Suvins Kriterium, um die Science Fiction vom realistischen oder historischen Roman und von der Fantasy abzugrenzen. Vgl. ders., Metamorphoses of Science Fiction. On the Poetics and History of a Literary Genre, New Haven, CT 1979.
  13. Catherine Gallagher, The Rise of Fictionality, in Franco Moretti (Hg.), The Novel, Bd. 1: History, Geography, and Culture, Princeton, NJ 2006, S. 336–363, hier S. 345.
  14. Ähnlich hat Elena Esposito bemerkt: „Um realistisch zu sein, darf der Roman also gerade nicht real sein.“ Dies., Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, übers. von von Nicole Reinhardt, Frankfurt am Main 2007, S. 17.
  15. Mary Poovey, Genres of the Credit Economy. Mediating Value in Eighteenth- and Nineteenth-Century Britain, Chicago, IL 2008.
  16. Benjamin Bratton, The Revenge of the Real. Politics for a Post-Pandemic World, London / New York 2021.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Demokratie Globalisierung / Weltgesellschaft Lebensformen Ökologie / Nachhaltigkeit Zeit / Zukunft

Abbildung Profilbild Jana Hitziger

Jana Hitziger

Jana Hitziger studiert Internationale Kriminologie (M.A.) an der Universität Hamburg. Sie arbeitet an der Professur für Kriminologie, insbes. Sicherheit und Resilienz der Universität Hamburg. Ihr inhaltlicher Schwerpunkt liegt in der kritischen Kriminologie, wobei sie sich besonders für den Begriff des Katastrophischen und sein Verhältnis zu (Post-)Apokalypse im Anthropozän sowie für Strategien der Bewältigung von fundamentaler Unsicherheit in krisenhaften Zeiten interessiert.

Alle Artikel

Abbildung Profilbild Janna Rath

Janna Rath

Janna Rath studiert Internationale Kriminologie (M.A.) an der Universität Hamburg. Sie arbeitet für Prof. Dr. Susanne Krasmann an der Professur für Soziologie sowie im Forschungsprojekt „KI und menschliches Sinnverstehen im Recht“. (© Janine Meyer)

Alle Artikel

Abbildung Profilbild Christian Dries

Christian Dries

Dr. Christian Dries leitet die Günther-Anders-Forschungsstelle und ist Lehrbeauftragter an der Universität Basel.

Alle Artikel

Abbildung Profilbild Ulrich Bröckling

Ulrich Bröckling

Dr. Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

Alle Artikel

Abbildung Profilbild Nina Boy

Nina Boy

Nina Boy studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft an der University of Edinburgh, an der University of London (SOAS) sowie an der Lancaster University und ist mit dem Käte Hamburger Centre for Apocalyptic and Post-Apocalyptic Studies (CAPAS) der Universität Heidelberg affilliiert. Ihre Forschung beschäftigt sich mit der transdisziplinären Theoretisierung von Sicherheit.

Alle Artikel

Frank Adloff

Frank Adloff ist Professor für Soziologie (insbes. Dynamiken und Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft) an der Universität Hamburg. Seit 2019 hat er – neben Sighard Neckel – die Co-Leitung der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ inne.

Alle Artikel

Empfehlungen

Claus Leggewie

Technocracy revisited?

Rezension zu „Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft“ von Philipp Staab

Artikel lesen

Newsletter