Eckart Conze | Rezension |

Das Sicherheitsversprechen

Rezension zu „Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne“ von Thomas Mergel

Thomas Mergel:
Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne
Deutschland
Stuttgart 2022: UTB
271 S., 25 EUR
ISBN 978-3-8252-5829-0

„Staat und Souveränität“: Diesem Begriffspaar ist einer der längsten Artikel der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ gewidmet. In den 1980er-Jahren verfasst, beschlich Reinhart Koselleck, den letzten damals noch lebenden Herausgeber des monumentalen Lexikons und Ko-Autor des Beitrags, am Ende eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Zukunft des Staates. Es regten sich „neue Gewalten, die ehedem niedergeworfen und domestiziert zu haben die spezifische Leistung der Staatsbildung gewesen war“. Man nähere sich damit „Zuständen, die mit vorstaatlichen Zeiten vergleichbar werden“.[1] Das blieb vage und raunend, verwies aber nicht nur in begriffsgeschichtlicher Perspektive auf die Geschichtlichkeit von Staat und Staatsbegriff und hatte als Argument zwei Dimensionen: dass nämlich zum einen der Staat und insbesondere der Staat der europäisch-westlichen Moderne seine historische Zeit habe, dass er als historisches Phänomen nicht nur einen Anfang, sondern vermutlich irgendwann auch ein Ende haben werde; und dass sich zum anderen Staat und Staatlichkeit in der Epoche ihrer historischen Existenz permanent veränderten, immer wieder neu ausformten, auch wenn die Bemühungen nicht endeten, eine gleichsam überzeitliche ahistorische Staatsidee zu postulieren, die man dann auch in der Antike oder im europäischen Mittelalter entdecken konnte.

Knapp vier Jahrzehnte später markiert auch für den Berliner Neuzeithistoriker Thomas Mergel die Historizität des Staates den Ausgangspunkt seiner kompakten Darstellung von Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Sie ist weniger eine Auf- und Abstiegsgeschichte – dafür erzählt sie auch zu wenig – als eine Transformationsgeschichte. Sie ist nicht primär ideengeschichtlich angelegt, auch nicht verfassungshistorisch, sondern sie analysiert die Dynamik von Staatsbildung und Staatsentwicklung in politikgeschichtlicher Perspektive: der Staat als im 16./17. Jahrhundert entstehendes Modell politischer Herrschaft, das sich alsbald institutionalisierte und im weiteren Verlauf, bis ins 20. Jahrhundert, über die Welt verbreitete. Eine Voraussetzung dieser Globalisierung war die Gewalt, die der europäische Staat zu bündeln und dann wieder freizusetzen in der Lage war. Die Geschichte von Staatlichkeit ist, wie es nicht zuletzt die Studien von Wolfgang Reinhardt zeigen, die Geschichte von Staatsgewalt, der Fähigkeit nach innen ebenso wie nach außen wirksamer Machtentfaltung. Daran schließt Mergel an, aber er unterlegt der Entwicklung des modernen Staates zusätzlich eine Dynamik zunehmender Inklusion und Partizipation, die er normativ als Demokratisierung fasst und mit einem ebenso normativ aufgeladenen Modernisierungsbegriff verbindet. Dem „alten Leviathan“ von Thomas Hobbes stellt er den seit dem 19. Jahrhundert aufgestiegenen Staat der liberalen Demokratie gegenüber: weniger autoritär, partizipativer, pluralistischer.

Das fordert, nicht zuletzt im Lichte gegenwärtiger Entwicklungen, zu Widerspruch heraus. Dieser betrifft nicht nur den Modernisierungsbegriff, sondern auch die Vorstellung, dass es sich bei Entwicklungen von autoritärer und illiberaler Staatlichkeit um eine Art historischen Rückfall handele. Die Staatsphilosophie der Frühen Neuzeit, allen voran Thomas Hobbes mit seinem 1651 erschienenen „Leviathan“, wird nicht mehr als theoretische Begründung des modernen Staates schlechthin verstanden, sondern als Entwurf eines Staates in einer sehr spezifischen historischen Situation, als Reaktion auf eine sich in Kriegen und Bürgerkriegen manifestierende und vor allem religiös beziehungsweise konfessionell begründete fundamentale Bellizität. Vernaturrechtlicht war das bei Hobbes der „Krieg aller gegen alle“. Es ist sicher nicht verkehrt, Thomas Hobbes, aber vor ihm auch schon Jean Bodin mit seiner Lehre von der Souveränität (1576) oder nach ihm John Locke mit seinen „Two Treatises of Government“ (1689) historisch zu kontextualisieren. Dabei kann man sich, auch Mergel tut es, auf Quentin Skinner, John Pocock und die „Cambridge School“ der Ideengeschichte berufen.

