Heike Delitz | Rezension |

Das große Krabbeln

Rezension zu „Wilde Soziologie. Soziale Insekten und die Phantasmen moderner Vergesellschaftung“ von Eva Johach

Eva Johach:
Wilde Soziologie. Soziale Insekten und die Phantasmen moderner Vergesellschaftung
Deutschland
Paderbon 2020: Wilhelm Fink
VIII + 539 S., 69,00 EUR
ISBN 978-3-8467-6522-7

Wilde Soziologie? (1)

Was ist oder was könnte eine Wilde Soziologie sein? Diese Fragen drängen sich angesichts des Titels des hier zu besprechenden Buchs zuerst auf. Zwei mögliche Antworten liegen nahe: Entweder bezieht sich Eva Johach auf Claude Lévi-Strauss – Das wilde Denken lautete der Titel seines intellektuell erfolgreichsten, das strukturalistische Denken und die strukturale Anthropologie epistemologisch wie politisch verankernden Buches. Demnach wäre eine wilde Soziologie eine, die sich anthropologischer Forschungen bedient, um eine nicht-eurozentrische soziologische Theorie zu entwickeln. Oder geht es um eine Soziologie, die sich dem sozialen Leben anderer, ‚wilder‘ Lebewesen zuwendet? Ist das Buch also eine allgemeine, über den Gegenstand der Insekten hinausreichende Intervention für eine nicht-eurozentrische oder aber nicht-szientistische Soziologie? Geht es um Insektengesellschaften selbst?

Keinen dieser beiden Wege schlägt das Buch ein. Die erste Möglichkeit spricht die Autorin zwar kurz an, doch anders als Lévi-Strauss interessiere sie sich nicht für das wilde Denken im „Gegensatz zu wissenschaftlichen Denkweisen“ (S. 11 f.). Auch die Insekten sind nicht direkt das Thema. ‚Wild‘ ist die ins Auge gefasst Soziologie vielmehr im Sinne von „un-diszipliniert“. Einen solchen „Charakter“ habe jenes „Gesellschaftsdenken“ zumal dort angenommen, wo es sich durch „Insektengesellschaften“ inspirieren ließ (S. 12). Mit Blick auf dieses transdisziplinäre Gesellschaftsdenken skizziert Johach nun eine historische Epistemologie, die Metaphern beziehungsweise „Phantasmen“ (S. 13) als Mittel zur Problematisierung von Gesellschaft ernst nimmt. Die so verstandene wilde Soziologie (als eine, die historische Epistemologie und soziologische Theorie verbindet) interessiert sich dabei nicht zufällig für die Analogien und Metaphern, die Insekten zur Verfügung stellen: Die „Faszination, die darin liegt, Gesellschaft ‚im Spiegel des Insekts‘ zu betrachten“ (S. 2), sei darauf zurückzuführen, dass es dieser Spiegel ermögliche, eine „nicht exklusiv menschliche“ Evolution von Gesellschaft zu denken (S. 3) und insgesamt die „singuläre Stellung des Menschen“ im Hinblick auf Sozialität infrage zu stellen (S. 1). Das Faszinosum liege zudem in der Idee, bei Bienen, Termiten und Ameisen finde sich Gesellschaft im Reinzustand – Kollektivität jenseits von Interessen und Motiven.

Das Buch versteht sich weder als Darstellung populärer Imaginationen von Gesellschaft noch als Kritik an Naturalisierungen von Gesellschaft oder als posthumanistischer Entwurf. Worum es ihm geht, ist das „Problem der Vergesellschaftung“ (S. 8). Das gesellschaftstheoretische Potenzial der Bezugnahme auf ‚soziale‘ Insekten liege in der Problematisierung von Gesellschaft: Der Blick auf Insekten mache auf die „gesellschaftliche Form selbst“ aufmerksam sowie auf die „Grundfragen“, wie sie speziell die europäische Moderne aufwarf – Fragen nach sozialer Organisation und Integration, nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv, nach sozialer Evolution und „nach den möglichen Zukünften menschlicher Gesellschaften“ (S. 10). Wenn Insekten als derart aufschlussreich für die Konzeptualisierung von Gesellschaft galten, dann will das Buch eruieren, unter „welche[n] historischen Bedingungen“ (des Wissens, H.D.) welcher Umweg über die Insekten jeweils plausibel erschien; wie auch, worin je der „Mehrwert“ eines solchen Unterfangens lag (S. 8).

