Bernd Eggen | Rezension | 08.06.2022
Das Kind als eindimensionales Subjekt
Rezension zu „Das Problem Kind. Ein Beitrag zur Genealogie moderner Subjektivierung“ von Christoph T. Burmeister
Liest man die gleich zu Beginn des hier besprochenen Buches formulierte These, muss man erst einmal schlucken. „Das Problem Kind ist das Problem der Moderne“ (S. 9), steht dort geschrieben. Aber sind nicht die zentralen Probleme der Moderne politischer, ökonomischer oder gesundheitlicher Art, wie beispielsweise der Klimawandel, die Systemkonkurrenz zwischen China und den sogenannten westlichen Industriestaaten, die hohe Verschuldung zahlreicher Staatshaushalte und seit 2019 auch die Corona-Pandemie? Folgt man den weiteren Ausführungen Burmeisters, relativiert sich das Absolute seiner Aussage rasch. Der Band befasst sich mit der Frage, inwiefern das kindliche Subjekt ein Problem für Konzeptionen der Moderne darstellt, aber auch was „am, um und durch das Subjekt und Objekt Kind“ problematisch ist (S. 9). Es habe eine zentrale Bedeutung für die Entstehung und für die Praktiken „moderner Subjektivierungen als Individuum“, der modernen Familie, des Sozialstaates und der Familienberatung durch Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik (S. 9). Die Studie begreift Kind und Kindheit als historisch kontingent und durchstreift auf der Suche nach Antworten auf die zuvor gestellten Fragen und zur Begründung der gesellschaftlichen Relevanz des Problems Kind die Zeit vom frühen 15. bis ins 21. Jahrhundert.
Doch zunächst führen die ersten beiden Kapitel in grundlegende Arbeiten zur „Figur der Anrufung“ bei Louis Althusser und zu einer „historisch-relationalen Soziologie“ in Anlehnung an Michel Foucaults „historisch-kritischer Ontologie unserer selbst“ ein. Kind und Kindheit stünden bei Althusser insofern im Zentrum, als das Individuum von Anfang an, schon vor der Geburt und ein Leben lang, durch permanente Anrufungen, etwa gemäß seinem Geschlecht und sozialen Status, als Subjekt konstituiert werde. Entlang der „ideologischen Ordnung“ lerne das Subjekt, sich (vermeintlich) korrekt zu verhalten und die Fremd- wie Selbstanrufung beispielsweise als Mädchen oder Junge zu beherrschen. Diese Anrufungen seien elementar für die gesellschaftliche Reproduktion wie Produktion und würden seit der „Frühen Neuzeit“ von Institutionen und Wissenschaften geprägt und dominiert, die von bestimmten Konzepten des Kindes und der Kindheit ausgingen und auf sie Bezug nähmen. Da die ideologische Ordnung schon vor dem einzelnen Subjekt existiere, sei das Verhältnis zwischen Anrufenden und Angerufenen asymmetrischer Natur. Gleichzeitig handele es sich bei der Anrufung um ein „relationales und reziprokes Geschehen“ (S. 30), denn nicht nur das angerufene Kind, sondern auch die anrufenden Eltern und professionellen Erzieher:innen würden durch das Geschehen als Subjekte konstituiert.
Die von Burmeister betriebene „relational-historische Soziologie des Problems Kind“ soll nun, orientiert an Begriffen von Foucault und Gilles Deleuze, das theoretische Instrument verfeinern, um die bislang nur skizzenhaft dargelegte historische Analyse zu konkretisieren. Relational ist die Analyse, weil sie davon ausgeht, dass es keine „fundamentalen Phänomene“ gebe, sondern „nur reziproke Beziehungen und ständige Verschiebungen zwischen ihnen“ (S. 111). Das Beziehungsgefüge mit seinen heterogenen Praktiken werde als „Dispositiv“ zusammengefasst und bestimme entlang der „drei Achsen Wahrheit, Macht und Selbstverhältnisse“ (S. 105) maßgeblich Kind und Kindheit. Da es, wie Burmeister ausführt, nicht das „eine“ Dispositiv gebe, sei es für die Analyse sinnvoll, eine „mehrdimensionale Karte“ (Deleuze) zu erstellen, die verschiedene „Auflösungen“ und „Zugänge“ haben kann (S. 107 und 236). Oder anders formuliert: Zu schreiben wäre ein virtuelles Handbuch, das experimentell aufzeigt und anleitet, wie das Problem Kind durch die Gesellschaft semantisch und strukturell vielfältig entfaltet wird und werden könnte. Historisch ist die Analyse, weil sie eine empirische Begründung für den Umstand zum Ziel hat, dass „seit Beginn der Frühen Neuzeit die von Kind und Kindheit ausgehenden und auf sie verweisenden Wahrheitsspiele, Machtbeziehungen und Selbstverständnisse funktional dominant sind für trans-/formierende, re-/produktive Subjektivierungsweisen soziokultureller Ordnungen der westlichen Moderne“ (S. 111). Das „Wegbrechen transzendentaler Gewissheiten und das Auftauchen der generationalen Kategorie Kindheit im Laufe der Frühen Neuzeit“ (S. 111) sowie das „Kontingenzbewusstsein“ als ein wesentliches Merkmal der Moderne veränderten die kindliche Erziehung. Erziehung werde ausgerichtet auf eine kontingente und offene Zukunft, begleitet durch „klassen- und milieuspezifische Erwartungsaffekte der Angst und Hoffnung“ (S. 112).
