Cornelia Schadler | Rezension | 13.06.2023
Das Leben nach der Familie
Rezension zu „Die Familie abschaffen. Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden” von Sophie Lewis

Sophie Lewis hat schon mit ihrem 2019 erschienenen Buch Full Surrogacy Now viel Aufmerksamkeit in der queer-feministischen Debatte rund um solidarische Wege der Reproduktion erhalten. Dort schlug sie eine vergemeinschaftete Form der Reproduktion vor, die die Kernfamilie als Ort der Erziehung und Carearbeit zu überwinden sucht. Lewis‘ hier zu besprechendes Nachfolgewerk Die Familie abschaffen erzählt nun die theoretische und diskursive Geschichte, die Full Surrogacy Now zugrunde liegt. Es beschäftigt sich ganz konkret mit der Ideologie der patriarchal-kapitalistisch geprägten Kernfamilie.
Für alle, die mit der Debatte rund um Familien-Abolitionismus nicht vertraut sind, mag die Abschaffung der Familie eine (zu) radikale Forderung darstellen. Daher räumt gleich das erste Kapitel von Lewis‘ Buch mit Vorurteilen auf, etwa damit dass Familien-Abolitionismus zwangsläufig mit der Trennung von Familienmitgliedern oder mit anderen ähnlich gewaltvollen Prozessen verbunden ist. Doch es geht mitnichten darum, bestehende gute familiale Bindungen und Beziehungen der Menschen zueinander aufzulösen, vielmehr sollen die durch die Ideologie der Kernfamilie alltäglich (re-)produzierten Probleme und die damit verbundene Gewalt thematisiert werden, um Wege zu finden, dem ein Ende zu setzen. Klarer wird die Forderung Familie abzuschaffen in Kapitel 2, in dem expliziert wird, dass eine ganz bestimmte Familienideologie abgeschafft werden soll, nämlich die der weißen christlich geprägten und heterosexuellen Kernfamilie, bestehend aus zwei cisgeschlechtlichen Eltern mit traditioneller Rollen- und Arbeitsteilung sowie deren Kindern. In dieser klassischen Konstellation sorgen die Eltern für die Kinder und erziehen sie zu funktionierenden Erwachsenen. Das Konzept ist historisch betrachtet relativ jung, an allen Orten der Welt im realen Leben unerreicht, und dennoch oder gerade deswegen, ständiger Dreh- und Angelpunkt patriarchaler, rassistischer und kolonialisierender Prozesse. Weil dieses Konzept als eines betrachtet wird, das Menschen regulieren und ihre Reproduktion kontrollieren soll, richten sich emanzipatorische Diskurse und Bewegungen stets gegen diese Ideologie und entwerfen neue Utopien, sie müssen zwangsläufig „die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es gerade die Familie ist, die unrealistisch und utopisch ist.“ (S. 29).
Die „Familie abschaffen“ – das ist bei Weitem keine neue Idee. Vielmehr ruft Lewis‘ aktuelles Buch die vielen (insbesondere in der anglo-amerikanischen Debatte relevanten) Kontexte auf, in denen diese Forderung bereits formuliert worden ist; das dritte Kapitel enthält eine kurze Geschichte des Familien-Abolitionismus, die für Lewis schon auf Sokrates zurückgeht, jedoch mit den sozialistischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts erst wirklich beginnt. Ab diesem Zeitpunkt formiert sich eine klare patriarchale vom Kapitalismus hervorgebrachte Ideologie der Kernfamilie als Ort der Reproduktion von Arbeitskraft. Der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier stellt in Lewis‘ Werk eine immer wiederkehrende wichtige Bezugsfigur dar, mit der sich sowohl Alternativvorstellungen als auch -praktiken von Beziehungen verbinden. Leser:innen bekommen hier einen Einblick in wohlhabende sozialistische Kreise Europas, die freie Liebe und gemeinschaftliche Erziehung propagierten und diese dank ihres Status auch leben konnten. Lewis hebt Fouriers utopische Ideen für eine post-kapitalistische Gesellschaft hervor, die kein Privateigentum kennt und in der Menschen in Phalanxen zusammenleben, wo Sexualität und Erziehung in Gruppen organisiert sind. Lewis sieht Fouriers Utopien mit McKenzie Wark als proto-queere Theorie. In der weiteren Diskussion der Wurzeln des Familien-Abolitionismus streift Lewis auch Marx und Engels