Fünf Etappen des „Seitenblicks“ auf Ameisen, Bienen, Termiten

Johach beginnt mit Auguste Comte. In dessen Ziel, soziale Gesetzmäßigkeiten zu formulieren, sind Biologie und Soziologie bekanntlich untrennbar verbunden. Alfred Espinas (Des sociétés animales, 1876) führte diese Tradition weiter, indem er „Tiergesellschaften“ in die Soziologie miteinbezog (worin ihm sein Kollege Émile Durkheim bekanntlich nicht folgte). Ausgehend von Espinas interessiert sich Johach nun zunächst für eine sehr spezielle „Soziologie“, nämlich für die „Sozialentomologie“, die „biologische Forschung umstandslos zu soziologischer Theorie“ erkläre (S. 5). Im Kern (aber nicht nur) geht es damit um die Sozio-Biologie. Mit Edward O. Wilson (The Social Conquest of Earth) beanspruchte diese noch 2012, im Gegensatz zur ‚eingeschränkten‘, weil anthropozentrischen Soziologie allgemeingültige Aussagen über das Soziale zu treffen. Neben dieser Alternativwissenschaft zur Soziologie hätten Kenntnisse über Insekten aber auch viele weitere Theorien des Sozialen inspiriert. So seien zentrale Konzepte des systemtheoretischen Denkens der Erforschung des Verhaltens von Insekten zu verdanken (bei Parsons, via W. M. Wheelers). Es sei hier die „Doppelperspektive“ zwischen scheinbar vernunftlosen ‚Agenten‘ einerseits und emergenten Handlungssystemen andererseits, welche die „Faszinationskraft von Insektengesellschaften“ erkläre (S. 7): Im Effekt, den Emergenz-Begriff und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu zu diskutieren, habe sich der Blick auf Insekten als von „großer Tragweite“ (ebd.) für die soziologische Theorie erwiesen.

Nach diesem ersten Einblick eruiert Johach die „Vermischung“ von Insektenforschung und soziologischer Theorie (S. 7) in fünf Diskurszusammenhängen. Im 17. und 18. Jahrhundert (Kap. I) wurde anhand von Bienenstock und -zucht das Problem der sozialen Ordnung und Regulation diskutiert. In den sozialpsychologischen Diskursen seit dem 19. Jahrhundert dienten Termiten, Wespen und allgemein Insektengesellschaften (bei Espinas, Tarde, Wundt, selbst bei Freud) dazu, das Problem der Psyche des Kollektivs zu klären (II). In den Diskursen über den Ursprung von Gesellschaft (III), die ihre Wurzeln ebenfalls im 19. Jahrhundert haben, ist es die Evolution von Arbeitsteilung, die an Insekten diskutiert wurde (Spencer, Bachofen, Freud, Blüher, Gilman unter anderen). Im Kapitel über „insekteninformierte Systemtheorien“ (IV) macht Johach neben Parsons auf eine zweite, nämlich behavioristische Traditionslinie der Systemtheorien (Wilson, Wheeler) aufmerksam. Die Beobachtung der Kommunikation von Bienen oder des Verhaltens von Ameisen und Termiten habe es erlaubt, „agentenbezogene“ Systembegriffe (S. 288) zu entfalten, die in Konzepte algorithmischer Lösungsfindung (S. 362) eingingen. Auch im abschließenden Kapitel V widmet sich das Buch Diskursen, die über den Umweg der Insekten Technisierungen problematisieren – etwa Dystopien der ‚Insektwerdung‘ des Menschen (bei Huxley, Fukuyama und Jünger) – sowie Affirmationen posthumaner Sozialität. Hier werden im Spiegel der Insekten Konzepte von Kollektivität sichtbar, die sich von der Vorstellung lösen, Soziologie sei allein eine Wissenschaft menschlicher Kollektive. Exemplarisch werden die Ansätze von Donna Haraway und Bruno Latour diskutiert.

Die Konstitution und Auflösung des Gesellschaftsbegriffs

Auf der Grundlage reichhaltiger und oft (gemessen am Standardrepertoire soziologischer Theorie) ‚abseitiger‘ Materialien ermöglicht das Buch einen Einblick in weit zurückliegende und sehr differente Diskurse, in denen seit Comte ‚Gesellschaft‘ thematisiert wurde. Kenntlich wird die Varianz der Probleme, die mit Blick auf Insekten diskutiert werden (Integration, Evolution, Organisation, Emergenz). Kenntlich wird darüber hinaus eine Diskursstruktur – die Struktur einer sukzessiven Konstitution, Refiguration und Auflösung des Gesellschaftsbegriffes, die einem zunehmenden „Unbehagen an der Gesellschaft“ (S. 463) entspreche:

„Inzwischen unterstützt der Seitenblick auf Insekten nicht mehr die Möglichkeiten einer Reifizierung des Gegenstands ‚Gesellschaft‘ [...]. Im Zuge einer zunehmenden Diskreditierung des Gesellschaftsbegriffs [...] kommen Insektengesellschaften nun [...] als Assoziationen oder Kollektive in Betracht, [als] destratifizierte, entfunktionalisierte, ent-essenzialisierte Modelle des Sozialen, die dazu verhelfen können, sich von den Einheitsfiktionen zu lösen, die das gesellschaftstheoretische Denken in der Moderne bestimmt haben“ (S. 461).