Dem „Dispositiv Kindheit“ widmen sich die weiteren zwei Kapitel mit einer historisch-empirischen Analyse. Anhand von Émile, dem pädagogischen Hauptwerk Jean-Jacques Rousseaus, sowie der Rolle von Kindheit, Familie und Moderne im Werk Foucaults untersucht Burmeister, wie im Laufe der Zeit bis zur Moderne ausgehend vom Problem Kind ein von Hoffnung und Angst geprägtes „Beziehungsgeflecht“ aus Kind, elterlicher Praxis, öffentlichen wie privaten Expert:innen und Institutionen geknüpft, gestaltet und verändert wird, und dadurch „eine Vielzahl von für moderne Gesellschaften typischen Ordnungen von Subjekten, Generationen, Geschlechtern und Klassen anleitet“ (S. 112). Der Band schließt mit zwei Kapiteln zu konzeptionellen Ideen zur Entwicklung des Kindes in der (Spät-)Moderne.
Burmeister fasst das Ergebnis seiner historisch-empirischen Analyse folgendermaßen zusammen: Das Entstehen des Problems Kind und die Praktiken moderner Subjektivierung als Individuum und Kind folgten bis in das 18. Jahrhundert hinein „natürlich-sittlichen Normen“. Später, im Zuge einer umfassenden Verwissenschaftlichung, folgten sie statistisch begründeten Normalitäten und seit den 1970er-Jahren einem sich ausbreitenden Entwicklungskonzept individualisierter und eigenverantwortlich wahrzunehmender emotionaler „Potenziale“. In der Gegenwart sei es sogar zu einer Koexistenz und Verschränkung dieser drei Konzeptionen gekommen. Über den Verlauf der Zeit betrachtet sei das Ziel der jeweiligen Entwicklungskonzepte stets die „Führung der Selbstführung“ des Kindes geblieben, jedoch unterscheide sich die Form der Subjektivierung: Bei Rousseau sei sie „republikanisch“ gewesen, in der „Spätmoderne“ hingegen „(neoliberal) marktförmig“ (S. 164). In der Gegenwart nun stelle sich die individualisierte und eigenverantwortlich auszuübende emotionale Kompetenz sowohl als „Schlüssel zum gesellschaftlichen Erfolg als auch [als] Quelle sozialer Devianz und individueller Pathologie“ (S. 284) dar. Durch zentrale prüfende Praktiken, insbesondere mittels der „Psy-Funktion“[1] (Psychoanalyse, Psychologie, Psychotherapie) und der Psychologisierung von Individuum und Gesellschaft, sei ein historisch vergleichsweise schmaler „Korridor von Seinsweisen“ entstanden, in dem Kinder und Erwachsene gleichermaßen „kontrolliert-emotionale Kompetenzmaschinen“ (S. 279) sein sollen, in dem Kinder „(arbeitsmarktfähig) zu individualisieren“ (S. 284) seien.
Die Studie schließt sich selbst der Soziologie der Kindheit und den Thesen einer generationalen Ordnung an. Sie trägt zur Theorie der Moderne und Subjektivierung bei; verdienstvoll sind die Anknüpfungen des Subjektes Kind an die Figur der Anrufung und das Aufdecken der bislang verkannten Bedeutung, die Foucault dem Problem Kind als Ausgangspunkt und wesentlichem Element bei der Herstellung und Gestaltung sozialer Ordnung bis zur Moderne beimisst. Trotz derartig interessanter theoretischer Erkenntnisse schöpft Burmeister mit seiner gut gegliederten und lesbaren Studie die komplexeren Möglichkeiten soziologischer Theorie nicht aus.
