Robert Seyfert | Rezension | 11.09.2017
Das pastorale Selbst
Ulrich Bröckling über Menschenregierungskünste

In gewisser Weise stellt das neue Buch von Ulrich Bröckling – Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste – eine direkte Weiterführung seiner 2007 erschienenen Studie Das unternehmerische Selbst dar. Auch wenn es sich um eine Sammlung von teilweise zeitgleich oder früher publizierten Aufsätzen handelt, beschreibt es doch die Konsequenz und Weiterführung dieser Institutionalisierungsprozesse unserer Gegenwartsgesellschaft. Vereinfacht gesagt kann das unternehmerische Selbst als ein gesellschaftspolitisches Handlungsprogramm verstanden werden, durch das Individuen[1] dazu gebracht werden sollen, ihr Leben möglichst selbstständig und allumfassend marktförmig zu gestalten. In Gute Hirten führen sanft zeigt Bröckling, dass die „Stärkung von Selbststeuerungspotenzialen“ auf gesellschaftspolitischen Lenkungsmaßnahmen beruht, die dezidiert auf die Ausnutzung beziehungsweise sogar Inszenierung sozialer und individueller Krisen abzielen (S. 9).
Diese Anleitung zur Selbstlenkung stellt nicht allein darauf ab, erhöhte Widerstandsfähigkeit auszubilden, sondern vielmehr darauf, eine Krisentoleranz zu entwickeln, die gerade unvorhersehbare und unausdenkbare Krisen imaginär vorwegnimmt und sich darauf einstellt. Es geht dabei um das Einüben eines rationalen Verhaltens vor allem für derlei Situationen, in denen niemand rational zu handeln fähig ist: „die Fähigkeit trainieren, sich auf nicht prognostizierbare, unter Umständen katastrophische Ereignisse einzustellen“ (S. 18). Jederzeit auf ein fiktiv-futuristisches Risiko eingestellt zu sein, ist Teil der Institutionalisierung einer Menschenform, die den Umgang mit nichtvorhersehbaren Ereignissen wie Umweltkatastrophen und terroristischen Anschlägen erlernen soll, um ihnen dann mit ruhigem Atem entgegentreten zu können: „Statt Gipfel zu stürmen, übt man das Abseilen“ (S. 123).
Das ist nicht mehr das existenzialistische Zeitalter des Sisyphos, in dem sowohl Gegenstand der Arbeit als auch die Art des Scheiterns immer schon bekannt sind, und indem man gelernt hat, damit glücklich zu sein. Es ist die Zeit der „unberechenbaren unknown unknowns der precautionists“ (S. 106). Zur Hervorrufung einer solch prekären Zeit und zur Stärkung unserer Selbststeuerungsfähigkeit hat sie uns mit dem sorgenden Hirten eine Figur der pastoralen Macht an die Seite gestellt.
Der Band von Bröckling erweist sich als eine Art Hirten-Kaleidoskop und die Figur des Hirten, der selbstverständlich immer auch eine Hirtin sein kann, taucht mit seinen Empfehlungen und seiner Besorgnis in ganz verschiedenen Formen auf: als abstrakter Prozess staatlicher Verwaltung, als verhaltensökonomisches Programm der Wirtschaftswissenschaften, als gesundheits- und sicherheitspolitische Empfehlung, als staatlicher ‚Anreiz‘ zur Selbstvorsorge, als Mentoring und Coaching für gelingende Kommunikation et cetera.