sowie die Frauenrechtlerin Alexandra Kollantai. Die marxistisch-sozialistischen Grundlagen des Familien-Abolitionismus werden in leicht verdaulichen Unterkapiteln dargelegt, die zwar kaum in die Tiefe gehen, gleichzeitig aber zur weiteren Lektüre anregen. Darüber hinaus enthält das Kapitel eine Einführung in den anti-kolonialistischen Strang der Debatte, die Leser:innen eine grobe Orientierung hinsichtlich der entscheidenden Anfangs- und Anknüpfungspunkte für die weitere Auseinandersetzung gibt. Lewis zeichnet nach, wie primär die Kolonialisierung Amerikas indigene polyamore, geschlechteregalitäre und nicht-binäre Kulturen zerstört habe. Die Verbindung von Kapitalismus/Privateigentum und der Ideologie der Kernfamilie könne nach Ansicht der Autorin in der Diskussion über Kolonialisierungsprozesse deutlicher herausgearbeitet werden als bislang in europäischen Debatten geschehen, wo feudale Strukturen auch patriarchal funktionierten. Zudem arbeitet die Lewis die Gewaltförmigkeit der Familienideologie heraus, die Kolonialisierte im Ringen um Zugehörigkeit und den Zugang zu Ressourcen übernehmen mussten – ein Umstand, der zugleich Utopien im Keim erstickt.
In ihrer „kurzen Geschichte des Familien-Abolitionismus“ (S. 52–99) thematisiert Lewis auch die amerikanische Lesben- und Schwulenbewegung des 20. Jahrhunderts und ordnet darüber hinaus die Forderungen nach Lohnzahlungen für heute noch immer unentgeltlich verrichtete Hausarbeit historisch ein. Gerade Letzteres bezieht die Autorin stark auf das amerikanische Wohlfahrtssystem, was für die Leser:innen aus dem deutschsprachigen Raum weniger Bezugspunkte bieten mag, wo die Debatte in anderen Bahnen verlief. Interessant ist, dass Lewis für den Zeitraum von 1985 bis 2015 eine Pause in der Debatte um Familien-Abolitionismus ausmacht – eine Beobachtung, die ich nicht nachvollziehen kann, blendet sie damit doch alle Diskussionen rund um Queer Kinship und Chosen Family aus, die sich in dieser Zeit intensiv mit der Frage beschäftigt haben, wie Gemeinschaft und Solidarität ohne Konzepte von Familie gelebt werden kann.[1] Das Unterkapitel Trans Marxismus des 21. Jahrhunderts enthält (neben dem Abschnitt zu weiterführender Literatur ab S. 123) insbesondere auch zahlreiche Hinweise auf eine Reihe von Literatur der Amerikanischen Debatte seit 2015, die Lewis‘ Buch vermutlich grundsätzlich geprägt haben (S. 96 ff.).
Kapitel vier (S. 100 ff.) widmet sich den Prozessen der letzten, stark von der Pandemie geprägten Jahre. Die Pandemie sowie die damit einhergehenden Maßnahmen zur Eindämmung von Infektionen habe die Ideologie der Familie (etwa in Form von Besuchsrechten während des Lockdowns) und gleichzeitig die Verbindung von Familie und Wohnen/Privateigentum hervorgehoben. Diesen Umstand macht Lewis auch am inflationären Gebrauch des Wortes Familie fest, wenn damit in Wahrheit Firmenangestellte bezeichnet werden oder es um die Inklusion von Communities oder Tieren geht. Lewis möchte einen neuen Begriff für solidarische Gemeinschaften finden und stößt in McKenzie Warks Essay „Make Kith, not Kin!“ (mit Bezug auf Haraways „Make kin, not babies“) auf vielversprechende Möglichkeiten. Mit „Kith“ ist eine bekannte Person etwa aus der Nachbarschaft gemeint, die klar von verwandten Personen abzugrenzen ist. Solidarität und Care in Kith-Beziehungen zu organisieren wäre Lewis‘ Alternative zu (biologisch-rechtlich anerkannten) Verwandtschafts- und Familienbeziehungen. Hier tritt das zentrale „Problem“ des Buches zutage, dass nämlich unterschiedliche zeitgemäße Utopieentwürfe von anti-kapitalistischen queeren solidarischen Gemeinschaften fehlen, weil sie schwer zu entwickeln sind, während gleichzeitig das Bedürfnis nach alternativen Lebensweisen allgegenwärtig und stetig zuzunehmen scheint. Für Lewis steht jedenfalls fest, dass der Weg zu einer solidarischen Lebensweise in queeren Gemeinschaften, die sich des Kapitalismus entledigt haben, zwingend über die Abschaffung der Ideologie der Familie zu führen hat.
