Klaus Schlichte | Rezension | 07.06.2022
Das Empire an der Elbe
Rezension zu „Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung“ von Jürgen Zimmerer und Kim Sebastian Todzi (Hg.)
Der vorliegende Band ist ein wahres Kompendium zur kolonialen Geschichte Hamburgs. Insgesamt 29 AutorInnen – überwiegend aus Hamburg, aber auch aus Leiden, Dar es Salaam und Sidney – beleuchten biografische, stadtplanerische, architektonische und institutionelle Spuren der kolonialen Vergangenheit, die sich dem Narrativ von der weltoffenen und liberalen Hansestadt keineswegs nahtlos einfügen, ihm bisweilen auch direkt widersprechen. Mit Autoren wie Oswald Masebo, Reginald Elias Kirey und Ndzodo Awono sind zudem auch Wissenschaftler aus den Nachfolgestaaten vormaliger deutscher Kolonien im Band vertreten.
Neben einer Einleitung und einem Ausblick verteilen sich die 33 Beiträge des Bandes auf fünf thematische Schwerpunkte: „Wirtschaft und Politik“, „Wissenschaft und Forschung“, „Kunst, Kultur und Gesellschaft“, „Die Welt in Hamburg – Hamburg in der Welt“, und schließlich ein Abschnitt über „Denkmäler“. Einige Dutzend Abbildungen sowie umfängliche Personen- und Ortsregister bereichern den Band zusätzlich.
In seiner Einleitung verzichtet der Mitherausgeber Jürgen Zimmerer auf eine theoretische Einbettung ebenso wie auf eine Verortung der Beiträge in der nicht zuletzt auf internationaler Ebene mittlerweile doch sehr umfangreichen Debatte um die koloniale und postkoloniale Geschichte. Er schlägt stattdessen vor, eine koloniale und eine postkoloniale Phase der Globalisierung zu unterscheiden, und betont für beide Phasen die besondere Bedeutung von Hafenstädten als Schnittstellen zweier Herrschaftsräume und als „Orte der Globalisierung per se“ (S. 15). Zentral für die konzeptionelle Anlage des Bandes ist zudem der von Pierre Nora und anderen entwickelte Begriff der „Erinnerungsorte“, der bestimmte, für das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe prägende historische Referenzpunkte bezeichnet. Ausgehend von dieser vergleichsweise knappen theoretisch-methodischen Hinführung widmen sich die Beiträge nicht nur dem kolonialen Realgeschehen, sondern auch den in der Stadt präsenten Formen und Zeugnissen des Umgangs mit dieser Geschichte. Einiges, was dabei behandelt wird, ist naheliegend: Die erwartbar zentrale Rolle der Handelskammer, die Spuren der Verehrung für koloniale Militärs, die sogenannten Völkerschauen bei Hagenbeck oder das mit der Vorgeschichte der Universität Hamburg verbundene Hamburgische Kolonialinstitut gehören zu den Themen, die der FachleserInnenschaft bekannt sein dürften. Dennoch haben die entsprechenden Beiträge neben Bekanntem auch viel Neues zu bieten. Dies gilt erst recht für das Gros der Beiträge, die neue Forschungsergebnisse zu einer sehr breiten Themenpalette präsentieren.
In der ersten Abteilung „Wirtschaft und Politik“ wird schnell deutlich, dass es mit der Weltgewandtheit und Offenheit, auf die sich die herrschaftstragenden Schichten der Hansestadt viel zugutehielten und -halten, nicht so weit her ist, ja, dass die liberale Fassade einige Brüche und Widersprüche überdeckt. Im ersten Beitrag dieses Teils skizziert Kim Sebastian Todzi die Rolle der Handelskammer, die in Hamburg seit 1906 mit dem Rathaus räumlich verbunden ist. Nach anfänglicher Zurückhaltung der Hamburger Kaufmannschaft verabschiedete die Handelskammer 1883, in der frühen Hochzeit des deutschen Imperialismus, eine auf Initiative des Kaufmanns Woermann verfasste „Denkschrift“, die die Reichsregierung offen zum militärischen Schutz deutscher Handelsinteressen aufforderte, in den „Schutzgebieten“ aber zugleich freihändlerische Traditionen bewahrt wissen wollte. Wie Todzi hervorhebt, schlossen sich Freihandel und Imperialismus also keineswegs aus. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus prononcierte die Hamburger Handelskammer wieder starke kolonialistische Ambitionen – mit bekanntem Ausgang. Inzwischen bemüht sich die Institution um die Aufarbeitung ihrer problematischen Geschichte, inklusive der Förderung ihrer wissenschaftlichen Erforschung. Ein handgreifliches Resultat dieser Bemühungen ist etwa ein von der Handelskammer selbst in Auftrag gegebenes Findbuch, das Interessierten nun die Rekonstruktion der in den Archivbeständen dokumentierten ehemaligen kolonialistischen Bestrebungen erleichtert.
