Sigrid Schmitz | Portrait |

Cyborgs, situiertes Wissen und das Chthulucene

Donna Haraway und dreißig Jahre politischer (Natur-)wissenschaft

Die feministische Biologin und Wissenschaftsforscherin Donna Haraway veröffentlichte 1985 die erste Fassung ihres „Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980's“[1] in der Zeitschrift Socialist Review. Häufig wird jedoch die unter dem Titel „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist Feminism in the Late Twentieth Century“ in ihrem Buch Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature[2] (1991) erschienene Fassung als Erstreferenz angegeben. Diese Dopplung ist insofern erwähnenswert, da sie Haraways primär politische Situierung deutlich macht: die Entstehungs- und die Publikationsgeschichte des „Cyborg Manifesto“ veranschaulichen zentrale Merkmale ihrer Argumentations- und Denkweise. In einem Interview[3] beschreibt Haraway, wie sie und weitere marxistische Feministinnen in der ausgehenden Reagan-Ära nach einer Haltung zur Zukunft des socialist feminism suchten. Ihre eigene Auseinandersetzung mit diesem Thema führte sie dazu, nicht zuletzt durch die Teilnahme an einer feministischen Konferenz zur geschlechtlichen Arbeitsteilung und Unsichtbarkeit weiblicher Arbeit im damaligen Jugoslawien[4], einen kritischen Essay zur Technologisierung der Reproduktion zu schreiben.

Ein Verständnis von Donna Haraways Arbeiten generiert sich aus ihrer situierten Biografie. Deshalb werde ich im Folgenden Donna Haraway selbst ‚zu Wort‘ kommen lassen.[5] Ich werde hierzu zunächst aus ihrer Laufbahn ihre Verortung als politisch orientierte Naturwissenschaftlerin herausarbeiten. In einer Zusammenschau ihres „Cyborg Manifestos“ mit ihrer epistemologisch geprägten Auseinandersetzung zur Entwicklung und Anwendung von „Situiertem Wissen“ werde ich dann meine Interpretation ihres Verständnisses einer unabdingbar politischen Naturwissenschaft ausführen, die bis heute Haraways Arbeiten prägt.

Fragmente einer politisch-wissenschaftlich-feministischen Biografie

Die 1944 in Denver geborene und streng katholisch erzogene Donna Jeanne Haraway studierte Zoologie, Philosophie und Literatur am Colorado College sowie evolutionäre Philosophie in Paris. 1970 promovierte sie in Biologie an der University of Yale, verschrieb sich jedoch von Anfang an einer interdisziplinären Verflechtung von Biologie, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Sie versteht sich bis heute als wissenschaftlich-politisch-aktivistische feministische Biologin – oder als biologisch-feministisch-wissenschaftlich-politische Aktivistin? Als Teil der Widerstandsbewegung gegen den Vietnamkrieg, als Mitglied der Gruppe „Science of People“, verheiratet mit einem schwulen Freund, lebend in einer Kommune und aktiv in der Anti-AIDS-Bewegung unterrichtete sie von 1970 bis 1974 an der University of Hawaii in Honolulu und gab dort ihr erstes Seminar zu Women’s Science.

Donna Haraway lehrte dann einige Jahre an der Johns Hopkins University in Baltimore am Institut für Wissenschaftsgeschichte, bis sie 1980 von der University of California in Santa Cruz auf den ersten Lehrstuhl für Feministische Theorien berufen wurde. Dort wurde sie später Professorin für Wissenschaftsgeschichte am History of Consciousness Department. Gleichzeitig blieb sie der Biologie eng verhaftet. Mit Primate Visions (1989)[6] etwa legte Haraway ein grundlegendes Werk zur kritischen Analyse der Diskurse in der Primatologie sowie der Verhaltens- und Soziobiologie vor und wies schon 1984 auf die unhintergehbare politische Verfasstheit aller Wissenschaften hin. Mit einer Analyse zur Wissenshistorie in der „Erforschung“ der nichtmenschlichen Affenarten charakterisierte sie im gleichen Jahr in ihrem Essay Primatology is Politics with other Means die immanent politische Dimension der vermeintlich neutralen Naturwissenschaft.[7]

Donna Haraway and Cayenne 2006
Donna Haraway and Cayenne 2006, Foto: Rusten Hogness [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Das „Cyborg Manifesto“