Menschenregierungskünste und Gouvernementalität
Wie sich mit dem Begriff der Pastoralmacht bereits angedeutet hat, bewegt sich die von Bröckling entwickelte Soziologie der Menschenregierungskünste auf der Fluchtlinie der von Michel Foucault entwickelten Gouvernementalitätstheorie. Für Foucault vollzieht sich das Regieren von Menschen nicht durch einen administrativen Apparat (den Staat), sondern durch eine breitflächige gesellschaftspolitische Justierung des Denkens und Handelns von Individuen. Diese Beeinflussung zielt nicht nur auf Wahlkampfreden und -versprechen, sie umfasst genauso die Erziehung und Ausbildung wie die Gesundheits- und Altersvorsorge. Menschenregierungskünste operieren dabei immer auf zwei Ebenen zugleich: Zum einen wird der Mensch als statistisches Element einer Bevölkerung mithilfe biopolitischer Maßnahmen hervorgebracht und gehütet. Hier wird der Mensch über abstrakte Aspekte wie Alter, Nationalität, Geschlecht, Einkommen et cetera definiert. Zum anderen ist der Mensch als individuelle Subjektform auch konkretes Individuum, dessen intrinsische Motivation zur Teilnahme am gesellschaftlichen Spiel (ohne Zwang) hervorgebracht werden muss. Es handelt sich dabei um die besondere Art des persönlichen Selbstverständnisses: Man identifiziert sich über die Arbeit, den Körper, die Sexualität, den Geist und so weiter. Dabei sind beide Formen als Elemente einer spezifischen gesellschaftspolitischen Problemlösung miteinander verschränkt, zum Beispiel im Sexualdispositiv, das die gezielte Lenkung des Bevölkerungswachstums fokussiert, aber zugleich über individuelle sexuelle Konditionierung geregelt ist. Moderne Gesellschaften regulieren ihr Bevölkerungswachstum dann nicht über Zwang und Verbote (wie beispielsweise die Ein-Kind-Regel), sondern subtil über Erziehung, Gesundheits- und moralische Empfehlungen, Vorstellungen eines erfüllten Lebens et cetera. Beim Sexualdispositiv handelt es sich um einen komplexen Zusammenhang, zu dem Masturbationsverbot und historische Pathologisierung der weiblichen Sexualität (Hysterie) genauso zählen wie gesellschaftliche Zwangsheterosexualität. Eine solche Machttechnik verzichtet also auf offene Machtausübung. Stattdessen setzt sie auf eine „Führung ohne Führer“, auf reine „Selbstorganisation“ (S. 18). Die Einflussnahme in einer solchen Gesellschaft setzt konstitutiv die „Bereitschaft der Geführten [voraus], sich führen zu lassen“ (S. 22). Da solche Gesellschaften ohne Zwang operieren, müssen sie den Menschen auf eine bestimmte Weise formen beziehungsweise einen bestimmten Menschentypus hervorbringen: einen Menschen nämlich, der Lust hat mitzuspielen, mehr noch: einen, der dieses Spiel sogar als eigene Freiheit empfindet. Solche Gesellschaften brauchen also eine eigene Anthropologie.
Anthropologie und Soziologie der Menschenregierungskünste
Die Soziologie der Menschenregierungskünste untersucht keine tatsächlichen anthropologischen Befunde, sondern fragt vielmehr, „auf welche Weise die Menschen zu dem gemacht werden und sich selbst zu dem machen, was ihnen als anthropologische Eigenschaften zugemutet und zugetraut wird“ (S. 55). Der empirische Fokus liegt insofern nicht auf Befunden und Analysen der menschlichen Natur, sondern auf der Analyse der „Bauanleitungen für professionelle Anthropotechniker und Heimwerker des eigenen Selbst“ (S. 56). Dabei handelt es sich nicht um gezielte, direkte und konkrete Beeinflussungen oder Aufforderungen an uns. Vielmehr sind es subtile Prozesse, „die bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher machen (sollen) als andere“ (S. 60). Für solche Beeinflussungen sind Krisen insofern besonders gut geeignet, als dass sie gleichsam auf ein widerstandsloses Subjekt treffen.
Dabei enthält sich die Soziologie der Menschenregierungskünste jeder positiven Bestimmung der menschlichen Natur und sympathisiert eher mit der negativen Anthropologie Adornos. Sie ist analytisch negativ, weil sie sich expliziter (positiver) Wesensaussagen über den Menschen entzieht. Der Mensch ist in seiner aktuellen Verfassung immer eine historische Formation, ein diskursives Ergebnis innerhalb bestimmter Wissensformationen. Darüber hinaus ist eine solche Anthropologie „nihilistisch“ hinsichtlich der Art moralischer Aussagen, die beispielsweise der Humanismus tätigt (S. 58). Zugleich ist dieser methodische Negativismus nicht mit Dekonstruktivismus zu verwechseln. Es geht nicht allein um die historische und kulturelle Relativierung aller Menschenmöglichkeiten, sondern um das Aufzeigen von Konsequenzen, die die aktuell angestrebten Menschenformen für uns haben (ebd.). In diesem Sinne kann die Soziologie der Menschenregierungskünste die Effektivität impliziter Anthropologien aufzeigen, kann sie beispielsweise aufdecken, dass die scheinbar rein heuristischen Annahmen der Rational Choice Theorie performative Effekte haben: Letztere operationalisiert menschliche Akteure nicht nur als Nutzenoptimierer, sondern bringt sie zugleich auch als solche hervor. Sie hat ein Menschenbild, das zu übernehmen jedem nahe gelegt wird, den diese Theorie konzeptionell (explizit oder implizit) überzeugt (S. 59). Die Rational Choice Theorie ist also ein Aspekt der Regierung des Menschen, der aktuellen Menschregierungskünste, sie ist Teil ihrer Anthropologie. Gleichsam bildet sie ein gesellschaftspolitisches Element in der Aufforderung an die Individuen, doch bitte marktförmig zu handeln.