Aber hinter der Historizität von Bodin, Hobbes oder Locke und der nicht ernsthaft zu bestreitenden Zeitgebundenheit ihrer Werke stehen doch auch Gedanken, die über ihre Zeit hinausweisen und die sie gerade in ihrer Allgemeinheit zu bis in die Gegenwart wirksamen Referenzen der Staatstheorie haben werden lassen. So ist es richtig, dass Locke in seiner staatsbegründenden und herrschaftslegitimierenden Vertragslehre stärker die Freiheitsmomente betont. Doch Hobbes und Locke trafen sich darin, dass sie dem Staat – in einer Zeit extremer Unsicherheit – Sicherheits- und Schutzfunktionen zuwiesen und die Akzeptanz politischer Herrschaft und insbesondere eines staatlichen Gewaltmonopols an dieses staatliche Sicherheits- und Schutzversprechen banden. Dahinter stand eine gemeineuropäische Zeiterfahrung, und es ist daher weder überraschend noch ein Zufall, dass zur gleichen Zeit auch auf dem europäischen Kontinent und speziell im vom Dreißigjährigen Krieg gebeutelten Deutschland beispielsweise Leibniz oder Pufendorf Staatskonzepte entwickelten, die in der Sicherheit nach innen wie nach außen die primäre Staatsaufgabe sahen und die wichtigste Rechtfertigung staatlicher Gewalt.

In diesem Sicherheitsversprechen liegen die lange Wirkung und die Aktualität der frühneuzeitlichen Staatskonzepte begründet. Auf dieser Basis konnten sich im historischen Verlauf unterschiedliche Ausformungen von Staatlichkeit entwickeln, deren Rechtfertigung viel stärker über ihr Sicherheitsversprechen und die Fähigkeit, es zu halten, erfolgt als über das Freiheitsversprechen. Es ist vor diesem Hintergrund gewissermaßen das historische Spezifikum des liberal-demokratischen Staates, dass er für sich den Anspruch erhebt, Sicherheits- und Freiheitsversprechen zu verbinden. Konstitutiv für moderne Staatlichkeit ist das jedoch nicht. Das zeigt ein Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts ebenso wie ein Blick auf die Staatenwelt der Gegenwart. Und wenn in der Gegenwart etwas zur Stabilisierung oder Restabilisierung, zur Konsolidierung oder Rekonsolidierung von Staatlichkeit beiträgt, dann ist es die Sicherheitsfunktion des Staates.

Das Paradoxon liegt natürlich darin, dass der Staat gerade in seiner spezifischen, seiner konzentrierten Gewaltförmigkeit nicht nur die Quelle von Sicherheit sein kann, sondern mindestens ebenso sehr die Quelle extremer Unsicherheit. Nicht zuletzt darin liegt die Bedeutung der freiheitlich-demokratischen Hegung des Staates, die auch aus dem Bemühen entstanden und zu erklären ist, das Gewaltpotential des Staates (nach innen wie nach außen) zu begrenzen, die Anwendung von Gewalt bestimmten Regeln und politischer Kontrolle zu unterwerfen. Die Entwicklung moderner Staatlichkeit lässt sich vor diesem Hintergrund auch verstehen und schreiben als die Geschichte eines permanenten Ringens um die Grenzen staatlicher Gewalt. Jenseits einer generellen, ideenhistorischen Perspektive liegen hier die Ansatzpunkte und Gegenstandsbereiche genuin historischer Analyse, auf die das Buch immer wieder hinweist.

Der moderne Staat entstand als Territorialstaat; politische Herrschaft bezog sich auf ein klar definiertes, im Wortsinne: abgegrenztes Gebiet. Das war zunächst nicht mehr als ein Anspruch, der nach außen wie nach innen durchgesetzt werden musste. Gewalt und Krieg spielten auch hier eine zentrale Rolle. Staatsbildungskriege durchzogen die Frühe Neuzeit, in denen entstehende Staaten um ihre territoriale Gestalt kämpften, um territorial bestimmte Macht. Zugleich beförderte das Kriegführen die innere Staatsbildung. Kriege mussten finanziert, Soldaten rekrutiert, Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen zentralisiert werden, um effizient Krieg führen zu können. „War made the state, and the state made war“, so hat der amerikanische Historiker Charles Tilly diesen Zusammenhang schon vor Jahrzehnten auf den Punkt gebracht und damit zum einen die Friedlosigkeit Europas in dieser Epoche erklärt, zum anderen die gleichzeitige Verdichtung von Staatlichkeit. Diese Verdichtung intensivierte sich nochmals im 19. Jahrhundert, als aus Territorialstaaten Nationalstaaten wurden. Die Vorstellung der Nation, nationaler Gemeinschaft und nationaler Zugehörigkeit verstärkte zusammen mit den nun verfügbaren technischen und vor allem kommunikativen Mitteln die Entwicklung von Staatlichkeit, vor allem das Ausgreifen des Staates in die Fläche. Staatlichkeit wurde Nationalstaatlichkeit und trug zur Integration nationaler beziehungsweise national gedachter Gesellschaften bei. Und wieder spielten Kriege dabei eine wichtige Rolle. Nationen waren und wurden zu Kriegsgemeinschaften, auch in ihren nationalen Geschichtskonstruktionen und ganz gleich, ob sie sich politisch, kulturell oder ethnisch definierten.

