Naika Foroutan | Interview | 21.09.2022
„Das Gleichheitsversprechen der Demokratie läuft empirisch für sehr viele Menschen ins Leere“
Fünf Fragen an Naika Foroutan zum Thema des diesjährigen DGS-Kongresses
Das diesjährige Thema des DGS-Kongresses lautet „Polarisierte Welten“. Geht mit der genannten Polarisierung immer auch eine Spaltung der Gesellschaft einher?
In den letzten Jahren ist sehr viel von einer Polarisierung der Gesellschaft gesprochen worden und davon, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährde. In der Konfliktsoziologie aber gelten soziale Konflikte und eine daraus resultierende Polarisierung bis zu einem gewissen Grad als sozial funktional. Simmel betonte 1908 in Der Streit sogar die emanzipative Funktion solcher Konflikte, weil die in ihnen vertretenen Maximalpositionen natürlich auch Ankerpunkte setzen, die eine Gesellschaft verändern und vor Stagnation bewahren können. In Streit und Widerspruch werden Argumente und Positionen teilweise sehr zugespitzt gegeneinander ins Feld geführt – aber im Grunde genommen entsteht aus dieser Dialektik auch ein synthetischer neuer Raum.
Das können wir in der Migrationsforschung gut erkennen. Ja, es gibt starke migrationsfeindliche Positionen, die europaweit rechtsextreme Parteien in die Parlamente gebracht haben. An den Beispielen Ungarn, Frankreich oder Italien, aber auch beim Aufstieg der AfD ist deutlich geworden, wie sehr das Migrationsthema polarisieren kann. Gleichzeitig zeigen uns die Daten, die wir am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung erhoben haben, dass es gar keine wirkliche Spaltung ist, die wir da beobachten. Es sind vielmehr sehr lautstarke Klein- und Splittergruppen, die äußerst feindselige Positionen vertreten, während eine eindeutige Mehrheit – teilweise sogar zwei Drittel der Befragten – Migration als etwas Positives erachtet, von dem etwa Wirtschaft, Kultur und das soziale Miteinander profitieren können.[1]
Allerdings dürfen wir nicht romantisieren: Auch eine Minderheit wie die AfD kann sehr wirkmächtige Diskurse entfalten, die gesellschaftliche und politische Realitäten schaffen. Hier kann eine Polarisierung entstehen, die dysfunktional und zerstörerisch ist, selbst wenn sich (in Zahlenmengen betrachtet) keine zwei quantitativ gleichstarken Pole gegenüberstehen. Wir beobachten gegenwärtig rund um zentrale Krisen eine gesellschaftliche Positionsspaltung, die sich nicht nur in scharf oder gehässig geführten Debatten offenbart – das muss eine plurale Diskursarena aushalten –, sondern zu einer Bedrohung für einzelne Akteure wird. Die verhandelten Themen sind oft existenzieller Natur: Ob Coronavirus, Klimakrise, Ukrainekrieg, Migration, Geschlechtergerechtigkeit oder Rassismus – es geht um fundamentale Fragen nach Gerechtigkeit, Verantwortung und Zukunftsgestaltung. Bei all diesen Themen zeigt sich, dass neben dem – durchaus wichtigen auch scharfen – Diskurs und Gegendiskurs eine dysfunktionale Zunahme von extremer, menschenfeindlicher, sexistischer, rassistischer, antisemitischer und expertenfeindlicher Gewalt zu beobachten ist. So gab etwa der Verband der Beratungsstellen für Betroffene (VBRG) bekannt, dass 2021 täglich mindestens vier Menschen in Deutschland Opfer rechter, rassistischer oder antisemitisch motivierter Gewalt wurden. Rassismus war dabei in rund zwei Dritteln der Fälle das dominante Tatmotiv. Aber auch Attacken auf Lokal- und Kommunalpolitiker:innen, auf Journalist:innen oder Impfärzt:innen oder Klimaaktivist:innen haben zugenommen und bedrohen somit ganz konkret einzelne Personen.
Welche gesellschaftlichen Konflikte gibt es im Zusammenhang mit Migration? Woran erkennt man hier Polarisierungen und wo lassen sie sich (empirisch) beobachten? Wie verlaufen die Spaltungslinien?