Donna Haraway definiert ihr „Cyborg Manifesto” als „[neither] technophobic nor technophilic, but about trying to inquire critically into the worldliness of technoscience.”[8] Cyborgs– als Metapher und Realität des Verschmelzens von Natur-Technik-Kultur im 20. Jahrhundert[9] – führen aber keinesfalls unweigerlich zu einer Auflösung von Geschlechterzuschreibungen und Sex/Gender-Dichotomien infolge organisch-technischer Hybridisierungen, wie dies als Implosionstheorie in der feministischen Rezeption häufig beschrieben wird. Haraway argumentiert zwar durchaus, dass die Grenzen zwischen Tier und Mensch, Organismus und Maschine, Physikalischem und Nicht-Physikalischem am Ende des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen verschwimmen und demzufolge klassische herrschaftslegitimierende Dichotomien auflösen könnten. Cyborgs entstanden in der Sprache des zweiten Weltkrieges, sowohl als Ausdruck als auch als reale Konfigurierungen, um Kommunikationspolitiken der militärischen Kräfte zu verbessern. Sie sind aber auch „illegitime Kinder“, die sich in vielen Bereichen der Welt, der Sprache und der Wissenschaft selbständig gemacht haben. Hierin liegt auch die Ambivalenz ihrer Möglichkeiten.

Im Hauptteil des Essays setzt sich Haraway intensiv mit der „Informatik der Herrschaft“ im Zeitalter der „Technoscience“ auseinander, also mit „einer Weltordnung, die hinsichtlich ihrer Neuheit und Reichweite dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus analog ist“.[10] Ausgehend von militärischen Kommunikationstechnologien des Zweiten Weltkriegs sei das kybernetische Kommunikationskonzept auf nahezu alle Wissenschaftsbereiche, Lebenskonzepte und philosophische Paradigmen übertragen worden. Dieser Prozess sei von tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationen begleitet gewesen und habe ein polymorphes Informationssystem geschaffen, das auch mit Kodierungs- und Übersetzungsproblemen konfrontiert sei. In dieser Entwicklung sieht Haraway machtvolle Unterdrückungsmechanismen am Werk, denn „[w]ie jede andere Komponente und jedes andere System auch müssen menschliche Lebewesen in einer Systemarchitektur verortet werden“.[11]

Haraway arbeitet im „Cyborg Manifesto“ ganz konkret die ineinander verschränkten (heute als intersektional bezeichneten) sexistischen, rassistischen und schichtbezogenen Diskriminierungen heraus, die in der Hausarbeitsökonomie spätestens seit den 1980er-Jahren möglich und manifest wurden – und zwar erst mit den ökonomischen und technologischen Umformungen der Informatik der Herrschaft. Am Beispiel neuer Formen der kapitalistischen Industriearbeit arbeitet Haraway heraus, wie die globale Vernetzung erst durch neue Kommunikationstechnologien ermöglicht wurde und die gewerkschaftlichen Rechte männlicher Arbeitnehmer untergraben haben. Als Folge seien zwar auch mehr Frauen in diesen Feldern tätig geworden, allerdings verbunden mit zunehmender Armut von Frauen und auch Männern nicht-weißer „Unterschichten“ im „integrierten Schaltkreis“, mit der Auflösung von Familienstrukturen und negativen „Auswirkungen auf den Hunger und die weltweite Subsistenzproduktion“.[12]

Der Mythos der Cyborg könnte, wie Haraway im zweiten Teil des Manifests ausführt, allerdings dazu beitragen, verschiedene marginalisierte Identitäten (insbesondere, aber nicht nur von „Women of Color“) miteinander in Verbindung zu setzen. Als illegitimen Kindern stünden der Cyborg subversive Strategien des „Schreibens“ (gerade aus ihrer grenzüberschreitenden, hybridischen „Natur“ heraus) als eine „machtvolle Form des politischen Kampfes“ offen. Denn cyborgisches Schreiben sei die „bedeutendste Technologie der Cyborgs“ im Kampf gegen Unterdrückung. Ein solches Schreiben (und das inkludiere auch Sprechen) ermögliche den partialen Ausdruck, denn es verneine den „Traum einer gemeinsamen Sprache“ und scheinbar homogener Identität. Insofern biete die Cyborg und ihr Schreiben eine Möglichkeit, sich von multiplen Standpunkten aus zu äußern. „Wir brauchen keinen organischen Holismus, der uns mit einer undurchlässigen Ganzheit, der totalen Frau und ihren feministischen Varianten (Mutantinnen?) ausstattet“. Cyborgs und Monster als literarische Grenzbrecher sind für Haraway keineswegs unschuldig. Sie sind – wie eingangs beschrieben –illegitime Kinder, die auf Regeneration statt Reproduktion setzen. Sie „suchen sich keine eindeutige Identität und erzeugen somit keine antagonistischen Dualismen ohne Ende“.[13]