Während in Europa die Idee der Nation und die Vorstellung des Nationalstaats die Existenz multinationaler Imperien herausforderte, was Mergel vor allem am Beispiel des Habsburgerreichs beschreibt, breitete sich zur gleichen Zeit der europäische Kolonialismus weltweit aus. So sehr man auch schon die Entstehung der europäischen Kolonialreiche seit dem 16. Jahrhundert mit dem Aufstieg moderner Staatlichkeit in Verbindung bringen kann, so sehr intensivierte sich nun koloniale Herrschaft in Prozessen der Durchstaatlichung. Es entstanden unterschiedliche Formen kolonialer Staatlichkeit, Strukturen direkter oder indirekter Herrschaft, verbunden jedoch durch die legitimatorische Idee der Zivilisierungsmission und – auch hier – durch Gewalt. Immer stärker freilich richtete sich im 20. Jahrhundert die europäische Idee nationaler Staatlichkeit gegen die koloniale europäische Herrschaft. Auch deshalb führte die schon nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende, sich aber nach dem Zweiten Weltkrieg dynamisierende Dekolonialisierung zur globalen Verbreitung des Modells europäischer (National-)Staatlichkeit. Was freilich zunächst noch als Fortschritt und Modernisierung gelesen wurde und als Erfolg der europäischen Zivilisierungsmission, stellt sich mittlerweile anders dar, nicht zuletzt, weil das Bewusstsein dafür gewachsen ist, wie sehr die Gewalthaftigkeit kolonialer Herrschaft die Idee zivilisatorischen Fortschritts von Anfang an kompromittiert und diskreditiert hat.

Übernationale, globale, menschheitliche Herausforderungen, damit schließt die Darstellung, setzen den Staat und die Staatenwelt zunehmend unter Druck. Die Spannung zwischen der Vorstellung einzelstaatlicher Handlungsautonomie und überstaatlichen Handlungsnotwendigkeiten wächst. Daraus erwachsen auch neue Legitimationsprobleme politischer Herrschaft. So ist Demokratie noch immer in starkem Maße auf den nationalen Staat bezogen. Demokratische Herrschaft mag zwar theoretisch auch jenseits des Nationalstaats denkbar sein, bleibt aber doch derzeit als Ergebnis einer historischen Entwicklung an den nationalen Staat gebunden. Dieser gewinnt überdies neue Legitimität durch seine Schutz- und Sicherheitsfunktion, gerade in Zeiten tatsächlich oder vermeintlich wachsender Unsicherheit. Das ist während der Corona-Pandemie überdeutlich geworden, selbst innerhalb der Europäischen Union.

Als Bild wie als Denkfigur hat Thomas Hobbes’ Leviathan also an Bedeutung nicht verloren. Die ihm zugeschriebene Fähigkeit zur Organisation politischer Herrschaft und zur Steuerung eines Gemeinwesens geben dem Staat beziehungsweise der Idee des Staates eine prinzipielle Daseinsberechtigung. Das macht den Staat der europäischen Moderne jedoch nicht zur ahistorischen Größe und den modernen Nationalstaat nicht zum Ziel der Geschichte. Der Staat ist als Idee und als Realität historischem Wandel unterworfen. Staatlichkeit bleibt umstritten. Das gilt nicht zuletzt für den freiheitlich-demokratischen Staat. Für diesen gibt es keine Existenzgarantie, vielmehr ist er herausgefordert und bedroht wie schon lange nicht mehr. Thomas Mergels Buch zeigt vor diesem Hintergrund, wie der Leviathan freiheitlich, demokratisch und pluralistisch gedacht werden konnte, doch ebenso demonstriert es sein autoritäres, illiberales, undemokratisches Potential. Eine Fortschrittsgeschichte erzählt es nicht. Da hatte Koselleck recht.

  1. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 6, Stuttgart 1990, S. 4.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Demokratie Europa Geschichte Globalisierung / Weltgesellschaft Kolonialismus / Postkolonialismus Moderne / Postmoderne Politische Theorie und Ideengeschichte Sicherheit

Eckart Conze

Eckart Conze ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg mit Arbeitsgebieten in der deutschen und internationalen Geschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Sein besonderes Interesse gilt der Historischen Sicherheitsforschung.

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