- Die Arbeit erweckt den problematischen Eindruck einer trivialen Einheitlichkeit und Einseitigkeit „herrschender Wahrheitsspiele und Machttechniken“ sowie im Konditionierungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft. Denn ein durch Marktförmigkeit und in sozialer Autonomie eindimensionales Subjekt als Kind lässt sich auf theoretischer Ebene kaum mit einer modernen, das heißt funktional eigensinnig differenzierten Gesellschaft in Einklang bringen. In einer derart strukturierten Gesellschaft lässt sich eben nicht alles aus einem Prinzip von zentral prüfenden Praktiken ableiten. Sind nicht gerade Multiperspektivität und damit Mehrdimensionalität der Inklusion des Individuums als Person und Kind ein zentrales Problem moderner Gesellschaften im Verhältnis zum Individuum? Anzugehen wäre hier etwa die bislang unbeantwortet gebliebene Frage danach, wie sich die volatilen eigensinnigen Effekte einer marktwirtschaftlich strukturierten Ökonomie mit der Herstellung von Kontinuität im individuellen Lebenslauf verknüpfen ließen. Politische Diskussionen und Entscheidungen zum ökonomischen Programm wären angerufen, aber die ökonomischen Veränderungen wären funktional nur mit Mitteln der ökonomischen Logik zu erreichen.
- Burmeister kommt zu dem Schluss, dass die Kind/Erwachsenen-Differenz „essenziell“ sei und gleichsam durch ein und dieselben anleitenden „Technologien“ (S. 279) „brüchig“ und „perpetuiert“ werde (S. 280). Die Differenz wird zwar beobachtet, aber nicht hinterfragt. Auch wird an keiner Stelle der Arbeit definiert, was als Kind und Erwachsener gilt, welche physischen, psychischen und sozialen Merkmale die Seiten der Unterscheidung bezeichnen. Folglich bleiben entscheidende Fragen offen: Was ist ein Kind? Und – noch interessanter – wie ist ein Kind kein Kind mehr? Was bliebe übrig von der Unterscheidung, zöge man das chronologische Alter ab und verfiele nicht einem naiven Naturalismus?
- Gleichzeitig ist zu fragen, an welchen Stellen in der Gesellschaft sich die funktionalen Operationen und Strukturen „essenziell“ an einer „Differenz zwischen Kind und Erwachsenen, zwischen Kindheit und Erwachsenheit“ (S. 153) ausrichten? Woran orientiert sich die Gesellschaft primär, wenn das Parlament kollektiv bindende Entscheidungen trifft, wenn Gerichte über Recht und Unrecht urteilen, wenn Unternehmen Zahlungen und Nichtzahlungen tätigen, woran orientiert sich die „Psy-Funktion“, wenn sie Erziehung und Therapien vermittelt? Selbst in Familien mit ihren oft höchstpersönlichen Beziehungen ist zu fragen, ob sich die innerfamiliale Kommunikation tatsächlich primär an der Unterscheidung zwischen Kind(ern) und Erwachsenen orientiert. Gewiss spielen diese Unterscheidung und das Problem Kind in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, auch in der Wissenschaft, etwa in einer Soziologie der Kindheit, eine alltägliche Rolle, aber woran orientiert man sich dort vornehmlich?
So hätte der Rezensent gern präziser gewusst, wie sich das Problem Kind sozial ordnet. Womöglich wäre es eher der Erkenntnis einer – wie es im Untertitel heißt – „Genealogie moderner Subjektivierung“ als Kind dienlich gewesen, sich der von Hegel in der Phänomenologie des Geistes bereits angelegten und in Anlehnung daran von Niklas Luhmann getroffenen Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft anzunehmen, also der Unterscheidung des Kindes als psychischem System auf der einen Seite und auf der anderen als Person und Adressat für Kommunikation, adressiert vom Kind selbst und von anderen jeweils Eigensinnigen.[2] Kurzum: Gegenstand einer solchen soziologischen Beobachtung wäre nicht die Psyche des Kindes, nicht seine Gefühle und Gedanken, sondern ihre sozialen Erscheinungen, also die Inklusion des Kindes als Person, wie es von Geburt an seine Interessen mitteilt und wie verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft vermeintliche Interessen des Kindes beobachten, wie sie es schon vor seiner Geburt in ihren Logiken und Programmen berücksichtigen, Forderungen an das Kind sowie Ansprüche des Kindes formulieren und dafür eigene Strukturen gestalten.
Fußnoten
- Der Begriff ist nicht eindeutig und beschreibt wohl das, was man als Pädagogisierung und Psychologisierung von Kind und Eltern durch die entsprechenden Beratungssysteme in Gesundheit und Erziehung bezeichnen könnte.
- Zum Beispiel bei Pirmin Stekeler, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Band 1 und 2, Hamburg 2014 und Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 3, Frankfurt am Main 1989, S. 149–258.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Bildung / Erziehung Familie / Jugend / Alter Gesellschaft Macht Moderne / Postmoderne Normen / Regeln / Konventionen Philosophie Politische Ökonomie Psychologie / Psychoanalyse Systemtheorie / Soziale Systeme Wissenschaft
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