Obwohl Haraway in ihrem Manifest einen „ironischen, politischen Mythos“[14] entwirft, betont sie zugleich, der „realen Welt die Treue“ halten zu wollen. Sie warnt vor der falschen Auslegung ihrer Aussagen und wendet sich beispielsweise 1995 in einem Interview explizit gegen eine postmoderne Beliebigkeit von Grenzspielen:

„Besonders die Rezeption des Cyborg-Manifests als Plädoyer für endloses Freispiel und Grenzüberschreitungen hat mir das Blut in den Adern gefrieren lassen […] Mit endlosem Freispiel und der Lust an der Überschreitung will ich nichts zu tun haben. Verspieltheit, Beweglichkeit, mehr zu sein, als wir zu sein glauben, diskursive Konstitution, die Unerwartetheit von Sprache und Körper, das sind Dinge, an denen mir liegt und um die es in meiner Arbeit geht. Aber ich will nicht, daß die Anregung meiner Arbeit in verantwortungsloses Freispiel, in Postmodernismus im groben und vulgären Sinne abdriftet.“[15]

Situierte Wissen als verkörperte Politik

Hier kommt eine weitere wichtige Perspektive ins Spiel, ohne die Haraways Argumentationen nicht zu verstehen sind. Fast zeitgleich mit dem „Cyborg Manifesto“ veröffentlichte sie 1988 den Aufsatz „Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective”.[16] In dieser Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Objektivitätsmythen einerseits und radikalem Sozialkonstruktivismus andererseits bezieht Haraway erneut Position im feministischen Diskurs. Konkret beklagt sie eine Dichotomisierung der theoretischen „Schulen“, die sich gegeneinander stellen und nach dem Leitsatz „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns“ agieren würden.

Mit dem Begriff der nur im Plural korrekt bezeichneten situierten Wissen[17] wendet sich Haraway jedoch vorwiegend gegen das mächtige Paradigma einer neutralen Objektivität, das ebenso zentral für die Metaphysik der Entdeckungs- und Fortschrittsgeschichte sei wie für die westlich-akademische Vormachtstellung der Naturwissenschaften. Die von der Naturwissenschaft bewusst aufrecht erhaltene Illusion, Wissen sei etwas Losgelöstes, quasi im Raum Schwebendes, sei gewissermaßen ein „god trick“.[18] In der traditionellen Vorstellung von Objektivität gelte ein (generell männlich imaginierter) Wissenschaftler als Beobachter von außen, der mit einem „von nirgendwo“ herkommenden Blick ein von seiner Person oder der jeweiligen Technik unabhängiges Wissen über ein Objekt präsentiere. Diese Position gehe auf die im 16. und 17. Jahrhundert entwickelte Experimentalmethodik der Natur- und Technikwissenschaften zurück, deren Wirkmacht vor allem durch die Entwicklung von Nachvollziehbarkeit und Reproduzierbarkeit gerechtfertigt wurde. Erst die Standardisierung des Experiments, der Wissensaustausch zwischen (Natur-)wissenschaftlern hat demzufolge subjektive Irrtümer und Verzerrungen der Interpretation reduziert. Den im Experiment und im wissenschaftlichen Be-Schreiben verwendeten Technologien habe man Neutralität attestiert, sodass beispielsweise mit Hilfe „moderner“ Visualisierungstechnologien die Annahme durchgesetzt wurde, der Wissenschaftler könne wertneutral von der Natur das „reine Wesen“ des Untersuchungsobjektes ablesen. Gegen diese Annahme einer scheinbar neutralen und unvermittelten Erkenntnis und deren Darstellung durch experimentelle Visualisierungstechniken entwickelt Haraway ihr Konzept der verkörperten Wissen, indem sie auf eine Beschreibung des Auges und der „Vision“ (im weitreichenden realen und metaphorischen Sinne) zurückgreift.[19] Es gebe kein voraussetzungsloses Beobachten, denn jede „Erkenntnisgewinnung“ vollziehe sich in einem dynamischen „apparatus of bodily production“.[20]