Jedoch ist die Negativität der Anthropologie in Bröcklings Studie doppelt konnotiert. Hier offenbart sich auch die anthropologische Schlagseite der Gouvernementalitätstheorie. Diese Anthropologie ist nicht nur im analytischen Sinn negativ, sondern auch auf konstitutiver Ebene. Die jeweilige Menschenform wird nicht im Sinne Durkheims als das Ergebnis solidarischer und kreativer (positiver) Leistungen angesehen, die gerade darin bestehen, Konflikten weitestgehend aus dem Weg zu gehen (zum Beispiel durch Arbeitsteilung). Vielmehr versteht sie diese, in einer an Hobbes anschließenden Tradition als das Produkt konflikthafter Auseinandersetzungen. Die jeweilige historisch-diskursive Verfassung des Menschen ist umkämpft, sie ist das Ergebnis der antagonistischen und hegemonialen Durchsetzung eines spezifischen Menschenbildes. Folglich ist die Soziologie der Menschenregierungskünste genuin eine „Kriegswissenschaft“ (S. 61).
Dispositive
Gute Hirten führen sanft arbeitet sich durch verschiedene Phänomene der Lenkung zur Selbstlenkung der beziehungsweise des Menschen, die mit Foucaults Konzept der Dispositive erschlossen werden. Dispositive sind Arten von Gefügen, die sich aus Problemdefinitionen, den daraus entwickelten Lösungsansätzen (Rationalitäten), Verfahren der Verhaltenslenkung (Technologien) und Versuchen der Justierung der Persönlichkeit (Subjektivierungsweisen) zusammensetzen (S. 9 f.). So stellt für Foucault das bereits angesprochene Sexualdispositiv die Lösung des Bevölkerungswachstums im 18. und 19. Jahrhundert dar. Die spezifische Subjektivierung des Individuums besteht hier darin, die Wahrheit des eigenen Ichs nicht mehr in transzendenten Wahrheiten oder spiritualistischen Praktiken zu suchen, sondern im eigenen Körper: Der Weg zur Wahrheit des Selbst führt über die Sexualität, und die Vorstellung der Befreiung der Sexualität ist das teleologische movens des eigenen Lebens. In Bröcklings Studie beziehen sich solche Dispositive auf Fragen der gesellschaftlichen Vorsorge (Prävention) genauso wie auf die vorwegnehmende Bewältigung von Krisen (Resilienz), das vorausschauende Einüben des Umgangs mit Konflikten (Mediation), das verhaltensökonomische Abfangen von strukturellen Kontrollverlusten (nudging) sowie die wechselseitig kontrollierte Selbstjustierung anhand beständiger Selbst- und Fremdbewertungsprozesse (Feedback) et cetera.