Wenn es der Autorin letztlich, so lesen wir jedenfalls Exposition und Fazit, um den Gesellschaftsbegriff geht – dann liegt eine Grenze des Vorhabens sicherlich darin, dass einmal mehr von ‚einem‘ Gesellschaftsbegriff ausgegangen wird. Das gerade zitierte Narrativ lautet ja: zunächst werde Gesellschaft als Einheit gedacht (wie ein Bienenstock); dann werde dieser Begriff zunehmend aufgelöst (indem andere Aspekte der Insekten ins Zentrum rücken). Diese stereotype Vorstellung, die alle Gesellschaftsbegriffe als tendenziell essentialistisch versteht, so als würden sie ausnahmslos eine Ganzheit implizieren, fällt auch dort auf, wo „postfundamentalistische“[1] respektive postfundationalistische Gesellschaftsbegriffe angesprochen werden: Deren Pointe liegt gerade nicht (wie Johach meint) darin, „[e]ntlang einer [...] länger verfolgten Linie der Kritik“ von der „Nichtdarstellbarkeit von Gesellschaft aus[zu]gehen“ (S. 462). Die Pointe der postfundationalistischen Theorie ist vielmehr, an einer Vorstellung von Gesellschaft festzuhalten, als einer ebenso ‚unmöglichen‘ wie gerade daher notwendigen kollektiven Einheit. Dieser Gesellschaftsbegriff ist dezidiert nicht essentialistisch. Als solcher bleibt er – wie auch viele weitere Gesellschaftsbegriffe, zum Beispiel die strukturalistischen und poststrukturalistischen – im Spiegel der Insekten unsichtbar. Diese Grenze einer an der Biosoziologie orientierten historischen Epistemologie wäre sicher deutlicher zu betonen gewesen: Eine auf die Soziobiologie konzentrierte ‚wilde‘ Soziologie erlaubt letztlich nur eine sehr spezifische Problematisierung von ‚Gesellschaft‘ und wäre daher zu ergänzen um andere Problemgeschichten mit Blick auf andere disziplinäre Diskurse.

Kritik der digitalen Gesellschaft

Darüber hinaus hätte die Autorin deutlicher formulieren können, welches Ziel sie im Gang durch die weit auseinanderliegenden Diskurse letztlich verfolgt. Das Fazit jedenfalls erweckt den Eindruck, das eigentliche Ziel sei eine kritische Theorie der digitalen Gesellschaft mit ihren enormen Asymmetrien. Für diese Gesellschaft böten Insektenmodelle keine adäquaten Bilder:

„Wir leben zunehmend in ‚gemischten Gesellschaften‘ mit künstlichen Agenten [...]. Es dürfte schwierig werden, wollte man in diesen Formen und Figuren der Kollektivität [...] das begrüßenswerte Emergieren einer ‚kollektiven Intelligenz‘ erkennen, doch ist ihnen mit einer Emergenzkritik wie bei Latour et al. ebensowenig beizukommen. Ähnlich unpassend erschiene der Versuch, die [...] Interaktionsgemeinschaft von usern und social bots nach dem Muster eines Kollektivs zu interpretieren, das auf die positiven Effekte der Symmetrisierung menschlichen und nicht-menschlichen Wesen hin perspektiviert ist“ (S. 467).

So hält Johach namentlich den Ansatz von Latour für überschätzt. Die „dekonstruktive Energie“ (S. 468), die dieser auf den Gesellschaftsbegriff verwende, sei eher auf die Folgen der Digitalisierung zu lenken. Dafür also sei eine wilde Soziologie bereitzustellen, die „im Blick behält, in welchem Maße Fragen der Vergesellschaftung in anderen Wissensfeldern durchgespielt“ werden, das heißt heute in denen, die mit der Digitalisierung zusammenhängen. Als Ziel des Unterfangens erscheint so eine historische und politische Epistemologie von ‚Gesellschaft‘, die sich nicht auf soziologische Diskurse beschränkt, weil nur auf diese Weise die zunehmend von technischen Akteuren, von unsichtbaren Agenten ‚besetzte‘ Gesellschaft zu verstehen sei.