Seit mehr als einem Jahrzehnt ist in Europa ein Erstarken migrationsfeindlicher Parteien zu beobachten, die sich dabei nicht nur gegen Migration, sondern gleichzeitig auch gegen die Europäische Union, gesellschaftliche Eliten, Klimagerechtigkeit und soziale sowie religiöse Minderheiten positionieren. Somit steigt parallel zur Migrationsfeindlichkeit auch die Europaskepsis, Feminismusfeindlichkeit, Homo- und Transfeindlichkeit, die Islamfeindlichkeit, der Antisemitismus und die Feindseligkeit gegenüber all jenen, die aus der Gesamtgesellschaft heraus politisch und gesellschaftlich für plurale Demokratien eintreten, während sie keiner Minderheit angehören. Die genannten Angriffspunkte stehen alle sinnbildlich für Pluralität, wurden jedoch im letzten Jahrzehnt stark vom Migrationsthema als übergeordnetem Narrativ gerahmt: Auch die EU symbolisiert Pluralität durch die Ausweitung nationalstaatlicher Zuständigkeiten. Und die als „Gutmenschen“ und „Volksverräter“ angegriffenen und diffamierten „Eliten“ – gleich ob sie pandemie- oder klimapolitische Maßnahmen beschließen – werden als „anywhere“-Kosmopoliten geschmäht, die weder für ihr Land noch für ihre Bevölkerung eintreten, weil sie eine plurale oder internationalistische Perspektive einnehmen und vertreten. Dabei werden Migrant:innen, Muslime oder sexuelle Minderheiten als national, religiös und identitär amorphe Stellvertreter:innen dieser Heterogenität betrachtet: Sie weichen etablierte kategoriale Grenzen auf und erzeugen Mehrdeutigkeiten und für manche führt das zu Diversitätsstress. Da die Abwehr von Migration sich mit anderen Arten von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit paart und sich im rechtspopulistischen Milieu die Europa-, Eliten- und Demokratiefeindlichkeit hinzugesellen, kann ein Muster der Antipluralität diagnostiziert werden. Wir haben am DeZIM vor einiger Zeit eine Itembatterie zu generalisierter Pluralitätsangst getestet. Darin haben wir auch nach der eigenen Haltung gegenüber Food- oder Sprachtrends gefragt oder gegenüber unterschiedlichen Familienentwürfen. Die Daten zeigen, dass ungefähr ein Drittel der Befragten sich von jedweder Art von Pluralität überfordert fühlt. Diese Gruppe wies auch eine ausgeprägte Migrations- und Muslimfeindlichkeit auf.[2] Wir interpretieren die hohe Korrelation zwischen beidem wie folgt: Migration wird subjektiv zum Ausgangspunkt für die Heterogenisierung und Pluralisierung der Gesellschaft erklärt, weil die Präsenz und Anwesenheit der migrantischen Anderen Pluralität besonders sichtbar macht, sie manifestiert und sie somit physisch erfahrbarer wird. Allerdings zeigt die aktuell sehr polemisch diskutierte Transfeindlichkeit, dass die neue Sichtbarkeit dieser marginalisierten Gruppe auch eine große Abwehr und Polarisierung erzeugt – hier geht es ebenfalls um die Abwehr von Pluralisierung, nämlich der Pluralisierung von Geschlechterkategorien über die binäre Codierung in männlich und weiblich hinaus. Bei der migrantischen Frage ist die binäre Codierung in Deutsche und Ausländer:innen zunehmend amorph und sinnlos geworden, wenn mittlerweile 40 % aller Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben. Damit pluralisiert sich aber die nationale und kollektive Identität, was wiederum einige überfordert. Gewalt und Attacken gegen jene, die diese binären Kategorien infrage stellen, nehmen zu und verbleiben nicht nur im diskursiven Raum. Sichtbare Pluralität, gepaart mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung, ist also ein Reizfaktor, der auf der einen Seite im produktiven Streit ausgehandelt wird. Der langanhaltende, auch polarisierte Streit um Vielfalt und Zugehörigkeit hat letztlich zur relativ breiten Anerkennung des Umstands geführt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und sich in eine postmigrantische Gesellschaft gewandelt hat. Auf der anderen Seite ist im Laufe dieser Aushandlungsprozesse eine große Zahl von Menschen attackiert, verletzt oder gar getötet worden, weil sie als grenzüberschreitende, plurale Subjekte sichtbar und auf der Basis eines Diskurses, der ihre Zugehörigkeit negiert, auch angreifbarer geworden sind.
Wie könnte man etwaigen Spaltungstendenzen entgegenwirken?