Haraway plädiert demzufolge für die Anerkennung einer verkörperten Objektivität und damit für jeweils in einer bestimmten Zeit, einer Person oder einer Personengruppe verortete, also situierte Wissen. Situierte Wissen seien nie universell, sondern würden Ausschnitte und unterschiedliche Sichtweisen beinhalten, die sich zeitlich und kontextgebunden verändern könnten. Erst im Aushandeln der verschiedenen Positionen und partialen Perspektiven, im Stottern und in den Irritationen, die dabei entstünden, werde adäquatere Erkenntnis möglich. Haraway behält in Erweiterung der Actor-Network-Theory den Begriff der Entität in vielen Bereichen bei[21], denn ihr geht es darum, die situierte und verkörperte Wirkmacht von Akteuren in Netzwerken zu verstehen.[22] „I have written about many sorts of entities that are neither nature, nor culture. The family includes […] the cyborg, the coyote, the OncoMouseTM, the FemaleMan, the feminists, the history of women within feminist analysis, the dogs in my new project, and, of course the non-human primates”.[23]

Situierte Wissen bilden laut Haraway die Grundlage für politisches Handeln. Ihr eigenes Engagement richtet sich bereits seit den 1970er-Jahren auf gruppenbezogene und gesellschaftlich wirkmächtige Politiken wissenschaftlich-aktivistischer Netzwerke. Denn die unvermeidliche Einbindung der Wissenschaftler_in in die „apparatusses of bodily production“ erfordere immer auch, dass diese_r die eigene Verantwortung annehme und reflektiere. Bereits im „Cyborg Manifesto” erklärt Haraway: „Taking responsibility for the social relations of science and technology means refusing an anti-science metaphysics, a demonology of technology, and so means embracing the skillful task of reconstructing the boundaries of daily life, in partial connection with others, in communication with all of our parts”.[24]

Ein weiterer wichtiger Ansatz ist hervorzuheben: In Verbindung mit den situierten Wissen können und sollen sich wissenschaftspolitisch-aktivistisch wirksame Netzwerke laut Haraway auf Affinitäten statt Identitäten beziehen. Mit Affinität meint Haraway „eine Beziehung auf der Grundlage von Wahl“,[25] die sich in bewussten Koalitionen und politischer Verwandtschaft ausdrücke. Mit einer solchen Konzeption positioniert sich Haraway auch mit den situated knowledges in der andauernden feministischen Debatte um die Kategorie Frau, denn zeitlich-räumlich situierte und verkörperte Affinitäten, die auf gemeinsame politische Ziele verweisen, benötigen keine permanente und stabile, kategorial homogenisierende Identität. Hier verbindet sich der Haraway’sche Wissensbegriff mit der materiell-semiotischen Metapher der Cyborg, dem Plädoyer für eine nicht-essenzialistische Erkenntnisgewinnung und der Forderung nach der Übernahme von Verantwortlichkeit in politisch-wissenschaftlichen Koalitionen. Konkret resümiert Donna Haraway in ihrer für mich eindrucksvollsten Aussage:

„Daher glaube ich, daß mein und unser Problem darin besteht, wie wir zugleich die grundlegende Kontingenz aller Wissensansprüche und Wissenssubjekte in Rechnung stellen, eine kritische Praxis zur Wahrnehmung unserer eigenen bedeutungserzeugenden, ‘semiotischen Technologien‘ entwickeln und einem nicht-sinnlosen Engagement für Darstellungen verpflichtet sein können, die einer ‘wirklichen‘ Welt die Treue halten, einer Welt, die teilweise miteinander geteilt werden kann und unterstützend wirkt auf erdumgreifende Projekte mit einem begrenzten Maß an Freiheit, angemessenem materiellen Überfluss, einer Verminderung der Bedeutung von Leiden und einem begrenzten Maß an Glück.“[26]