Prävention
Die Lenkung zukünftigen Verhaltens zeigt sich besonders deutlich im Aufstieg des Dispositivs der Prävention. Historisch löst Prävention die Hygiene als Leitdispositiv der Gesellschaft ab. Im Gegensatz zur Hygiene, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts das zentrale Instrument der gesellschaftlichen Lenkung darstellte, zielen gesellschaftspolitische Lenkungsmaßnahmen heute nicht mehr allein auf die Vermeidung und Auslöschung von Risiken (Ansteckung), sondern auf deren beständiges und flexibles Management. Während die Hygienebewegung die Beherrschung der Ausnahme trainiert (zum Beispiel durch Quarantänemaßnahmen zur Vermeidung von Ansteckung), wird im Zeitalter der Prävention die Ausnahme zur Regel. Hier wird vom Umgang mit außerordentlichen Ereignissen auf die beständige Inanspruchnahme der Subjekte umgestellt: „Vorbeugen kann man nie genug und nie früh genug“ (S. 80). Von großen Ausnahmesituationen wie der Pest – die kommt und wieder geht – wird auf eine latente Bedrohung umgestellt, auf das kontinuierliche An- und Abschwellen von Risiken, die vom Individuum nicht nur einen flexiblen Umgang erfordern, sondern – was viel wichtiger ist – permanente und vorausschauende „Selbstadjustierung“ voraussetzen (S. 99). Eine solch flexible Justierung des eigenen Verhaltens wird besonders im Hinblick auf unbestimmte Gefahren und diffuse Risiken thematisiert. Hier sind Zukunftsprognosen besonders hilfreich, weil man sie beständig von ihren Extremwerten her denken und beobachten kann: Rauchen ist immer schon Lungenkrebs, Umweltprobleme sind immer schon Umweltkatastrophen, Kernkraftwerke immer schon nukleare Bedrohungen und so weiter. Mit dem Auftauchen dieses neuen Regimes der precaution breite sich auch ein allgemeiner Negativismus aus. Im Gegensatz zur Hygiene, die den Feind genau kennt, richtet sich die neue Prävention gegen einen Feind, von dem man so gut wie nichts weiß, was dazu führt, immer mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen (S. 107). Ein solch besorgt-negativistischer Zukunftsblick ruft „entfesselte Präventionen“ (S. 105) hervor, mit denen sich alle (un)denkbaren gesellschaftspolitischen Maßnahmen – von der Terrorbekämpfung bis zur Gesundheitsvorsorge – legitimieren lassen. Diese Umstellung findet sich personifiziert in der Figur des terroristischen Schläfers, der von außen nicht zu erkennen ist und auf den man immer vorbereitet sein muss. Durch die mediale Popularisierung dieser Figur wird eine abstrakte und allumfassende gesellschaftspolitische Umstellung legitimiert, in der der Terrorismus nur willkommenes Phänomen ist. Vor dem Hintergrund einer „vorweggenommenen Katastrophe“ werden ein „entgrenzter Exzeptionalismus“ und eine autoritäre Politik installiert (S. 108). Letztere operiert mit Verweis auf mögliche negative Konsequenzen zukünftiger Entwicklungen mit antizipierenden Interventionen, zum Beispiel als Ethik des Unterlassens in Umweltfragen (Nuklearenergie) oder, seit dem Zweiten Irakkrieg, als präemptive Intervention im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ (S. 103 ff.). Ein solches Regime aktiviert die Individuen affektiv mit Schock-Doktrinen, durch die das Subjekt jede Krise immer als potentiell eigene imaginiert: Das hätte auch mich treffen können! Eine derartige Internalisierung abstrakter Gefahren erzeugt eine traumatisierte Subjektivität, die umso empfänglicher für jeglichen Aktionismus derjenigen macht, die ‚endlich mal etwas tun‘.
Resilienz
Resilienz stellt gewissermaßen das defensive Pendant zur Prävention dar: von der aktivistischen Bereitschaft, abstrakte Krisen zu verhindern, zur allgemeinen Bereitschaft, Krisen jeder Art jederzeit besser zu bewältigen (S. 115 f.). Es handelt sich um die paradoxe Lernzumutung an das Subjekt, „Nichterwartbares erwarten können“ zu müssen (S. 115). Statt die stressinduzierenden Elemente unseres Lebens zu begrenzen, stellen Resilienzprogramme darauf ab, beständig die Belastbarkeit der Individuen zu erhöhen (S. 122). Dieses Belastbarkeitstraining ist nicht mit der üblichen Stärkung von Fähigkeiten wie beispielsweise im Sport vergleichbar, sondern setzt durch Schockinszenierungen traumatisierte Individuen voraus. Wenn die Gegenwartsgesellschaft eine durch Schockinduktionen traumatisierte Gesellschaft ist, dann muss das präventive Resilienz-Training posttraumatische Erfahrungen antizipierend bewältigen lernen (S. 124). Die Pädagogik solcher Trainings bezieht sich auf die „Ausweitung der Toleranzen gegenüber Instabilitäten“ (S. 128). Sie ist von der paradoxen Sorge geleitet, dass die beste Absicherung gegen Gefahren gerade dazu führt, gegenüber neuen Gefahren blind zu werden (S. 131). Statt Risiken auszuschalten bzw. gegen Gefahren zu immunisieren, ist das Ziel eine permanente Steigerung der Lernfähigkeit gegenüber kontinuierlich hervorgebrachten neuen Risiken und Gefahren, was dazu führen soll, das gesellschaftliche Leben nicht in einem Modus des Widerstands zu verbringen, sondern sich selbst als Überlebenskünstlerin und -künstler zu betrachten.