Der vor Kurzem veröffentlichte Rassismusmonitor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung[3] konnte aufzeigen, dass mehr als ein Viertel (28 %) der Bevölkerung die Vorstellung teilt, die Ungleichheit zwischen sozialen Gruppen sei legitim. Und unterschiedliche Formen von sozialer Ungleichheit werden von 27 % der Gesellschaft damit legitimiert, jede Gesellschaft brauche „Gruppen, die oben sind, und andere, die unten sind“.[4] Die Frage danach, ob „gewisse ethnische Gruppen bzw. Völker von Natur aus fleißiger“ seien, bejaht ein Drittel der Befragten.[5]
Diese soziale Hierarchisierung und Legitimierung von Ungleichheit infrage zu stellen, ist Aufgabe der Rassismuskritik. Auf diese Kritik reagieren jedoch sehr viele Menschen aversiv – nicht nur die erwähnten knapp 28 %, die soziale Ungleichheit als legitim empfinden: Fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung (45 %) stimmt der Aussage zu, dass Rassismusvorwürfe und „politische Korrektheit“ die Meinungsfreiheit einschränken würden.[6] Wir beobachten hier eine Reaktanz, nach dem Motto man dürfe im eigenen Land nichts mehr sagen, würde eingeschüchtert oder gecancelt und „bisher normale Wörter“ gälten jetzt als rassistisch.[7] Das wiederum schürt Abwehr gegenüber denjenigen, die als Minderheiten sichtbar sind: Ihnen wird unterstellt, zu empfindlich zu sein oder mit ihren Ängsten zu übertreiben.[8] Es werden aber nicht nur die unmittelbar sichtbaren Minderheiten selbst abgewertet, sondern auch ihre Allianzpartner:innen, also jene, die Rassismuskritik als emanzipative Gesellschaftsentwicklung auf dem Weg zum Abbau etablierter Hierarchien betrachten. Die Spaltung innerhalb der Gesellschaft nimmt also nicht nur entlang der Linien von Etablierten und Außenseiter:innen zu, sondern auch innerhalb der Etabliertenpositionen.
Gleichzeitig erweitert sich aber das Feld der Allianzen. Hier sind nicht mehr nur Migrant:innen (um jetzt mal die Gruppe zu nennen, die ich beforsche) vertreten, auch andere vulnerable Gruppen schließen sich der Kritik um Sprachengerechtigkeit, Repräsentation und Abbau von etablierten Ungleichheitsstrukturen an – dazu kommen zusätzliche, nicht-marginalisierte Koalitionspartner:innen, etwa Freund:innen, Nachbar:innen und Arbeitskolleg:innen, die sich im antirassistischen Lager positionieren. Dieses progressive Lager kreuzt sich in seiner Positionalität außerdem mit sexismuskritischen, antisemitismuskritischen, kapitalismuskritischen Positionen und verknüpft die Gerechtigkeitsfragen zugleich mit einer Nachhaltigkeitsforderung nach der Veränderung struktureller Ungleichheiten. Hier entsteht somit auch eine Schnittstelle zur Klimagerechtigkeit und den Akteur:innen in diesem Feld.
Das progressive Feld wird also pluraler, postmigrantische Allianzen werden stärker und aus diesem sich ausweitenden Feld heraus sind andere Schnittstellen und Anschlussfähigkeiten möglich, die die gesellschaftliche Spaltung zumindest reduzieren.[9] Extremistische Ränder bleiben dabei weiterhin abgekoppelt und nicht ansprechbar. Aber zumindest können wir klarstellen, dass es sich nicht um quantitativ gleichwertige „Lager“ handelt. Vielmehr konnten wir im DeZIM gerade im antirassistisch positionierten Feld eine große Heterogenität ausmachen, obwohl in den öffentlichen Debatten gerade der Diskurs um Rassismus, Gender oder Identitätspolitik als sehr polarisierend dargestellt werden. Untersucht man das Ganze näher, lässt sich erkennen, dass trotz der oben genannten Empfindlichkeit – oder nennen wir es besser Unbehagen – eine empirisch größere Offenheit besteht, als der Diskurs suggeriert. Die Debatten um eine linke Cancelkultur oder Moralisierung oder Sprachpolizei oder Genderwahnsinn – you name it – bündeln sich tatsächlich eher in spezifischen Gruppen. Die Reaktanz ist stärker in der männlichen Mitte der 45- bis 54-Jährigen.[10] Parallel dazu geben 47 % der Bevölkerung an, im Alltag rassistischen Aussagen zu widersprechen, 35 % können sich vorstellen, dies in Zukunft zu tun.