Aktualität

Wenn wir uns die technisierte Welt von heute ansehen, deren Bevölkerung sich aus realen, virtuellen, simulierten und metaphorischen Cyborgs zusammensetzt, dann ist die Haraway’sche Analyse technologischer Herrschaftsstrukturen und deren problematischer Implikationen für Individuen und Kollektive jeglicher Lebewesen aktuell wie eh und je. Binäre Kategorisierungen und Grenzziehungen zwischen Gruppen von Menschen und Nicht-Menschen legitimieren Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse in der Welt und im Hinblick auf politische Teilhabe. In ihren neueren Arbeiten konzentriert sich Haraway auf das Mensch-Tier-Verhältnis.[27] In ihrem 2008 erschienenen Buch When Species meet, dem schon The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness (2003) voranging, bringt Haraway die untrennbar miteinander verbundene Entwicklung von Menschen und den mit ihnen lebenden Tieren auf den Begriff des „becoming with“. Aus ihrer gemeinsamen Entwicklung und der damit einhergehenden Verantwortung heraus begründet Haraway ein Konzept von Verwandtschaft, das nicht auf biologische Vererbbarkeit, sondern auf die Untrennbarkeit von Mensch-Tier-Pflanze-Technik in weltlichen Netzwerken zurückgehe. In ihrem neuesten Beitrag „Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin“[28] fordert sie, ein verantwortungsvolles „Kinship“-Verhältnis müsse zur Grundlage politisch-aktivistischer Strategien in Zeiten aktueller Krisen wie etwa Klimawandel, Umweltverschmutzung, Migration, Ausbeutung und postkoloniale Unterdrückung werden: „Making kin and making kind (as category, care, relatives without ties by birth, lateral relatives, lots of other echoes) stretch the imagination and can change the story“.[29]

Die Entwicklung solcher Strategien und Netzwerke zur Veränderung menschlicher, kapitalistischer, planetenumspannender Auswirkungen der Globalisierung erfordern wiederum eine neue Begrifflichkeit. Haraway beschreibt das utopisch anmutende Chthulucene, dessen Bezeichnung von H. P. Lovecrafts Monster Cthulhu inspiriert wurde, wie folgt: “Maybe, but only maybe, and only with intense commitment and collaborative work and play with other terrains, flourishing for rich multispecies assemblages that include people will be possible. I am calling all this the Chthulucene—past, present, and to come”.[30] Es steht zu erwarten, dass Haraways demnächst erscheinendes Buch Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene (2016) diese Gedanken weiter entfalten wird.[31]