Mediation
In einer nächsten empirischen Durchführung widmet sich Bröckling dem „Mediator“ als einer weiteren Figur des Hirten. Der Mediator ist nicht der unparteiische Richter, der von allen Beteiligten möglichst sachliche und unpersönliche Darstellungen verlangt, sondern der väterliche Hirte, der sich in alle Positionen hineinversetzt, alle Sorgen, Wünsche und Ängste ernst nimmt. Dieser „therapeutische[…] Konfliktbearbeiter“ sorgt sich um das Wohlergehen aller: Er ist der gute Hirte par excellence (S. 159). Im Prinzip der Mediation ist ein humanisierender Anspruch formuliert, der die Beziehungen zwischen den Menschen von Konflikten weitestgehend befreien und auf wechselseitige Anerkennung umstellen soll (S. 167). Zudem wird damit ein pädagogischer Ansatz zum Ausdruck gebracht. Der Mediator ist ein temporärer Hirte und die Herdentiere sollen lernen, in der Zukunft die Hirtenfunktion für sich selbst zu übernehmen: Sie sollen Mediatoren ihres Selbst werden. Das „selbstverantwortliche, empathische und sozialkompetente Subjekt“ wird damit zur „Schlüsselqualifikation“ unserer Zeit (S. 168). Auch hier geht es nicht so sehr um die Bewältigung einer konkreten Krise, sondern um das Erlernen der Bewältigung heute noch unvorhersehbarer Konflikte durch das Individuum selbst.
Jedoch führt der beständige Wille zur Krisenprävention auch zur Ausschaltung von Kritik und Widerständigkeit. Der Einsatz von Mediationstechniken sowie deren Anspruch der Konfliktresolution schafft Konsens und Harmonie gerade dort, wo normalerweise „purer Hass“, „massives Leid und tiefe Kränkungen“, „Rache- und Bestrafungsimpulse“ herrschen (S. 165). So ist Mediation eine genuin „politische Technologie der Entpolitisierung“, die darauf abzielt, Aufbegehren und Widerstand mittels Verfahren gezielt verschwinden zu lassen (S. 174). Das trifft insbesondere auf Kritik und Widerstand zu, die möglicherweise in der Zukunft auftreten werden.