In einem weiteren Beitrag dieses Teils widmet sich Malina Emmerink dem wenigstens dem Namen nach stadtbekannten Juristen und Politiker Karl Sieveking (1787–1847). Sieveking kann als ein klassischer Vertreter der „Hanseaten“ gelten, jener Trägerschicht von Stadtbeamten, Politikern und Kaufleuten, die Hamburgs Handelsorientierung im 19. Jahrhundert besonders stark forcierten. 1846 verfügte Hamburg weltweit über 162 Konsulate und war damit mutmaßlich diplomatisch besser repräsentiert als jeder andere deutsche Teilstaat. Sieveking imaginierte nicht nur neue Handelsstützpunkte und Siedlungen in Übersee, er engagierte sich auch persönlich in entsprechenden Vertragsverhandlungen, etwa in Brasilien und in London. Der „weltgewandte Hanseat und koloniale Phantast“, als den ihn Emmerink beschreibt, verfolgte ebenso Pläne für deutsche Siedlungen in Ozeanien wie für eine Humanisierung des Seekriegsrechts. Heute erinnern an ihn vor allem die Benennung eines zentralen Platzes in der Hamburger Innenstadt und des Autobahnzubringers nach Berlin. Vor diesem Hintergrund mutet die Formulierung der Autorin, „seine Person“ sei „ein wichtiger immaterieller Erinnerungsort“ (S. 160) etwas unbeholfen an. Aber vielleicht zeigt sich daran auch nur, dass der aus guten Gründen knapp gehaltene theoretische Rahmen des Bandes eben nicht alles gleichermaßen gut erfassen kann.
In der folgenden Abteilung „Wissenschaft und Forschung“ widmet sich Rainer Nicolaysen, ein Doyen der Hamburger Wissenschaftsgeschichte, der Geschichte des 1908 eröffneten Kolonialinstituts, einem wichtigen Vorläufer der 1919 gegründeten Universität Hamburg. Zu diesem Institut steuerte ein deutschstämmiger Finanzberater des britischen Unternehmers und Kolonialpolitikers Cecil Rhodes finanzielle Mittel bei, während der Hamburger Reeder Edmund Sievers das Gebäude, das heutige Hauptgebäude der Universität, spendete. Die Bürgerschaft sprach sich mit breiter Mehrheit für die Übernahme der laufenden Kosten aus, sodass zügig mit dem Aufbau des Studiums der „Auslandswissenschaften“ begonnen werden konnte, von dem weitere Verbindungen in die deutsche Afrikanistik führten. Die besondere Beziehung der Universität Hamburg zum deutschen Kolonialismus wird anhand der Geschichte des Kolonialinstituts eindrücklich deutlich. Nicht zuletzt dieser Umstand dürfte die Gründung der Forschungsstelle „Hamburgs (post)koloniales Erbe“, an der auch der vorliegende Band entstand, maßgeblich befördert haben. Das ehemalige Kolonialinstitut ist aber auch deshalb ein prominenter Erinnerungsort, weil sich eine aus Anlass des 50-jährigen Universitätsjubiläums im Jahr 1969 verfasste Gegenfestschrift der Studierendenbewegung auf ebendieses Gebäude bezog. Auch die damals noch existierenden Denkmäler für die „Kolonialhelden“ Hermann von Wissmann und Hans Dominik wurden im Vorfeld dieser Proteste im November 1968 von ihren Sockeln geholt. Weitere Kapitel des zweiten Teils beschäftigen sich mit der Geographischen Gesellschaft, lange Zeit eine der größten wissenschaftlichen Vereinigungen in Hamburg, dem Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin und der „zwischen Herbarium und Leichenraub“ oszillierenden Sammelleidenschaft der Botanikerin Amalie Dietrich.