Das Buch eignet sich sehr gut zur Einführung in die (anglo-amerikanischen) Debatten rund um Familien-Abolitionismus und ist auch Leser:innen außerhalb der Sozialwissenschaften zu empfehlen. Im Grunde folgt der Band aber einer Figur, die sich in vielen familien-abolitionistischen Diskursen wiederfindet: der Stabilitätshypothese[2]. Diese besagt, dass der Familie als Keimzelle der kapitalistischen Gesellschaft auch die Funktion zukommt, diese zu stabilisieren und zu strukturieren. Lewis‘ Nacherzählungen kolonialer Prozesse ordnen die Familie in kapitalistischen Gesellschaften auch in diesem Sinne ein. Im Umkehrschluss lässt sich aus der Stabilitätshypothese folgern, dass die Abschaffung der Familie zwangsläufig auch eine neue Form von Gesellschaft mit sich brächte, in der Ungleichheitslinien womöglich anders verliefen und Ressourcen neu verteilt würden. Was aber wenn dennoch alles beim Alten bliebe? Das ist nicht unwahrscheinlich, schließlich haben wir in den vergangenen Jahrzehnten in der Diskussion zur Gleichstellung von Geschlechtern, gleichgeschlechtlichen Beziehungen und Nicht-Monogamie Prozesse kennengelernt, die gezeigt haben, wie der Kapitalismus neue Formen der Gemeinschaft gut integrieren kann. Mit anderen Worten: Die Abschaffung der Familie könnte auch in neue kapitalistisch geprägte Organisationsformen privaten Lebens münden. Die Förderung und Unterstützung von Kith-Beziehungen bliebe trotzdem wichtig.
Das Denken entlang der Stabilitätshypothese folgt meiner Ansicht nach häufig zu einfachen Schemata, unter dem Motto „Befreiung von Familie = Befreiung von allen Ungleichheiten“, die stellenweise auch in diesem sehr lesenswerten Buch eine Rolle spielen. Zu wenig beachtet werden dabei aber komplexe Verbindungen von Familie und Kith, die aus verschiedensten Beziehungen bestehen können, auf der einen Seite und sich ständig etablierende Gemeinschaften, die die Ideologie der Kernfamilie unterminieren, auf der anderen. Doch das Leben nach der (Überwindung der Ideologie der) Familie hat für einige längst begonnen. Die Frage wäre eher, was wir tun können, um diese Gemeinschaften zu unterstützen und ihnen die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen, um sich weiter zu entwickeln und anderen potenziell als Vorbild dienen zu können.
Fußnoten
- Exemplarisch etwa Sasha Roseneil / Shelley Budgeon, Cultures of Intimacy and Care beyond ‚the Family’: Personal Life and Social Change in the Early 21st Century, in: Current Sociology 52 (2004), 2, S. 135–59; Deric Shannon / Abbey Willis, Theoretical Polyamory: Some Thoughts on Loving, Thinking, and Queering Anarchism, in: Sexualities 13 (2010), 4, S. 433–43; Kath Weston, Families We Choose: Lesbians, Gays, Kinship, New York 1991.
- Michel Raab and Cornelia Schadler (Hg.), Polyfantastisch? Nichtmonogamie Als Emanzipatorische Praxis, Münster 2020.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Arbeit / Industrie Bildung / Erziehung Care Diversity Familie / Jugend / Alter Feminismus Gender Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kapitalismus / Postkapitalismus Lebensformen Queer
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