  1. Donna Haraway, Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980's, in: Socialist Review 80 (1985), S. 65–108.
  2. Haraway, A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century, in: dies., Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 149–181; deutsche Ausgabe: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, übers. von Fred Wolf, in: dies., Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hrsg. von Carmen Hammer / Immanuel Stieß, Frankfurt 1995, S. 33–74.
  3. Haraway, Cyborgs, Coyotes, and Dogs: A Kinship of Feminist Figurations and There are Always More Things Going on Than You Thought! Methodologies as Thinking Technologies. An interview with Donna Haraway, conducted in two parts by Nina Lykke / Randy Markussen / Finn Olesen, in: dies., The Haraway Reader, New York 2004, S. 321–341.
  4. Diese „Europa-Orientierung“ wurde zunächst vom amerikanischen Kollektiv der Socialist Review ebenso kritisiert wie die unterstellte technoaffine Ausrichtung des Essays, die nicht in die technikkritische Tradition einer marxistisch orientieren Arbeiterzeitschrift passen würde. Das „Cyborg Manifesto“ wurde dennoch vom Berkeley Socialist Review Collective unter der Herausgeberschaft von Jeff Escoffier publiziert.
  5. Das gesamte Werk Haraways kann in diesem Essay nicht diskutiert werden, doch sollen die wichtigsten Texte genannt werden, die zu einem Verständnis des „Cyborg Manifesto“ beitragen können.
  6. Haraway, Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, New York 1989.
  7. Haraway, Primatology Is Politics by Other Means, in: Proceedings of the Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association, Volume Two: Symposia and Invited Papers, Chicago 1984, S. 489–524; deutsche Ausgabe: Primatologie ist Politik mit anderen Mitteln, in: Barbara Orland / Elvira Scheich (Hrsg.), Das Geschlecht der Natur, Frankfurt 1995, S. 137–198.
  8. Haraway, Cyborgs, Coyotes, and Dogs, S. 326.
  9. Haraway verwendet den Begriff Cyborg in doppelter Hinsicht: einerseits in Bezug auf technologisch-organische Hybride, andererseits als feministische Erzählfigur (in der deutschen Übersetzung durch die Cyborg gekennzeichnet und von Haraway selber als „weiblich“ empfunden).
  10. Donna Haraway, „Wir sind immer mittendrin“. Ein Interview mit Donna Haraway, Gespräch mit Katharina Pühl, Anne Scheidhauer, Dagmar Fink und Barbara Ege, übers. von Anne Scheidhauer / Carmen Hammer, in: dies., Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hrsg. von Carmen Hammer / Immanuel Stieß, Frankfurt 1995, S. 98–122, hier S. 48.
  11. Ebd., S. 50.
  12. Ebd., S. 57. Ihre Analysen zur ambivalenten Technowelt hat Haraway weitergeführt in: The Promise of Monsters: A Regenerative Politics for Inapproriate/d Others, in: Lawrence Grossberg / Cary Nelson / Paula A. Treichler (Hrsg.), Cultural Studies, New York 1992, S. 295–337; deutsche Ausgabe: Monströse Versprechen. Eine Erneuerungspolitik für un/an/geeignete andere, in: dies., Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg 1995, S. 11–30.
  13. Haraway, Ein Manifest für Cyborgs, S. 64–70.
  14. Ebd., S. 33.
  15. „Wir sind immer mittendrin“, Interview mit Donna Haraway, S. 111.
  16. Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14 (1988), 3, S. 575–599; deutsche Ausgabe: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg der partialen Perspektive, in: dies., Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt 1995, S. 73–97.
  17. Haraway verwendet im englischen Originaltext den Begriff „situated knowledges“ im Plural – in der deutschen Übersetzung wird er jedoch als „situiertes Wissen“ im Singular formuliert. Das ist insofern bemerkenswert, da sich ihr Ansatz auf die Pluralität und Partialität von Wissensbeständen bezieht.
  18. Haraway, Situated Knowledges, S. 581.
  19. Haraway, Situated Knowledges, S. 581ff.
  20. Ebd., 591ff.
  21. Haraway beharrt in Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin, in: Environmental Humanities 6 (2015), S. 159–165, im politischen Sinn auf der Benennung von Akteuren und grenzt sich damit von Konzeptionen des feministischen Materialismus, z.B. nach Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham, NC, 2007, ab, die eine epistemologische Auflösung von Entitäten fordert. Vgl. Sigrid Schmitz, Welche ethischen und politischen „accountabilities“ und „responsibilities“ haben wir für unsere eigenen Apparaturen?, in: Corinna Bath / Hanna Meißner / Stephan Trinkaus / Susanne Völker (Hrsg.), Verantwortung und Un/Verfügbarkeit. Impulse und Zugänge eines (neo)materialistischen Feminismus. Münster 2017 [im Erscheinen].
  22. Haraway führt diesen Bezug in einem neueren Interview auf weitere ihrer Arbeitsfelder aus: Vinciane Despret / Donna Haraway, Stay where the trouble is. Gespräch mit Karin Harrasser und Katrin Solhdju, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften 4 (2011), 1, S.92–102.
  23. Haraway, Cyborgs, Coyotes, and Dogs, S. 332.
  24. Haraway, A Cyborg Manifesto, S. 181.
  25. Haraway, Ein Manifest für Cyborgs, S. 40.
  26. Haraway, Ein Manifest für Cyborgs, S. 5 (engl. Original 1988: S. 579).
  27. Diese Bezüge sind jedoch nicht “neu”, sondern schon im “Cyborg Banifesto” und in den “Situated Knowledges” enthalten.
  28. Donna Haraway, Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene.
  29. Ebd., S. 161.
  30. Ebd., S. 160.
  31. Donna Haraway, Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, Durham 2016 [im Erscheinen].

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Imke Schmincke.

Kategorien: Wissenschaft Gender Geschichte der Sozialwissenschaften

Sigrid Schmitz

Prof. Dr. Sigrid Schmitz ist Biologin und forscht in den Gender & Science Technology Studies zu Hirnforschung, Neurokulturen und Neurotechnologien sowie zu Körperdiskursen an Natur-Kultur-Schnittstellen. Sie ist derzeit Gastprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2010–2015 war sie Professorin für Gender Studies an der Universität Wien; 2002–2009 leitete sie als Hochschuldozentin mit Prof. Dr. Britta Schinzel an der Universität Freiburg das Kompetenzforum „Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften“.

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