Im daran anschließenden Teil zu „Kunst, Kultur und Gesellschaft“ geht es ,ans Eingemachte‘, nämlich um die historische Kritik der Selbstinszenierungen und Mythologisierungen der Freien und Hansestadt Hamburg. Die Historikerin Lu Seegers wendet sich darin zunächst dem ominösen Wesen „des Hanseatischen“ zu, dem wahrscheinlich sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdwahrnehmung wichtigsten Charakteristikum der Stadt. Die vor sich her getragenen Werte von Weltläufigkeit, Unabhängigkeit und Liberalität, mit denen „das Hanseatische“ in Hamburg gern in Verbindung gebracht wird, stehen nämlich in eigenartigem Kontrast zur Willfährigkeit, mit der sich „die Hanseaten“ nationalstaatlich vereinnahmen ließen und ihre Freihandelsmentalität der kolonialen Expansionspolitik unterordneten. Das galt, wie Seegers zeigt, ganz offenbar auch für die Zeit der „Ostkolonisation“ während des Nationalsozialismus.
Überaus pointenreich ist auch Tania Manchenos Beitrag über das Renommierprojekt der „HafenCity“. Dieser „leidenschaftliche Bezugspunkt“ (S. 341) des neuen bürgerlichen Zentrums sei, so Mancheno, Teil eines imaginären Hamburgbilds, einer Selbstimagination der Stadt, in der die Tor-zur-Welt-Rhetorik und der Überseehandel Teil des Tourismusmarketings geworden sind. Die symbolisch verdichtete Geschichte, so Mancheno, erhalte selbst Warencharakter, die Schiffsallegorik der Elbphilharmonie mache diese zum Simulacrum von Urbanität und Hochkultur, dessen Fundament – der Philharmoniekomplex ruht auf einem riesigen ehemaligen Kakao- und Kaffeespeicher – beschwiegen und nicht als das bezeichnet wird, was es war: kolonialer Extraktivismus.
In dem folgenden, „Die Welt in Hamburg – Hamburg in der Welt“ betitelten Abschnitt des Bandes treten die relationalen Effekte des Kolonialismus vielleicht am deutlichsten hervor, weil hier auch Akte der Selbstorganisation derer sichtbar werden, die sonst häufig nur als Unterdrückte und Objekte kolonialer Herrschaft erscheinen. Die brutale Unterbrechung und Zerstörung dieser Formen von Selbstbestimmung und Handlungsmächtigkeit im Nationalsozialismus sind zugleich besonders erschütternd. Schon Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre war Hamburg der Sitz des von der Komintern initiierten „International Trade Union Committee of Negro Workers“, das die Hafenstadt zur Zentrale der Organisation Schwarzer Seeleute zu machen suchte, eine kaum bekannte Geschichte, mit der Gisela Ewe den Band bereichert. Die deutschen Kommunisten unterstützten ihre Schwarzen Genossen nur wenig, und mit der Machtübernahme 1933 wurde das Büro der „Union“ geschlossen und ihre international vertriebene Zeitschrift eingestellt.
Weit weniger als andere europäische Hafenstädte wie Barcelona oder Marseille wurde Hamburg während der Kolonialzeit zu einem Ort der Immigration für Menschen aus anderen Erdteilen. Die Ansiedlung von „Fremden“ war politisch nicht gewollt und wurde mit polizeilichen Mitteln rigoros verhindert. Allen gesetzlichen und polizeilichen Maßnahmen zum Trotz gab es im Kaiserreich dennoch gelegentliche Ansätze zu derartigen Vorhaben. So schildert Lars Amenda in seinem Beitrag die kurze Geschichte des „Chinesenviertels“, das ab den 1920er-Jahren im Stadtteil St. Pauli um die Schmuckstraße herum entstand. Ähnlich wie in London oder Liverpool entwickelte sich aus der Arbeitsmigration der Seeleute eine Gemeinschaft mit eigenen Betrieben und Geschäften sowie mit einer eigenen Kulturszene. Anfänglich noch als exotisches Beiwerk im Amüsierviertel geduldet, wurde die Immigrantengemeinde in der Zeit des Nationalsozialismus zum Ziel von Repression und Verfolgung. Zwischen 60 und 80 chinesischstämmige Hamburger wurden im Herbst 1944 als Zwangsarbeiter verpflichtet, nur wenige von ihnen überlebten.
