Maurizio Bach | Nachruf | 02.08.2021
Carlo Mongardini
Ein Nachruf
Die Werke von Karl Marx und Max Weber waren ihm so vertraut wie diejenigen Vilfredo Paretos und Gaetano Moscas. Carlo Mongardini wirkte als Brückenbauer zwischen der deutschen und der italienischen Soziologie. An der Universität Rom wo er einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft innehatte, lehrte er die deutschen Klassiker, allen voran Georg Simmel. In Deutschland hatte er sich dagegen früh schon um die Rezeption des Werkes von Vilfredo Pareto, des großen italienischen Soziologen, verdient gemacht. Regelmäßig brachte er herausragende Vertreter beider Kulturen zusammen, an seiner römischen Heimatuniversität La Sapienza, im Deutsch-Italienischen Zentrum für den europäischen Dialog in der Villa Vigoni, vor allem aber in der zauberhaften Küstenstadt und ersten Seerepublik Amalfi. Der angesehene Premio Europeo Amalfi für herausragende soziologische Werke geht auf seine Initiative zurück. Der erste Preisträger war Norbert Elias, der Begründer der soziologischen Zivilisationstheorie. Geehrt wurden aber auch Autoren wie der US-amerikanische Soziologie Robert Merton, Wolfgang J. Mommsen, M. Rainer Lepsius (beide für die Max-Weber-Gesamtausgabe), Alain Touraine, Zygmunt Bauman und Niklas Luhmann. Die Liste der Preisträger liest sich wie das Who-is-Who der sozialwissenschaftlichen „Nobelpreisträger“. Unermüdlich knüpfte Mongardini Kontakte zu bedeutenden europäischen Intellektuellen, entwickelte Ideen für Themen und Theorien und bemühte sich um Sponsoren für den internationalen Kongress, der die Verleihung des Europäischen Amalfi-Preises jeweils rahmte.
In Italien genoss Mongardini das Prestige eines Großmeisters der politischen Soziologie. Besonders interessierten ihn die gesellschaftlichen Bedingungen des Politischen, aber auch umgekehrt die politischen Dimensionen von Gesellschaft und Kultur. Sein umfangreiches Werk umfasst zahlreiche Monografien zur Geschichte der europäischen Soziologie und zu aktuellen politischen Fragen, zuletzt etwa zum Neo-Nationalismus. Dabei stellte er sich auch brisanten Themen unter zumeist unkonventionellen Perspektiven. So legte er beispielsweise breit gefächerte Analysen zum Verhältnis von Politik und Angst, zum Zusammenhang von Ökonomie und Ideologie sowie zu den aktuellen Gefährdungen der repräsentativen Demokratie durch die Dominanz der Ökonomie und die Globalisierung vor. In Mongardinis soziologischen Kulturanalysen finden sich Marx’ dialektische Kapitalismuskritik und Paretos nüchterner Herrschaftsanalyse auf ingeniöse Weise verknüpft. Das Politische war für Mongardini kein Teilaspekt des Sozialen, sondern ein gesellschaftliches Totalphänomen, dessen Haupttriebkraft das universale Streben nach Macht ist. Mongardinis magistrale Arbeiten zur Essenz und den Erscheinungen des Politischen legen Zeugnis ab von der ungewöhnlichen Schaffenskraft und großen analytischen Fantasie des Doyens der italienischen politischen Soziologie. Am 18. Juli 2021 ist Mongardini überraschend in Grottaferrata bei Rom verstorben.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Demokratie Europa Globalisierung / Weltgesellschaft Kultur Politik Politische Ökonomie
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