[11] Sowohl die jüngeren Kohorten als auch Frauen wehren tendenziell deutlich weniger Rassismuskritik ab. In puncto Bildung fanden wir heraus: Realschulabsolvent:innen wehren Rassismuskritik am stärksten ab. Befragte mit Hochschulreife tun dies insgesamt häufiger als Befragte mit Hauptschulabschluss.[12] Interessanterweise sind die Männer aus der Mitte in diesem Kontext häufig diejenigen, die im Diskurs die Klassenkarte spielen und den Race- und Genderdebatten vorwerfen, sie seien übertrieben und machten die soziale Frage unsichtbar. Womöglich kaschieren sie damit aber ihr eigenes Unbehagen über die Neuverteilung der Gesellschaft sowie die Infragestellung ihrer etablierten Position und schieben es den Arbeiter:innen in die Schuhe, die damit vermeintlich nicht klarkämen, weil sie in gesellschaftspolitischen Fragen eher konservativ denken würden und deswegen antiprogressiv seien? Wie gesagt, die Daten zeigen: Rassismuskritik als übertrieben abzuwehren, ist auch und gerade in den Bevölkerungsteilen verbreitet, die ihr Selbstbild als demokratische Mittelschicht mit den bestehenden Ungleichheiten und rassistischen Realitäten kognitiv in Einklang bringen müssen.
In der Stärkung der Allianzen liegt aber das Potenzial, die Spaltung zu überwinden, wonach Sie ja fragen. Es lässt sich nämlich auf Basis der Zahlen des Rassismusmonitors klar konstatieren, dass die Phase, in der debattiert wurde, ob Rassismus in Deutschland überhaupt existiert, ein für alle Mal überwunden scheint. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist sich eher einig darin, dass es Rassismus in Deutschland gibt. Eine große Anzahl der Befragten stimmt den Aussagen zu, dass dieser sich durch den Alltag, Behörden und das Verhalten der meisten Menschen generell zieht. Rassismus wird nicht nur als mediale Extrem- und Ausnahmeerscheinung wahrgenommen, sondern als alltags- und gesellschaftsstrukturierend.[13] Und weiterhin erkennt eine große Mehrheit, dass sich Rassismus auch subtil und unbeabsichtigt äußern kann, zum Beispiel in Witzen oder vermeintlichen Komplimenten (ebd., S. 58). Unsere Daten belegen, dass es nicht nur eine kleine elitäre Minderheit, sondern die breite Mehrheit der Menschen in Deutschland ist, die anerkennt, dass Rassismus in der Gesellschaft existiert, den Alltag formt, in staatlichen Institutionen wie Behörden wirksam ist und sich mitunter im eigenen Verhalten manifestiert.
Es lässt sich daher keineswegs behaupten, eine linke, entkoppelte Minderheit würde Rassismusdiskurse aufsetzen, die breite Mehrheit als Rassisten bezeichnen und sie aus dem progressiven Diskurs ausschließen. Dazu erscheinen gerade zahlreiche Bücher, die diese These prominent vertreten.[14] In Teilen basiert diese Annahme eher auf Bauchgefühl und anekdotischer Evidenz als auf empirischer Realität. Nicht, dass ich hier sagen würde, es gäbe keine Cancelkultur – es gibt die verrücktesten Dinge, aber die Beispiele die angeführt werden – von Cultural Appropriation, der zufolge kein Sushi mehr an US-amerikanischen Unis verkauft werden oder das Wort Frau nicht mehr benutzt werden darf etc. – sind fast immer die gleichen, die in allen diesen Büchern auftauchen. Auch wenn es völlig legitim ist, das eigene Unbehagen zu artikulieren, sind derlei sich wiederholende Ausführungen nicht ausreichend, um als empirisch stark und gesättigt gelten zu können.
Vielmehr herrscht neben dieser hochgejagten Debatte ein breiter Konsens in der Bevölkerung darüber, was rassistisch ist und dass Rassismus auch strukturelle Benachteiligungen für spezifische vulnerable Gruppen erzeugt sowie Ungleichheit manifestiert – und darin, dass Rassismus eben nicht nur bedeutet, jemanden zu beleidigen oder anzugreifen. Die Vorstellung davon, was rassistisch ist, hat sich gewandelt und der konflikthaft geführte Diskurs auch im Sinne Simmels hat zu einer Neuausrichtung in der Gesellschaft geführt. Wie gesagt, es geht nicht ohne harte Konflikte, wenn fundamentale, tradierte Positionen, Rollenwahrnehmungen oder Strukturen infrage gestellt und radikal neu gedacht werden.