Nudging
Die populärste von Bröckling untersuchte Form gesellschaftspolitischer Lenkung ist in den letzten Jahren unter dem Begriff des Nudging oder auch des libertären Paternalismus bekannt geworden. Dabei handelt es sich um eine Strategie, die mit dem Anspruch antritt, individuelle Freiheit zu sichern, die Individuen zugleich aber vor ihren eigenen, später vielleicht zu bereuenden Entscheidungen (beziehungsweise Nicht-Entscheidungen) zu schützen. Platziert man ungesunde Speisen in der hintersten Ecke der Kantine und die gesunden gleich am Eingang, tendieren Menschen überwiegend dazu, sich – ganz automatisch und aus reiner Bequemlichkeit – gesünder zu ernähren, und das ganz ohne Zwang. Hier verweist Bröckling auf die strategische Spaltung des Subjekts in ein aktuelles und ein zukünftiges Ich: Die paternalistische Bevormundung der Individuen wird im Auftrag und Namen des zukünftigen Ichs ausgeführt (S. 187). Die Anthropologie des Nudging besteht nach Bröckling im homo myopicus, dem kurzsichtigen Menschen (S. 188). Da unser aktuelles Ich die Konsequenzen des eigenen Handelns nicht überblicken kann, müssen ihm die rationalen Entscheidungen im Namen des zukünftigen Ichs nahegelegt oder sogar ganz abgenommen werden. Auch mit dieser Art von Politik, die heute vor allem Gesundheitsfür- und Altersvorsorge betrifft, ist eine Entpolitisierung verbunden. Schließlich ist die ‚richtige‘ Entscheidung nicht mehr das Ergebnis deliberativer Aushandlungen innerhalb gesellschaftlicher Diskurse und der Überzeugung durch das bessere Argument, sondern das Ergebnis eines „verallgemeinerten Behaviorismus“ und individueller „Verhaltensmodifikation“ (S. 190). Hier scheint die Metapher des Hirten am eindrücklichsten, weil der libertäre Paternalist Menschen weder zwingt noch überzeugt. Vielmehr werden sie wie eine Schafsherde sanft in die richtigen Bahnen gelenkt, wobei die Bahnen den statistisch ermittelten Normalitätsvorstellungen vom Durchschnittsmenschen entnommen werden. Das impliziert, dass das aktuelle Ich diese Bevormundung als eigene Entscheidung (des zukünftigen Ichs) zu verstehen und zu akzeptieren lernt. Natürlich kann es die paternalistischen Vorschläge ablehnen „aber es könnte sein, dass ich nicht mehr mitreden kann, wenn ich darauf verzichte“ (S. 192).
Feedback
Zu ähnlichen paternalistischen Zugriffen auf das Subjekt zählt Bröckling auch die Verhaltenskontrolle mithilfe sogenannter Feedback-Strategien. Hierunter fallen Gruppentherapien, Selbsterfahrungsworkshops und Familienkonferenzen genauso wie flache Entscheidungshierarchien und Verfahren von Evaluation und Selbstevaluation in Unternehmen. Dabei handelt es sich zum einen um Versuche zur Herstellung absoluter Transparenz (S. 220). Es geht um die Errichtung eines demokratisierten Panoptismus (S. 218), in dem jeder der Beobachter aller anderen ist, von allen anderen beobachtet wird und zudem ein beständiger Beobachter seiner selbst (ebd.) bleibt. Es ist das Programm einer permanenten diskursethischen Verständigung, eines zwanglosen Zwangs (S. 235), das an alle Kommunikationsverweigerer die Forderung nach „uneingeschränkter Gesprächsbereitschaft“ (S. 241) stellt. Diese dabei erzwungene Form der Kommunikation ist, mit Gilles Deleuze gesprochen, der „Ursprung eines grotesken Bilds der Kultur, das man ebenso in den Tests, in den Aufrufen der Regierung, in den Preisausschreiben der Zeitungen findet (wo man jedermann dazu auffordert, nach seinem Geschmack zu urteilen, vorausgesetzt dieser Geschmack stimmt mit dem aller überein). Seien Sie Sie selbst, und zwar so verstanden, daß dieses Ich das der anderen sein soll“.[2] Neben der erzwungenen Kommunikation, die formalisierten Standarterwartungen folgt, geht es aber auch bei den Feedback-Strategien schlussendlich um die Vorbereitung auf unvorhersehbare Ereignisse. Statt auf die Bewältigung aktueller Konflikte zielen diese Strategien auf das Trainieren der Bereitschaft, zukünftige Krisen selbst bewältigen zu lernen.
Kritik
Im letzten Teil präsentiert der Band einen neuen Versuch zu einer „(Selbst-)Kritik der Soziologie“ (S. 365). Hier formuliert Bröckling zugleich eine gewisse Unzufriedenheit mit dem eigenen Theorieprogramm. Die Selbstkritik des eigenen Ansatzes bezieht sich auf die Sorge der Entschärfung kritischer Potentiale, die mit dem Hinweis einhergehe, dass jede Form der Kritik immer bereits in die Abgründe der Marktförmigkeit unterwegs sei. Hier sieht Bröckling eine Wahlverwandtschaft zur Kritik von Boltanski und Chiapello in ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus. Deren zentrale These bestand nun darin, dass die neoliberale Logik die Forderung nach der Autonomie und Kreativität des Künstlerindividuums absorbiert habe: „Kritik mutiert zur Feedbackschleife, die dafür sorgt, dass alles laufend verbessert wird, sich aber nichts wirklich ändert.“ (S. 379)
Jedoch scheint diese Selbstkritik die Differenziertheit des eigenen Theorieprogramms zu unterschätzen. Denn die Kritik bei Bröckling ist in der Regel so formuliert, dass sie gerade nicht marktförmig verwertbar ist. Er schreibt: „Es gibt eine theoriegeleitete und empirisch abgesicherte Wissenschaft des Regierens, aber keine des Nicht-regiert-werden-Wollens.“ (S 395 f.) Und das sei ein „Glück. Denn ließe sich exakt bestimmen, wo und warum die Regierbarmachung der Menschen nicht funktionierte, so würde dieses Wissen längst jene Regierungstechniken verfeinern helfen, deren Grenzen es eben aufzeigt“ (S. 396).