Auf vertrauterem Terrain der postkolonialen Diskussion in Deutschland bewegen sich die Beiträge des fünften thematischen Teils, in dem es um „Denkmäler“ geht. Wohl in jeder größeren deutschen Stadt wurde in den letzten zwei Jahrzehnten über die Legitimität von Denkmälern und Straßenbenennungen gestritten, und auch Hamburg bildet da keine Ausnahme. Einer Person, die nur den wenigsten bekannt sein dürfte, widmet sich Julian zur Lage, der sich auf die Spuren des Kolonialunternehmers Heinrich Carl von Schimmelmann begibt. Dessen Plantagenwirtschaft war im 18. Jahrhundert ein wichtiger Teil der transkontinentalen Sklavenökonomie. Schimmelmann stand in dänischen Diensten und unterhielt vier Plantagen in den dänischen Karibikkolonien, auf denen etwa 1.000 Versklavte arbeiteten. Er war einer der reichsten Europäer der Epoche, der auch Güter in Ahrensburg und Wandsbek besaß, und seinen Zuckerhandel über den Hamburger Hafen abwickelte. Während sein Sohn sich als Abolitionist hervortat, avancierte der Vater zum – mittlerweile umstrittenen – Namenspatron für Straßen und Plätze. Erst 2008 wurde eine Schimmelmann-Büste in Hamburg-Wandsbek nach Protesten entfernt. Überaus lesenswert sind auch die Beiträge zu „Deutschlands höchstem Kolonialdenkmal“, dem Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark, und der Verwandlung der „Lettow-Vorbeck-Kaserne“ in den „Tansaniapark“.
Der gelungene Ausblick mit dem Titel „Epistemologische Leerstellen in den verflochtenen Geschichten Tansanias und Deutschlands“ stammt aus der Feder von Oswald Masebo, einem Historiker aus Hamburgs Partnerstadt Dar es Salaam. Masebo weist vier solcher Leerstellen aus, die sich zugleich als Bilanz wie auch als kritischer Kommentar des vorliegenden Bandes lesen lassen.
Die erste Leerstelle betrifft die Repräsentation des Gegenstands: Im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung über den deutschen Kolonialismus stehen für gewöhnlich die Deutschen, während die Kolonisierten – in diesem Fall die TansanierInnen – darin zumeist nur am Rande vorkommen. Durch diese einseitige Perspektivierung, so Masebo, gerate ein wichtiges Thema aus dem Blick, nämlich die Grenzen der kolonialen Macht und ihre häufig sichtbare Schwäche.[1] Eng damit verbunden ist die zweite Leerstelle: Es dominieren die Biografien der „Kolonialhelden“ – die Millionen von Biografien derer, die Objekte kolonialer Herrschaft waren, tauchen dagegen nur in ganz seltenen Ausnahmefällen auf. Die dritte Leerstelle, die Masebo ausmacht, ist methodischer Art: In der Kolonialgeschichtsschreibung dominieren die Archive die Quellenlage. Darin sind jedoch fast ausschließlich amtliche Sichtweisen und offizielle Darstellungen enthalten, verfasst in den Sprachen der jeweiligen Kolonialmächte. Lokale Narrative, Erfahrungen und Umgangsformen der Kolonisierten lassen sich so nicht erschließen. Bisher fehlte es an Anstrengungen, die Vielzahl der Umgangsformen – von gewaltsamem Widerstand über Vermeidung und Ausweichen bis hin zu Anpassung und Aneignung der kolonialen Projekte durch die lokale Bevölkerung – zu erforschen.[2] Dieses Ungleichgewicht auch nur annähernd auszugleichen ist freilich eine Herkulesaufgabe. Eine vierte Lücke identifiziert Masebo schließlich in der bislang noch unzureichenden Diskussion der Frage nach dem Anteil der kolonialen Erfahrung an der Entwicklung der Nationalidee in Deutschland wie in Tansania. Eine solche Diskussion, so steht zu vermuten, wäre wohl für beide Seiten konfliktiv, weil sie nicht umhinkäme, Eigenmythologisierungen infrage zu stellen. Mit dem Beitrag von Masebo weist der Band auf zeitgemäße Weise über seinen Inhalt hinaus. Neben zahlreichen weiteren Beiträgen bietet auch der Band als Ganzes zahlreiche Anknüpfungspunkte und Anregungen für die weitere Erforschung und Diskussion der kolonialen Geschichte und ihrer anhaltenden Gegenwart.
Zwei solcher Anregungen seien hier abschließend hervorgehoben: Die Universität Hamburg und ihre koloniale Vorgeschichte werden im vorliegenden Band ausführlich thematisiert. Dabei konnte nicht allen Spuren nachgegangen werden, da es zu viele gibt. Eine dieser Spuren führt zu dem Afrikanisten Carl Meinhof (1857–1944). In den knapp zwei Jahrzehnten von 1919 bis zu seiner Emeritierung 1936, in denen er als Direktor des „Seminars für Afrikanische und Südsee-Sprachen“ wirkte, entwickelte Meinhof eine Theorie der Bantusprachen, die bis in die 1950er-Jahre weltweit maßgeblich war. Wissenschafts- und auch philosophiegeschichtlich interessanter ist jedoch, dass Meinhof neben anderen ein wichtiger Gesprächspartner für Ernst Cassirer bei dessen Entwicklung einer Philosophie der symbolischen Formen war. Die frühe, von ihrem Ursprung her eindeutig koloniale deutsche Afrikanistik war auf diese Weise auch mit den kulturtheoretischen Diskussionen des Warburg-Kreises in Hamburg verbunden – eine Verbindung, die doch interessante Fragen über die Rolle des Kolonialismus wenigstens als Hintergrundbedingung für evolutionistische Kulturtheorien aufwirft.