Politisch bearbeitet man Konflikte, indem man sie „kleinhackt“ und step by step nach Lösungen sucht – welches Vorgehen schiene Ihnen in Bezug auf Migration angebracht?
In meinem Buch Die postmigrantische Gesellschaft habe ich als Strategie vorgeschlagen, die Migrationsfrage stärker zu decodieren, um zu verstehen, was dahinter verhandelt wird. Das post- ist hier also weniger ein chronologisch gedachtes Präfix, sondern ein transzendentes „Darüberhinaus“. Es geht nämlich in der Tat gar nicht wirklich um Migration – also darum, dass jemand kommt oder geht – sondern darum, WER kommt oder geht und in Folge darum, wie sich NACH stattgefundener Migration Gesellschaft rekonfiguriert, wie etablierte Positionen, Sprache, Geschlechterrollen, politische wie rechtliche Privilegien oder Werte und Normen neu ausgehandelt, verteidigt oder adjustiert, verworfen oder gefestigt und bestätigt werden. All das geschieht im Konflikt – aber es geht nur an der Oberfläche um Migration. Die Frage nach dem Umgang mit Migration ist vielmehr zu einer Chiffre für generelle Anerkennungsfragen geworden und für die Einforderung von Gleichheit, die ja in Art. 3 des Grundgesetzes versprochen wird.
Es geht also um Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe. Diese zentralen Güter sind sehr vielen verwehrt – nicht nur Migrant:innen, sondern ebenso Arbeiterkindern, Armutsbetroffenen, alleinerziehenden Frauen oder Ostdeutschen etc. – wobei diese Kategorien (Stichwort Intersektionalität) ja oft untereinander korrelieren. Das sichtbar zu machen und den teilweise alles verdeckenden Schleier der Migration zu lüften, erlaubt es, den Konflikt zu teilen und strategische Allianzen aufzubauen.
Deutschland ist heute so ungleich wie vor 100 Jahren. Das Gleichheitsversprechen der Demokratie läuft empirisch also für sehr viele Menschen ins Leere. Der Widerspruch zwischen einer verinnerlichten Norm (wir sind eine Demokratie mit einem großen Gleichheitsversprechen) und einer empirisch fassbaren Realität der Ungleichheit wird für viele Mitglieder der Gesellschaft immer spürbarer und führt zu einer kognitiven Dissonanz sowie spürbarer Gereiztheit.
Die Tatsache, dass eine bestimmte soziale, ethnische, religiöse oder regionale Herkunft bis heute Aufstiegschancen verhindert, passt nicht zur Selbsterzählung dieses Landes, das sich als weltoffen und liberal, als leistungsorientiert und gerecht und eben nicht als herkunftsorientiert oder feudal wahrnimmt.
Wir sollten die zentralen Probleme der Gesellschaft nicht gegeneinander ausspielen. Nach dem Motto, man habe die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft vernachlässigt, weil die Probleme von Minderheiten, die sowieso viel zu empfindlich seien, Vorrang hatten. Das erklärt dann die Ungleichheiten eher entlang der Defizite einzelner Gruppen statt sie strukturell als systemische Defizite zu adressieren, die weit mehr Menschen betreffen, als nur die Migrant:innen und ihre Nachkommen, auch wenn diese überproportional von Ungleichheiten betroffen sind.
In Bezug auf den bestehenden Fachkräftemangel in vielen Arbeitsbereichen wird aus ökonomischer Sicht stets Zuwanderung als Lösung propagiert. Wie sehen Sie das aus soziologischer Perspektive?
Ein Kurzbericht des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt: Nur mit einer jährlichen Nettozuwanderung von 400.000 Personen bliebe das Arbeitskräfteangebot bis 2060 nahezu konstant und der demografisch bedingte Rückgang des Potenzials an Erwerbspersonen könnte ausgeglichen werden.