Wilde Soziologie (2): Nach Lévi-Strauss

Wilde Soziologie: der Titel weckt weitere Erwartungen, namentlich die einer Soziologie, die die disziplinären Grenzen auch auf eine zweite, ganz andere Weise überschreitet – nämlich mit Blick auf außereuropäische Gesellschaften und die ihnen eigenen Kultur- und Gesellschaftstheorien. Wie erwähnt greift Johach den Titel von Lévi-Strauss (Das Wilde Denken) auf. Statt unter dem Titel des wilden Denkens aber einen „Gegensatz“ (S. 11) zum europäischen Wissen zu konstruieren, zielte Lévi-Strauss gerade auf das Gegenteil: „Mit Absicht greife ich den Terminus wild auf“, schreibt er 1961, um die „Probleme nicht [zu] entschärfen“.[2] Die ‚Probleme‘ sind der Evolutionismus und Eurozentrismus der Ethnologie (und Soziologie), denen Lévi-Strauss die Identität des indigenen und europäischen Denkens entgegenhält – bei beidem handelt es sich um Klassifikationen der Natur, Ordnungen der Dinge. Beide Denkweisen stehen darüber hinaus – so hat Eduardo Viveiros de Castro[3] dies weitergeführt – in „strikter ontologischer Kontinuität“. Die europäische Ontologie und Epistemologie erklären das indigene Denken nicht, sondern sind eine unter mehreren, gleichermaßen gültigen Varianten. Die wilde Soziologie wäre dann diejenige, die die Gesellschaftstheorien indigener Gesellschaften einbezieht, dabei zugleich „alle Konsequenzen aus der Idee“ ziehend, „dass die Gesellschaften und Kulturen, die Gegenstand anthropologischer Forschung sind, auch die Gesellschafts- und Kulturtheorien [...] mithervorbringen, die auf Grundlage dieser Forschungen formuliert werden“.[4] Dann ließe sich die europäische Faszination für die „Vorstellung einer nicht exklusiv menschlichen“ Evolution von Gesellschaft (S. 3) etwa der amerindianischen Gesellschaftstheorie gegenüberstellen, in der die Evolution gerade umgekehrt eine universell anthropomorphe Gestalt hat.[5] Oder es würden Gesellschaftstheorien ernst genommen, die auch andere Lebewesen als kollektivbildend verstehen und behandeln.[6]

Fazit

Das materialreiche Buch ist mit seiner Erkundung zahlreicher Diskurse, die ebenso der Biologie wie auch Literatur, Philosophie und Soziologie entnommen sind, zweifellos interessant für alle am Gesellschaftsbegriff Interessierten – und sicher vor allem für jene, die etwa systemtheoretisch oder an der Schnittstelle von Biologie und Soziologie arbeiten. Zugleich irritieren vier Dinge: der beschränkte und als solcher zu wenig explizit gemachte Gesellschaftsbegriff; die implizite Reproduktion der Vorstellung, der Gesellschaftsbegriff sei notwendig essenzialistisch; die Schwierigkeit, das eigentliche Anliegen zu verstehen; der Titel für Buch und Unterfangen. Um es noch einmal anders zu wenden: Eine wilde Soziologie, diese Assoziation drängt sich mit Blick auf Ameisen, Bienen, Termiten ja gerade nicht auf, die im Gegenteil als überaus ‚kultiviert‘ erscheinen. Sie waren, so ist zu vermuten, gerade daher für die hier analysierten Gesellschaftstheorien interessant – ganz gleich, ob es um Einheit, Integration oder systemische Effekte ging.

  1. Oliver Marchart, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013.
  2. Emmanuelle Loyer, Lévi-Strauss: Eine Biographie, Berlin 2017, S. 604, 633 f.
  3. Eduardo Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalen Anthropologie, Leipzig 2019, S. 20.
  4. Ebd., S. 17.
  5. Deborah Danowski / Eduardo Viveiros de Castro, In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende, Berlin 2017.
  6. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2011.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jakob Borchers.

Kategorien: Epistemologien Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie

Heike Delitz

Heike Delitz ist Professorin für Kollektiv- und Kulturwissenschaften an der Universität Regensburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziologische Theorie und Kultursoziologie sowie Vergleichende Soziologie. Zuletzt erschienen: Gesellschaftstheorien, Wiesbaden 2020; Kollektive Identitäten, Bielefeld 2018; mit Robert Seyfert, als Hg.: Helmuth Plessner: Political Anthropology (englische Übersetzung von „Macht und menschliche Natur“, übers. von Nils F. Schott), Evanston 2018.

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