Die zweite Anregung betrifft die jüngere Vergangenheit: Eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus an der Universität Hamburg gab es auch schon vor den jüngeren Projekten, für die der vorliegende Band steht. Tatsächlich arbeitet mittlerweile eine dritte Generation von Forschenden zu diesem Thema. Nachdem sich in den 1970er- und 1980er-Jahren etwa Henning Melber, Gert von Paczensky, Albert Wirz, Renate Nestvogel, Rainer Tetzlaff und Leonhard Harding in verschiedenen Disziplinen kritisch mit der kolonialen Geschichte beschäftigten, stehen Heiko Möhle, Michael Pesek und der zeitweilig in Hamburg lehrende Andreas Eckert für eine zweite Generation von Forschenden, die diese Arbeit in den späten 1990er- und in den frühen 2000er-Jahren fortsetzten. Vor diesem Hintergrund kann man inzwischen mit einiger Berechtigung von einer „Geschichte der Kritik des Kolonialismus“ sprechen, die ihrerseits ein interessanter Forschungsgegenstand wäre. So ließen sich etwa die Konjunkturen der Kritik zeitdiagnostisch interpretieren. Auch das Verhältnis der Kritik des Kolonialismus zum großen nachkolonialen Projekt der „Entwicklung“ – ein prominentes „moving target“ der heutigen postkolonialen Studien – ist alles andere als eindeutig konnotiert und dürfte ebenfalls einen genaueren, kritischen Blick lohnen.
Der vorliegende Band ist nicht nur ein wertvolles Kompendium, sondern auch ein gutes Zeichen. Denn die Tatsache, dass die Beschäftigung mit der kolonialen Herrschafts- und Verflechtungsgeschichte, wie im Fall der hier vorgelegten Forschungen, gezielte öffentliche Förderung erhält, lässt hoffen, dass aus diesem äußerst dynamischen Feld noch viele weitere Arbeiten hervorgehen, die geeignet sind, die nach wie vor stark auf Westeuropa und Nordamerika konzentrierten Sozialwissenschaften weiter zu dezentrieren. Dass dabei auch die Wissenschaftsgeschichte und -gegenwart etwas stärker in den Blick rückt, wäre zu wünschen. Dann würde sich vielleicht auch die von dem französischen Ethnologen Georges Balandier formulierte Einsicht durchsetzen: „nous sommes tous des postcoloniaux“. Mit dieser Einsicht ernst zu machen hieße (mit Blick auf den Titel des vorliegenden Bandes), Hamburg nicht als das „Tor zur kolonialen Welt“ zu begreifen, sondern als Teil derselben.
Fußnoten
- Hier wäre auf die von Heinrich Popitz’ Soziologie inspirierten Arbeiten zu verweisen, die ebendieses Thema scharf beleuchtet haben: Siehe u.a. Gerd Spittler, Verwaltung in einem afrikanischen Bauernstaat. Das koloniale Französisch-Westafrika 1919-1939, Wiesbaden 1981; Georg Klute, Die schwerste Arbeit der Welt. Alltag von Tuareg-Nomaden, München 1992; und schließlich Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994.
- Es gibt gleichwohl eine gewisse Anzahl von Fallstudien, die die Bandbreite der kolonialen Figurationen aufzeigen. Exemplarisch wäre für die deutschsprachige Forschung etwa Trutz von Trothas vorstehend genannte meisterhafte Studie zu nennen. Erhellend ist auch die Forschung, die J.-F. Bayart (Les études postcoloniales, un carnaval académique, Paris/Karthala 2010) in polemischer Absicht gegen die häufig (zu) einfachen Dichotomisierungen zahlreicher postkolonialer Studien auflistet. Die Dynamiken und Relationen von 500 Jahren globalisierter Herrschaftsgeschichte lassen sich schlicht nicht mit binären Codierungen erfassen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Erinnerung Geschichte Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Globalisierung / Weltgesellschaft Internationale Politik Kolonialismus / Postkolonialismus Politik Politische Ökonomie Rassismus / Diskriminierung Wirtschaft Wissenschaft
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