Wir benötigen folglich kontinuierlich Migration auf hohem Niveau, wenn wir auch in Zukunft über genügend Arbeitskräfte verfügen, unsere soziale Sicherung und unsere Gesundheitsversorgung aufrechterhalten wollen und unser Wohlstandsniveau nicht sinken soll. Aber dieses utilitaristische Argument – also einfach nur zu sagen, wen oder was wir brauchen – ist nicht ausreichend. Wenn nicht klar kommuniziert wird, dass die Gesellschaft auch bereit sein muss, den mit Migration einhergehenden kulturellen Wandel sowie Diversität oder Pluralisierung als Markenkern mitzutragen, wird das nur zu Frustration und Problemen führen, und zwar sowohl bei der hiesigen Bevölkerung als auch bei den Neuzuwander:innen – wenn sie denn überhaupt kommen.
Tatsächlich ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Wettkampf um Arbeitskräfte in den Industrienationen der Welt zu erwarten, das alte Europa ringt schon jetzt um LKW-Fahrer, Pflegekräfte, Putzleute und alle, die es noch braucht, um saturierte Gesellschaften am Laufen zu halten. Die Mär von gezielter Auswahl und den „qualifizierten Fachkräften“ kann keinen Bestand haben. Während Deutschland nach gefühlten 100 Jahren immer noch versucht, das kanadische Punktesystem einzuführen, wonach Akademiker:innen und Fachkräfte die höchste Stufe erreichen, sattelt Kanada in der Migrationspolitik bereits von „high skilled worker“ auf „relevant skilled worker“ um, also auf jene Arbeitskräfte, die an vielen Stellen gebraucht werden. Trotzdem könnte Deutschland hier die Nase vorn haben, weil das Land einen sehr guten Ausbildungssektor hat und innerhalb von zwei bis drei Jahren aus Ungelernten qualifizierte Arbeiter:innen machen kann, aber dafür muss das Narrativ der „qualifizierten Arbeitskräfte“ ergänzt respektive umgeschrieben werden, in „zu qualifizierende Arbeitskräfte“.
Die Pandemie hat gezeigt, welche Berufe in Zukunft systemrelevant sein werden, nämlich Pflegekräfte, Paketzustellende, Pharmazie- und Krankenhauspersonal, Supermarkt- und Reinigungskräfte – alles übrigens Berufe, in denen Migrant:innen überproportional vertreten sind, wie eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung bereits zu Beginn der Pandemie feststellte. Gleichzeitig wissen wir aus zahlreichen Studien, dass bei der Vergabe von Wohnungen, Arbeitsplätzen oder Schulnoten Personen mit Migrationshintergrund benachteiligt werden. Wenn Deutschland wirklich um „migrantisches Gold“ konkurrieren will – immerhin stehen auch Großbritannien, die USA, Kanada und Australien vor der Situation, Arbeitskräfte händeringend zu benötigen – dann muss sich das Land auch politisch und gesellschaftlich stärker zu einer postmigrantischen Realität bekennen. Dazu gehörte neben Symbol- auch handfeste Strukturpolitik. Diese wiederum – und da kommen wir wieder zu der Frage nach den postmigrantischen Allianzen – müsste breiter adressiert werden und viel mehr soziale Gruppen mit einbeziehen. Die Migrationsfrage ist schließlich nur ein Proxy für die Aushandlung der sozialen Fragen unserer Zeit.
Fußnoten
- Naika Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft, Bielefeld 2021.
- Ralf Wölfer / Naika Foroutan, Plurality resistance. Effects on intergroup relations and the mediating role of stereotypes, in: International Journal of Intercultural Relations 87 (2022), S. 42–50.
- DeZIM-Institut, Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander?, 2022.
- Ebd., S. 48.
- Ebd., S. 45.
- Ebd., S. 84.
- Ebd., S. 83.
- Ebd., S. 86.
- Katarina Stjepandić / Elias Steinhilper / Sabrina Zajak, Forging Plural Coalitions in Times of Polarisation. Protest for an Open Society in Germany, in: German Politics (2022), S. 1–26.
- Rassismusmonitor 2022, S. 84.
- Ebd., S. 93.
- Ebd., S. 84.
- Eebd., S. 56.
- Etwa: René Pfister, Ein falsches Wort: Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, München 2022; James Matthew Lindsay / Helen Pluckrose, Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt - und warum das niemandem nützt, München 2022; John McWhorter, Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet, Hamburg 2022; Michael Bröning, Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird, Bonn 2021; Jan Feddersen / Philipp Gessler, Kampf der Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale, Berlin 2021.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Arbeit / Industrie Care Demokratie Diversity Gender Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Migration / Flucht / Integration Politik Rassismus / Diskriminierung Soziale Ungleichheit Sozialer Wandel Wirtschaft
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