Das lässt sich gut anhand aktueller Studien zum quantifizierten Selbst belegen. Dort zeigen sich zwei Tendenzen: Zum einen kann man beobachten, dass gerade diskursanalytische Studien (angerufenes) Sollen und (empirisches) Sein kurzschließen. In diesen vulgären Gouvernementalitätsstudien werden dann beispielsweise Selbstaussagen und Marketingbroschüren von den Anbietern solcher Technologien studiert und daraus umstandslos gesellschaftliche Befunde und Konsequenzen abgeleitet. Auf der anderen Seite geraten unkritische empirische Studien oft selbst ins Fahrwasser der Optimierungstechnologien, die sie lediglich zu beschreiben beanspruchen. So haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass die Strategien des quantifizierten Selbst in der Tat oft nichts weiter als ‚Anrufungen‘ sind, dass sich die Individuen keineswegs so anrufen lassen, wie die Anrufer es gehofft hatten.[3] Sein und Sollen sind eben selten identisch. Belassen sie es jedoch bei diesem Befund, werden diese empirischen Klärungen selbst zum Teil des Optimierungsprogramms: Die Schwächen marktförmiger Anreiztechnologien offenzulegen, bedeutet zugleich, an deren Verbesserung mitzuarbeiten. Damit wird, wie Bröckling richtig zeigt, jedes kritische Potential vereinnahmt.
Bröcklings diskursanalytische Forschung verfährt aber anders. Aus einer kritischen Perspektive erweist es sich für sie als ganz klug, nicht die fehlende Wirksamkeit der Optimierungsstrategien herauszustellen, sondern umgekehrt die von den Produzenten und Proponenten diskursiv versprochene Effizienz und Produktivität strategisch beim Wort zu nehmen, von der vollen Effizienz der Anrufungen auszugehen: Es gibt nichts mehr zu verbessern, wenn alles funktioniert. Es handelt sich hier um keine unreflektierte und naive Gleichsetzung von Sein und Sollen, sondern um eine strategische und sehr wohl kritische. Wenn manche Leser die fehlende empirische Sättigung der Gouvernementalitätsstudien kritisiert haben,[4] übersehen sie, dass genau hier der kritische Kern dieser Methode zu finden ist: Gerade weil sie die Ansprüche und Behauptungen der Produzenten und Proponenten von Optimierungstechnologien ernst nimmt und Sollen (die Anreize und Anrufungen) mit dem Sein (empirische Praxis) strategisch (nicht naiv) gleichsetzt, ist die Soziologie der Menschenregierungskünste kritisch: „Der Kritiker porträtiert nicht, er karikiert“ (S. 384). Indem die kritische Karikatur zeigt, wie die empirische Vollumsetzung aussähe, wenn Sein und Sollen identisch wären, mobilisiert sie beim lesenden Publikum kritische Gegenaffekte: „So möchte man lieber doch nicht regiert werden.“ (S. 196) Hier wird also eine Kritik formuliert, ohne den Optimierungstechnologien zugleich weitere Möglichkeiten zur eigenen Optimierung aufzuzeigen. Man sollte also in der fehlenden Überprüfung der Passung von diskursiver Anrufung mit dem „was da ‚Draußen‘ wirklich geschieht“ kein methodisches Problem sehen, wie Hellmann es vorschlägt,[5] sondern muss darin gerade eine methodologisch raffinierte, kritische Strategie erkennen.
Das Buch endet auf experimentelle Art und Weise: Im Kapitel zur Kritik überwindet sie sich gleichsam selbst. Aus der Unzufriedenheit mit der eigenen Methode folgt die Formulierung eines kritischen Programms als Dissidenz. Diese dissidente Methode wird auch gleich anschließend performativ umgesetzt, denn der (Selbst)Kritik folgen noch dreizehn „Thesen zur Kritik“. Diese formulieren am Ende eine kritische Theorie der Ambivalenz. Es handelt sich um ein unbestimmtes Ende des Bandes, das Kritiklosigkeit genauso verabscheut wie konkrete Anleitungen zum Widerstand; es setzt vielmehr auf „Uneindeutigkeit“ (S. 408).
Die Uneindeutigkeit scheint in dieser kritischen Theorie im Übrigen auch die Figur des Kritikers selbst zu betreffen. So findet sich in der dritten These zur Situation des Kritikers unter anderem folgende Beobachtung: „Vom Kaiser weiß er nur, dass er nackt ist, […]“ (S. 384). Hier zeigt sich (vielleicht auch nur implizit) die ambivalente Position des Kritikers, bleibt doch gänzlich unklar, wer von beiden hier eigentlich ohne Kleider ist.
Schluss
Bei aller Redlichkeit, mit der sich der Autor Foucaults Gouvernementalitätstheorie verpflichtet (und dabei die weitverbreitete Tendenz zu konzeptionellen Unterschlagungen, diffusen Theorienvereinnahmungen und aus theoriehistorisch gepflegter Ignoranz entwickelten Neuigkeits-Turns vorsorglich vermeidet), scheint bei den von Bröckling beschriebenen Phänomenen jedoch einiges dafür zu sprechen, nicht mehr von einem pastoralen, sondern von einem post-pastoralen Zeitalter zu sprechen. Das liegt in der Tatsache begründet, dass das Herdentier eben nicht nur von anderen gelenkt wird, sondern immer auch Hirte seiner Selbst ist. Im post-pastoralen Zeitalter, dem Zeitalter der „Führung ohne Führer“ (S. 18), führt der Hirte nicht nur ‚sanft‘ die Herde, vielmehr muss auch jedes einzelne Herdentier selbst Hirte sein.
Darin besteht nun eine zentrale These des Buches: dass die Sorge um die Herde so funktioniert, dass die Führung von jedem selbst übernommen wird. In der Anreizgesellschaft ist die post-pastorale Macht nicht mehr so sehr auf die rationale Planung des eigenen Lebens gerichtet, wie Bröckling es noch in seiner Studie Das unternehmerische Selbst nachgezeichnet hatte. Das unternehmerische Selbst soll lernen, die eigene Lebensführung an der marktförmigen Rationalität zu orientieren: Es soll als eine Subjektform aktiviert werden, die sich wiederum selbstständig und allumfassend als homo oeconomicus aktiviert. Das post-pastorale Selbst dagegen soll Handlungsprogramme für Momente des Selbstverlustes entwickeln: Momente, die auf nicht-rational orientiertes Handeln genauso abzielen wie auf Handlungen in nichtvorhersehbarer Zukunft.
So dreht sich der von Bröckling eingangs zitierte Satz Nietzsches „Kein Hirt und Eine Herde!“ (S. 15) geradezu um, weil das Herdentier damit zum Hirten seiner Selbst wird: Eine Herde voller Hirten!
Fußnoten
- Im Folgenden bezieht sich die Verwendung geschlechtsspezifischer Formulierungen immer auch auf alle anderen denkbaren geschlechtlichen Sprachformen.
- Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 204.
- Siehe hierzu beispielsweise John M. Jakicic / Kelliann K. Davis / Rennee J. Rogers / Wendy C. King / Marsha D. Marcus / Diane Helsel / Amy D. Rickman / Abdus S. Wahed / Steven H. Belle, „Effect of Wearable Technology Combined With a Lifestyle Intervention on Long-term Weight Loss“, in: The IDEA Randomized Clinical Trial, JAMA316 (2016), 11, S. 1161–1171.
- Siehe hierzu beispielsweise Kai-Uwe Hellmann, „Rezension: Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007“, in: Soziologische Revue 32 (2009), 1, S. 80–82.
- Ebd.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Gesellschaft Macht Lebensformen
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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